MESOP : US WUSSTEN VOM PUTSCH & WARNTEN DEN NATO PARTNER NICHT

Die seltsamen Tweets aus der Nacht des Putsches

“Erdogan hat in Deutschland Asyl beantragt” – die Falschmeldung wurde in der Nacht des Türkei-Putsches verbreitet. Viele Türken werten das als einen Beweis ausländischer Drahtzieher. Kann das stimmen?

Von Deniz Yücel , Istanbul Türkei-Korrespondent DIE WELT  4 August 2016 – “Nur weil du paranoid bist, heißt das nicht, dass sie nicht hinter dir her sind”, lautet ein Bonmot des britischen Fantasy-Schriftstellers Terry Pratchett. Auf der Welt dürfte es nicht viele Länder geben, für die dieser Befund so sehr gilt wie für die Türkei.

Einerseits gibt es eine starke Neigung zu Verschwörungstheorien, nicht nur Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan sieht ständig dunkle Kräfte am Werk, die sich gegen die Türkei verschworen haben.

Auch in anderen Milieus des Landes sind Verschwörungstheorien beinahe unverzichtbarer Teil des politischen Denkens. Und andererseits gibt es in diesem Land eine lange Tradition von Verschwörungen und Geheimorganisationen aller Art. Wenn es dafür noch eines Beweises bedurfte, hat ihn der Putschversuch vom 15. Juli geliefert.

Doch auch fast drei Wochen danach sind im Zusammenhang mit dem Putschversuch viele Fragen offen. Dazu gehört auch die Frage, ob die Putschisten den Beistand ausländischer Staaten genossen. “Bedauerlicherweise unterstützt der Westen den Terrorismus und den Putsch”, sagte Erdogan jüngst, die Organisationen seines einstigen Verbündeten seien nicht die eigentlichen Masterminds, das seien andere, sagte er am Donnerstagvormittag noch einmal. Einer repräsentativen Umfrage zufolge glauben 72,6 Prozent der türkischen Bevölkerung, dass die Putschisten von ausländischen Staaten unterstützt wurden.

Stratfor genießt den Ruf einer Schatten-CIA

Zumindest mit Blick auf die Vergangenheit ist dieser Gedanke nicht völlig abwegig. Beim Militärputsch vom 12. September 1980, mit dem zwar die Gewalt zwischen linken und rechten Gruppen auf den Straßen beendet wurde, nach dem aber Hunderttausende in den Foltergefängnissen verschwanden und von dessen Folgen sich die Türkei bis heute nicht erholt hat, handelte die türkische Generalität im Einvernehmen mit den USA. “Our boys did it”, meldete seinerzeit der für die Türkei verantwortliche CIA-Offizier Paul Henze an den damaligen US-Präsidenten Jimmy Carter, wie er Jahre später in einem Interview mit dem türkischen Journalisten Mehmet Ali Birand erzählte.

Aber sind diese Putschisten auch “US-Boys”? Viele Türken, die das glauben, verweisen darauf, dass der Gülen, den die Regierung als Drahtzieher des Putsches bezichtigt, seit Ende der 90er-Jahre in den USA lebt und sich die US-Regierung bislang weigert, ihn auszuliefern.

Und dann gibt es noch eine Begebenheit aus der Putschnacht, die zumindest rätselhaft ist: “US-Militärquellen zufolge beantragt Erdogan politisches Asyl in Deutschland, berichtet MSNBC”, schrieb der US-amerikanische Informationsdienst Stratfor am Abend des Putsches. Stratfor ist zwar ein Privatunternehmen, genießt aber aufgrund seiner nachrichtendienstlichen Züge und seines Einflusses den Ruf einer “Schatten-CIA”.

Der ominöse Tweet schlug im Netz hohe Wellen

Recherchen der türkisch-amerikanischen Bloggerin und früheren FBI-Mitarbeiterin Sibel Edmonds zufolge wurde diese Meldung nicht über offizielle Seiten von MSNBC verbreitet, sondern von einem Mitarbeiter des Senders namens Kyle Griffin.

Doch in den ersten Stunden der Putschnacht, als niemand wusste, was da vor sich geht, ging dieser Tweet um die Welt; noch immer liefert eine Google-Suche mit den Stichworten Erdogan Asylum Germany rund 650.000 Treffer, darunter bei vielen Nachrichtenseiten. In Deutschland twitterte zum Beispiel “Spiegel Online” um 23.46 Uhr mitteleuropäischer Zeit: “Der Nachrichtensender MSNBC berichtet unter Berufung auf US-Militärs, Erdogan bitte um Asyl in Deutschland.” Auch “Focus”-Online verbereitete die Meldung.

Als “Spiegel Online” – es hätte auch jede andere deutschsprachige Seite sein können – dies meldete, hatte sich Erdogan etwa 20 Minuten vorher mittels des Internetdienstes Facetime im Sender CNN-Türk an die türkische Bevölkerung gewandt und sie dazu aufgerufen, sich den Putschisten entgegenzustellen – und damit entscheidend in den Verlauf des Putsches eingegriffen.

Und auch Stratfor griff die Meldung erst auf, als Erdogan schon gesprochen hatte – was Stratfor ebenfalls twitterte. Unkommentiert verbreitete Stratfor hintereinander Erdogans Aufruf an die Bevölkerung (23.39 Uhr MEZ), die Meldung, dass er in Deutschland Asyl beantragt habe (23.43 Uhr MEZ) und wieder den Aufruf (23.49 Uhr MEZ). Die Nachricht über den Asylantrag wurde zudem auf der Seite von Stratfor veröffentlicht, wo sie weiterhin abrufbar ist.

Die Falschmeldung hätte großen Einfluss haben können

Natürlich wäre es überzogen, allein aus dem Tweet eines Fernsehproduzenten die Unterstützung oder gar Beteiligung amerikanischer Kreise am Putschversuch abzuleiten; natürlich können in einer unübersichtlichen Situation Falschmeldungen entstehen und sich schnell verbreiten.

Aber in den Stunden der Unsicherheit, die Erdogans Auftritt vorausgingen, hätte diese Falschmeldung den Verlauf des Putsches entscheidend beeinflussen können: Denn warum sollten sich Bürger oder auch loyale Einheiten von Polizei und Militär den Putschisten entgegenstellen, wenn der Präsident das Feld geräumt hat? Wer denkt in so einer Lage darüber nach, dass Erdogan ausgerechnet nach Deutschland geflohen sein soll?

Und selbst nach seinem Aufruf war diese Nachricht über seine angebliche Flucht noch nicht eindeutig widerlegt, schließlich hätte niemand mit Sicherheit sagen können, wo sich Erdogan zu diesem Zeitpunkt tatsächlich aufhielt. Von “psychologischer Kriegsführung” spricht daher Sibel Edmonds.

Kyle Griffin hat seinen Tweet inzwischen gelöscht, verweigert aber ebenso wie MSNBC bislang jeden Kommentar. Edmonds hat darum eine Kampagne mit dem #ConfrontNBC – und ruft für diesen Donnerstag zum Protest auf – in den sozialen Medien, aber auch vor der Zentrale des Muttersenders NBC in New York. Auch die türkische Botschaft in Washington hat sich in den Fall eingeschaltet und verlangt eine Entschuldigung des Senders. Und diesen Wunsch kann man ausnahmsweise nicht unter typisch türkischem Beleidigtsein verbuchen.

http://www.welt.de/politik/ausland/article157491643/Die-seltsamen-Tweets-aus-der-Nacht-des-Putsches.html?wtmc=newsletter.wasdieweltbewegt.newsteaser…standardteaser&r=86554576178118&lid=557178&pm_ln=550370