MESOP : ZUR PSYCHPATHOLOGIE „DES POLITISCHEN TROTTELS!“ / RUDOLF BRANDNER – ANALYTIK DES GUTMENSCHEN
Man beklagt, kritisiert und verurteilt, dass helfende, tolerante und weltoffene Menschen als »Gutmenschen« diffamiert werden. Aber stimmt dies — und Wenn ja, warum? Als neuere Beleidigungskategorie hat das »Gutmenschentum« zusehends Eingang in den politischen Diskurs gefunden — was aber meint »Gutmensch«? Nietzsche notiert in Jenseits von Gut und Böse, er sei »gutmüthig, leicht zu betrügen, ein bischen dumm vielleicht, un bon-homme«; und so zeige »die Sprache eine Neigung, die Worte >gut< und >dumm< einander anzunähern« (Friedrich Nietzsche, KSA, Bd. 5, S. 212).
Zuerst steht nur ein bestimmtes Naturell im Blick — eine gefühlsmäßige Disposition, die eine gewisse gemüthafte Benommenheit (Blödigkeit) sachlicher Urteilskraft auszeichnet, die alles so schlicht und einfach nimmt, wie es ihr das Gefühl eingibt. Man sprach dann von »Blödmann« oder nannte es »dämlich«. Ein schlichtes, einfältiges Gemüt, das an allem Realen nur das Gute sehen will, steht auch der Negativität menschlicher Verhältnisse eher wehrlos gegenüber und weiß nicht mit ihr umzugehen.
Es ist diese gutmütige und mental etwas einfältige Verfassung, die man auch dem Gutmenschen als seelische Prädisposition unterstellt, aber erst dort als »Gutmenschentum« diffamiert, wo sie ethisch-politische Ansprüche stellt und als maßgebliches Subjekt gesellschaftspolitischer Diskurse auftritt. Eben deshalb fühlt sich einer auch beleidigt: Seine gesellschaftspolitische Meinung wird nicht ernst genommen und für eine naive Kinderei gehalten. Im Begriff »Gutmensch« liegt der Vorwurf; subjektive Befindlichkeiten als moralische Ansprüche zu artikulieren und zum Maß politischer Vernunft zu erheben: Der »Gutmensch« ist mehr im Idealischen und Seinsollenden zentriert als im Realen und Faktischen, ein tendenzieller Jasager, der sich gern vor aller Anstrengung sachlichen Unterscheidens, Verneinens] und Entgegensetzens bewahrt. Zwar hat er gegenüber seinem Gegensatz, den wir nun den »Bösmenschen« nennen, einen signifikanten Moralitätsvorteil, insofern das Gutmütige ja den Anschein des allen gemeinschaftlichen Guten hat; der »Bösmensch« aber hat ihm gegenüber einen entscheidend Rationalitätsvorteil, indem er den negationslogisch differenzierenden Umgang mit der Negativität des Realen pflegt und sich weniger um seine gemüthafte Ausgeglichenheit kollektiver Gleichbefindlichkeit sorgt.
Als neue Beleidigungskategorie bezeichnet »Gutmensch« also eigentlich den »politischen Trottel«, der aus idealischem Gefühl heraus nicht nein sagen, unterscheid, und Gegensätze austragen kann und mangels dies differenzierenden Negationsmacht ein habituell gewordenes Unvermögen repräsentiert, mit der realen Negativität menschlicher Verhältnisse umzugehen. Das Wegdeuten, Verdrängen, Ableugnen und Schönreden realer Negativität und damit die konstitutive Störung sachlich differenzierender Realitätswahrnehmung wäre also ein Grundzug des »Gutmenschen«: Er findet alles gut, lässt alles zu und hat an dieser gegensatzlosen Offenheit seine »Liberalität« und »Toleranz.“ Seine Grundüberzeugung: »Wenn ich nicht negiere, unterscheide und entgegensetze, bin ich frei von aller Negation und in dieser Negationsfreiheit auch alles Negativen; und da ich selbst nicht mehr Gegensatz; ein Anderer, ein Negierender bin, kann auch der Andere an mir keinen Gegensatz mehr finden und sich negierend und entgegensetzend zu mir verhalten. Es neutralisiert seine Negativität, bis sie sich gänzlich auflöst — ins allseits Gute, das wir doch letztlich alle sind.«
Dieses Erlösungsmodul des Gutmenschen zur Befreiung des Menschen von aller Negativität liegt aber ganz im Gefühl, in der affektiven Befindlichkeit negationsfreier Güte, die sich nun als idealisches Postulat negationsfreien Seins an beliebigen Realitäten zu schaffen macht. Daran erfährt er aber ihre Widerwärtigkeit, sich nicht so ohne Weiteres entnegativieren zu lassen. Was ist schuld daran? Das Negationsverhalten der Menschen — und dieses gilt es in erster Linie zu tilgen. Womit und wodurch? Durch die Totalität des Gefühls, das die Idealität des Guten als Seinsollendes in sich birgt. Der Affekt gibt das Gute als Unmittelbarkeit der Befindlichkeit. Unvermittelt durch den Gegensatz bleibt es, in sich labil, die bloße Eingenommenheit durch das Gefühl eines Heilvollen, das bewusst- und reflexionslos rein suggestiv vereinnahmt. Anders als das ne-gations- und widerspruchfreudige Erkenntnisverhalten der Vernunft, das seine sachlichen Einsichten nur im Durchgang durch die Gegensätze als reale und in sich gefestigte Überzeugungen gewinnt, konstituiert sich das Gefühlsgute als labile, in sich ungefestigte Totalität, die sich zu dem entgegengesetzten Anderen deshalb nur affektiv als totalitäre Ausschließlichkeit verhalten kann.
Unvermögend, den Gegensatz zu verarbeiten, wo es ihn nicht in sich umzuzaubern vermag, fanatisiert es sich zur Verfemung alles anderen als zu vertilgenden Un- und Widermenschlichen, das der Vernichtung anheimzugeben sei. Das Negationsverhalten des allseits negationsfreien »Liberalen« und »Toleranten« kann nicht anders als »totalitär« sein: Es negiert affektiv durch ausschließende Herabsetzung, Diffamierung und Verächtlichmachung und konstituiert an diesem dialektischen Umschlag zum Vernichtungs- und Vertilgungswillen den anderen Grundzug des »Gutmenschen«: den Moralfanatismus des »politisch Korrekten«, der nun seinen eigenen negativen Affekt auf alle anderen überträgt und an ihnen nichts als menschenverachtenden Haß und Hetze — das »Böse« — sieht.
Erst beide Grundzüge zusammen machen den »Gutmenschen« aus: Keiner ohne den anderen und nur ihre unauflösliche Einheit macht den »Gutmenschen« zum Ärgernis seiner Mitwelt, das sie ihm in Spott und Hohn zurückgibt: eben als die Beleidigungskategorie »Gutmensch«. Sie bezeichnet die Arroganz des ausschließlich Guten, die affektiv alles Andersdenken als böse und verwerflich ausgrenzt. Es sind also genau genommen zuallererst die »Gutmenschen«, von denen die ethische Diffamierung aller anderen ausgeht. Erst als Reaktion auf diese Vereinnahmung des Guten entsteht die neue Beleidigungskategorie: „Gutmensch«. Es sind die »Bösmenschen«, die sich an dem Entmündigungsversuch ihrer sachlichen Urteilskraft rächen und die exklusive Affektgüte als »Gutmenschentum« bespötteln: Die beleidigte Sachlichkeit des Denkens revoltiert gegen das, was ihr durch moralische Gefühlsdogmatik zugemutet wird: die Verleugnung ihrer Realitätserfahrung durch moralistische Selbstzensur, die neue — im Namen des negationsfreien Guten verhängte Unfreiheit des Denkens. Das »politisch Korrekte«, verinnerlicht zur Selbstzensur der Realitätswahrnehmung, erzieht zu Heuchelei und Selbstverstellung. Über ihr schwebt die Angst, aus der Konsensgesellschaft ausgeschlossen und als Unmensch gebrandmarkt zu werden. Damit entfaltet sich das »Gutmenschentum« zur massenpsychologischen Befindlichkeit, die als maßgebliches Subjekt gesellschaftlicher politischer Diskurse auftritt. Als Erscheinungsform des »Zeitgeistes« bewegt es sich ganz im dialektischen Widerspiel von Liberalität und Moralfanatismus, angereichert durch eine neopuritanische Lebenshaltung ritueller Verhaltensregeln und veganer Luxusaskese, hin- und her getrieben zwischen beliebigen Entgrenzungen, Vulgarität für Freiheit haltend, und neuen Maßregelungen, mit denen sich eine hypersexualisierte Welt selbst die Moralpeitsche gibt — wie im Sexismusvorwurf.
Aber woher das alles? Welches sind die geschichtlichen Konstitutionsbedingungen kollektiver Befindlichkeit, die sich im »Gutmenschentum« verdichten? Versuchen wir eine Ableitung dieser zeitgeistigen Befindlichkeit.
- Wie sich unschwer ausmachen lässt, hat die dialektische Kontamination des »Gutmenschen« — dass er das Totalitäre und Faschistoide, wogegen er aufsteht, selbst inkarniert, ihren Grund im Affektiven einer psychischen Verfassung, deren geschichtliche Formation in Katastrophenschuld der totalitären Ideologien der Morderne wurzelt. Diese Ideologien, ob sozialistische oder faschischtische haben den neuzeitlichen Religionsverlust — den Verlust einer allgemeinverbindlichen Daseinsorientierung — überkompensiert, indem sie die freigewordenen religiösen Energien in ein neues Heilsprojekt kollektiven Menschseins bündeln. Indem sich dieses als reine Vernichtungsgewalt zu allem Anderssein verhält, führt es die menschlichen Gemeinschaften in Ost wie West in die Katastrophe. Ihre Diktaturen waren als Heilsideologien religionssubstitutiv; ihr Untergang war deshalb mit traumatischer Schuld verknüpft.
Die Katastrophenschuld konstituiert als kollektives Trauma die massenpsychologische Befindlichkeit, die nach dem Fall der Mauer und damit der ideologischen Endauflösung vormaliger Gegensätze in die durch die totalitäre Erfahrung gesteigerte Orientierungslosigkeit zurückfällt. Sie etabliert sich nun als neoliberale Befreiung von allen Grenzen und Maßen. Die Liberalität der Verhältnisse erfährt sich darin aber selbst als schuldhafte; denn das religionsgeschichtlich freigesetzte Vakuum maßgeblicher Lebensorientierung kehrt potenziert zurück und erzeugt das Schuldgefühl der eigenen Maßlosigkeit, das sich durch den Enthusiasmus der Beliebigkeiten einer technologischen Kunstwelt und ihre ökonomischen Glücksversprechen nur ablenken und betäuben, nicht aber auflösen lässt.
- Dabei verdichtet sich die unterschwellige Katastrophenschuld zum »Nazi-Komplex«: Denn obgleich sich die realgeschichtlichen Katastrophen, die von Links-und Rechtsideologie verursacht wurden, in nichts nachstehen, findet alles »Linke« nun sein Asyl im Schutzraum christlicher Mitleidskultur und Gerechtigkeitsethik, während das »Rechte« — in seiner äußersten Vernichtung gewalt repräsentiert durch den Nationalsozialismus — zum Inbegriff des Bösen wird, der alle Verwerflichkeiten in sich absorbiert. Es ist nun dieses affektive Trauma, das sich in der Befindlichkeit orientierungsloser Liberalität gelten macht und ihre Maßlosigkeit durch den Moralfanatismus politischer Korrektheit überkompensiert, also nicht nur behelfsweise einen Halt und ein festes Maß im Meer ausufernder Beliebigkeiten bietet, sondern den Ideologieverlust unter den Bedingungen eines affektiven Traumas gegenideologisiert. Daher das Fanatische, das von ganz denselben psychischen Energien ideologischer Ausschliessichkeitslogik getragen wird. Deshalb hat das sogenannt »politisch Korrekte« auch keinen anderen Inhalt als das im Nazikomplex konsakrierte Verfemte — »Rassismus«, »Antisemitismus«, »Ausländerfeindlichkeit« usf., also letztlich: affektgeladene Leerintentionen, die als indefinit variable Bedeutungsredundanzen irgendwie alle dasselbe meine; und beschwörend evozieren: das »Nazi-Gespenst«. Das Gute des »politisch Korrekten« hat keinen anderen als einen negativen Inhalt — es reicht, etwas nicht zu sein, um guzu sein. So einfach war Gutsein noch nie. So leicht war es noch nie, die politische Parallelität von Rechts und Links in ein ethisch-moralisches Wertungsgefälle aufzulösen. Wenn »Links« nicht mit GULAG, stalinistischen Schauprozessen und Exekutionskommandos, »Rechts« aber mit KZ und Judenvernichtung assoziiert wird, dann ist das eine psychologische Meisterleistung der Verschiebung, die an die Stelle ihrer Gleichgewichtigkeit ein moralisches Wertungsgefälle durchsetzt, die einen rein religionsideologischen Hintergrund hat — die christliche Sozialethik, die als sakrosankte Inkarnation des Guten ihr mildes Licht auf die »Linke« ausstrahlt.
- Hinzukommt, daß die »katholische« Allgemeinheit menschlichen Heils in den sozialistischen Begriff des »Internationalen« übergeht, der als geschichtsmetaphysisch antizipiertes Endziel der Befreiung des Menschen von allen ethnischen und kulturspezifischen Besonderheiten zum Gleichheitsideal allgemeiner »Humanität« erhoben wird. Das »Anti-Nationale« wird damit zum konstitutiven Moment des Alleinheitstraums universaler, von allem Übel erlöster Menschheit und findet im »anti-identitären« Diskurs seine postmoderne Fortsetzung, in der sich das gutmenschliche Erlösungsmodul wiederholt. Denn durch seiner Identität grenzt sich einer gegen den Anderen aus — und entfaltet daran seine Negativität. Ihre Aufhebung wird damit zum weltgeschichtlichen Imperativ, die »Ungleicheit« der Menschen im Ideal abstrakter Gleichheit zu beseitigen, wie es der sozialistischen Verinnerlichung christlicher Mitleidskultur und Gerechtigkeitsethik entspringt: um die »Gleichheit vor Gott« ins Realgeschichtliche zu überzusetzen. »Kultur«, »Interkulturalität«, überhaupt Differenzbegriffe geschichtlichen Menschseins werden damit zu negativen Begriffen, das »Nationale« zum Übel der geschichtlichen Wirklichkeit, die nach ihrer Erlösung im geschichtslosen Gleichsein aller strebt: der quasi uniformen Fabrikware »Mensch«, die sich von allen ich identitätskonstituierenden kulturgeschichtlichen Besonderheiten befreit und sie als Übel hinter sich gelassen hat. Die Aufhebung aller »Ausgrenzungen« wird damit zu Programm »totaler Inklusion« qua Unterscheidungsloskeit, dem neuen Ideal allgemeinen (aller Besonderungen entledigten) Menschseins.
- Damit findet der postromantische Gefühlspantheismus (»Seid umschlungen, Millionen!«) im Feld der politischen Linken seine eigene theoretische Artikulationsebene. Der »anti-identitäre« und »anti-nationale« Diskurs wird zum Heilsversprechen. Am Diskriminierungsverbot, der Ächtung des Unterscheidens, verschafft er sich die Basis der Ideologie »politischer Korrektheit«. Denn »Unterscheiden« wird nun rein moralistisch verstanden als »Herabsetzen« und jede »Identität« als Übel verdammt, so konstitutiv sie auch für menschliche Realitäten sein mag. Aber im Moralischen hat »Realität« kein anderes Recht, als aufgehoben zu werden – ins Seinsollende. In der Welt des Seinsollenden gibt es nur Postulate und keine Erkenntnisrealitäten. Daher der Konformitätsdruck der Gleichschaltung aller intellektuellen und politischen Diskurse, den das »politisch Korrekte« durch affektive Diffamierung allen Andersdenkens flächendeckend auszuüben sucht. Getragen von der affektiven Stimulation einer medialen Aufregungskultur, verkehrt sich die sachoffene Widerspruchskultur zum stereotypen Diffamierungskult, der als Internet SS (»Shit-Storm«: die Vulgarität des Ausdrucks ist Programm!), als »Entrüstungsgehabe« & »Empörungswelle« sein Unwesen treibt und nur von Vereinnahmung lebt, nicht aber aus kritisch reflektierender Sachlichkeit. Die Hysterie erklärt nun das »Zigeunerschnitzel«, den »swarzen Piet« oder den » Mohr Othello« für rassistisch. Aber die physische Gewalt einstiger Ideologien hat sich nun – wenn wir vom Moralfanatismus linksautonomer Gewalt einmal absehen – auf die rein symbolische Ebene des Sprachlichen verlagert und hält sich an allem unschuldig. Der »Gut-mensch« ist gewaltfrei, pazifistisch – gut. Er liquidiert nur symbolisch, indem er den Bann ausspricht und die Anders-denkenden zu »Unberührbaren« erklärt.
Die allgemeine Befindlichkeit, die sich als massenpsychologische Grundlage des »Gutmenschentums« herausbildet, synthetisiert so auf ihre Weise die geschichtlichen Erfahrungen des 20. Jahrhunderts: Das geschichtliche Trauma blüht aus in Phantasmagorien, an denen sich die panische Angst auslöst, das traumatisch verinnerlichte Böse selbst zu sein, und kehrt sich in die Zwangsneurose des Guten, die sich in der Hysterisierung öffentlichen Lebens niederschlägt, seiner Vergiftung mit Ausschließlichkeiten und Besessenheiten. Darin verinnerlicht sich die moralische Großinquisition zur Selbstzensur, die alle Realitätswahrnehmung affektiv überblendet. Der neue Irrationalismus ist die Psychopathologie des Zeitgeistes, der dem modernen Subjekt seine Selbstverstümmelung zumutet und die sachli che Urteilskraft gesellschaftlicher und politischer Vernunft auflöst, sobald ihm nur das Nazi-Gespenst vorn »hässlichen Deutschen«, vom »Dunkel-Deutschland«, gezeigt wird Man regrediert in den Fetischcharakter des Denkens und seine magischen Kausalitäten, um die mit bösem »Mang« geladenen Gegenständlichkeiten – wie das Hitler-Buch, sein Geburtshaus oder irgendwelche Villen von Nazi-Größen -einem schamanistischen Abwehrzauber zu unterwerfen, der für kollektive Aufregungen sorgt. Vielleicht geht es ja auch nur darum, eine hysterische Erregungskultur aufrecht-zuerhalten, die als Kollateralschaden den Kollaps politischer Vernunft in Kauf nimmt. Und die Beleidigungskategorie »Gutmensch« wäre nicht zuerst dies: ein Appell an und für politische Vernunft?
Wir müssen aber noch eine zweite Ableitung versuchen. Denn der Gutmensch ist hier zu eng aus spezifisch deutschen Verhältnissen gefasst. Die Herkunft der »Political Correctness« liegt aber eindeutig in den angelsächsischen Ländern. Mentalitätsgeschichtlich verweist dies auf die protestantische Reduktion von Religion auf Moral und ein abstraktes Regelbewusstsein der Verbote, das als Neopuritanismus zum gegenläufigen Kompensationsmoment der schrankenlosen (Neo-)Liberalität der Verhältnisse geworden ist. Deshalb ist das »politisch Korrekte« auch in protestantischen Ländern erheblich weiter verbreitet als in katholischen. In der individualpsychologischen Rekonstruktion mag man dies zuerst fassen als ein Phänomen der Jugendkultur – eine affektive Angst vor Bewertung, Ablehnung, Kritik, überhaupt Beurteiltwerden, d. h. als Angst vor dem Anderen, der einen infrage stellt und ein anderes Bild von einem produziert, als man es von sich selbst hat. Diese schwache Persönlichkeitsbildung mag in der Folge dann als Zärtlichkeit sich selbst gegenüber, als eine labile Verletzlichkeit, hervortreten, die überempfindlich jede noch so geringfügige kritische Bemerkung, jeden Widerspruch als Verletzung mit Therapieanspruch erfährt. Daher dann die Forderung, niemanden zu verletzen, d.h. mit Negationen zu konfrontieren. Die Allzuverletzlichen, die Mimosen des Lebens, erheben den Anspruch auf Unverletzlichkeit und bekennen daran ihre eigene Unfähigkeit, mit Negationen, überhaupt mit konträren Realitäten umzugehen. Kurz: Die Maßgabe der »Political Correctness« entspringt der eigenen hysteroiden Verletzlichkeit und verweist immer auf eine schwache Persönlichkeitsbildung. Im Grunde handelt es sich also um ein infantiles oder neurotisches Verhalten überemotionaler Menschen, die aus mangelndem Selbstvertrauen und panischer Angst vor konträren Realitäten ganz in ihrer gefühlsmäßigen Geborgenheit verharren und nicht zur Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit heranreifen.
Als massenpsychologische Phänomene der westlichen Moderne (denn in Osteuropa scheint es keine »Gutmenschen« zu geben) sind die Ursachen eher in der ökonomischen Befriedigung, dem technologischen Wunschdenken der Beseitigung allen Übels und der medialen Gefühlserziehung im imaginären Vorstellungsraum von Aufregungen zu sichten, d. h. in Faktoren, die die Ausbildung des Menschen im Umgang mit der Wirklichkeit in die Gefühlswelt des subjektiv Phantasmagorischen verlagern. Es ist die psychisch labile Verfassung einer Wohlstandsgeneration, die keine selbsteigene Erfahrung mit der geschichtlichen Negativität des Menschen gemacht hat und sie nur aus den Medien kennt, den imaginären Welten der emotionalen Aufregungskultur, in denen das zuschauende Subjekt nur sich selbst genießt, nicht aber in seinem ethischen Verhalten selbst erproben, erfahren und bilden kann. Die Psyche des modernen Menschen entwickelt sich unter diesen medialen Bedingungen rein virtueller Realitäten zur Zwangsneurose negativer Wirklichkeit, da sie den Umgang damit nicht lernt und sich deshalb als allseits Verletzliche erfährt, die im »politisch Korrekten« die allseitige Unverletzlichkeit einfordert. Sie ist es, die sich als neopuritanische Verabscheuung alles Negativen (»Schmutzigen«) niederschlägt und am »politisch Korrekten« die Reißleine des »Liberalen« zieht, um ihrer eigenen imaginären Maßlosigkeit zu entkommen. Ebendies vollzieht sich, kulturgeschichtlich bedingt, im Rekurs auf den Protestantismus als rein moralischer Verbotskultur, die ihre Lust am Verbotenen als ihre schlechte und schuldhafte Wirklichkeit eingesteht.
Daher das Fanatische der Moral — sie bekennt daran ihre eigene Schuldhaftigkeit: die ihrer phantasmagorischen Liberalität, die alle personale Selbstbildung in der Verletzlichkeit subjektiver Gefühlswelten versenkt, die sie im äußeren Schutzwall des »politisch Korrekten« gegen alles Negative absichert. Die Ideologie des »politisch Korrekten« ist gewissermaßen das Freistil-Christentum für Religionslose und übernimmt als allgemeine »Moral« die Stellvertretung Gottes in religiös erodierten »modernen« Gesellschaften — was auch der geographischen Verbreitung des »Gutmenschen« entspricht und die geschichtlich bedingte Variationsbreite seiner typologischen Ausprägungen erklärt.
Aus : (AUS: TUMULT – Vierteljahresschrift für Konsenstörung)