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  • EINE DUSCHE FÜR DIE POLITISCHE LINKE – NEUE ZÜRCHER ZEITUNG

……….. „Die alte Linke ist tot, aber der Kryptostalinismus hat es fertiggebracht, inkognito, auf der Ebene des Habitus, zu überleben.»

Unter welchen mentalen Bedingungen ist es überhaupt möglich, dass der Syllogismus konservativ gleich rechtsradikal gilt?

Nun ja, er gilt nicht, er wird nur von manchen Leuten gern benutzt – ich sage Leute, nicht Dummköpfe. In historischer Sicht geht das verworrene Denkmuster auf die dreissiger Jahre des 20. Jahrhunderts zurück, als die Moskauer Zentrale die Devise ausgegeben hat, die westliche Sozialdemokratie sei ein «Sozialfaschismus». Damit war der Bürgerkrieg der Begriffe eröffnet. Seine Spuren sind noch heute in den Köpfen präsent, die nicht wissen, von woher das kommt, was sie sagen. Die alte Linke ist tot, aber der Kryptostalinismus hat es fertiggebracht, inkognito, auf der Ebene des Habitus, zu überleben. Man muss sich klarmachen, was aus einer Sprachregelung folgt, der zufolge eine Partei der linken Mitte wie die SPD faschistisch heissen sollte. Das Ergebnis war, dass die meisten linken Intellektuellen in Europa für Abstufungen auf dem nichtlinksradikalen Flügel praktisch blind blieben. Die deutschen 68er waren mehrheitlich solche Blinden, und ihr Defekt wirkt bis heute nach. Stellen Sie sich das einfach einmal vor: dass Liberale per se schon Rechte sein sollen und durch Rechts-Ausdehnung Rechtsextreme. Aber so viel Vorstellungskraft kann ein Schweizer Demokrat im Leben nicht aufbringen.

Ich bemühe mich, auch wenn der Widersinn auf der Hand liegt.

Also, die Denkaufgabe heisst: Wenn deutsche Sozialdemokraten in der Sicht von links aussen soziale Faschisten sind, was sind dann Liberale in Deutschland und anderswo? Was sind erst die Konservativen im älteren Sinn des Worts? Aus dem frustrierten Kryptostalinismus entstand der Syllogismus, der heute noch immer durch die diffus progressive Presse spukt: Sozialdemokratisch ist konservativ, konservativ ist rechts, rechts ist rechtsradikal, rechtsradikal ist faschistisch. Im Übrigen ist der abgesunkene kryptostalinistische Habitus bei uns vor allem das Produkt einer diffusen Furcht: nicht auf der richtigen Seite zu stehen. Da produziert man sich schon einmal vor der linksliberalen Galerie. Genosse Stalin wirft einen langen Schatten. Er hat die Politik der Furcht definiert, und sie wirkt unbemerkt nach. Die Agenten der diffusen Furcht handeln heute wie damals: besser schnell bei Anklagen mitmachen als riskieren, selber ins Visier zu geraten.“

Volltext  https://www.nzz.ch/feuilleton/wir-erleben-ein-grosses-gleiten-ld.1370201