MESOP : UNBEUGSAM – AYAAN HIRSI ALI / DIE POLITISCHE FEIGHEIT DES WESTENS IST SCHULD AN DEM MEDITERRANEN MIGRANTENTOD DER WESTEN IST FEIGE !

INTERVIEW

Die Welt: Der Originaltitel Ihres neuesten Buchs ist “Ketzer” oder Häretiker. Laut Definition ist ein Ketzer jemand, der in der Öffentlichkeit eine andere als die allgemeingültige Meinung vertritt. Sind Sie stolz darauf, eine Ketzerin zu sein?

Ayaan Hirsi Ali: Ob ich stolz darauf bin, die Mehrheit der Muslime herauszufordern? Stolz ist vielleicht das falsche Wort. Aber ich bin dankbar, dass ich eine Ketzerin, eine Dissidentin geworden bin.

Die Welt: Was war die Alternative?

Hirsi Ali: Es gibt unterschiedliche Gruppen von Muslimen, ich habe zu verschiedenen Zeiten allen angehört. Ich wurde erzogen zu einer Muslimin, die gefangen war zwischen ihrem Glauben und der Moderne. Später folgte ich den Medina-Muslimen, einer militanteren Form des Glaubens, die sich zu den Ursprüngen des Korans bekennt. Und zuletzt wurde ich zur Häretikerin, zu einer Person, die das Glaubenssystem hinterfragt. Darüber bin ich sehr froh, denn wäre ich eine Medina-Muslimin geblieben, würde ich heute vielleicht dem Islamischen Staat folgen.

Die Welt: Sehen Sie Ihre Entwicklung als eine an, die alle Muslime durchlaufen sollten?

Hirsi Ali: Man muss nicht wie ich den Glauben hinter sich lassen, nur weil man den Islam hinterfragt. Es gibt auch gläubige Muslime, die eine Reform des Islam befürworten.

Die Welt: Darf den Islam nur hinterfragen, wer als Muslim geboren worden ist?

Hirsi Ali: Jeder hat das Recht, den Islam zu hinterfragen. Aber Muslime haben sogar die Pflicht dazu. Im Wettstreit der Lager zwischen konservativen Muslimen, die den Koran wörtlich nehmen, und den reformorientierten muss man eine Position beziehen.

Die Welt: Wen sehen Sie im Rückzugsgefecht – die rückschrittlichen Muslime oder jene, die Erneuerung suchen?

Hirsi Ali: Leider sind die rückwärtsgewandten Muslime auf dem Vormarsch. Ihre Botschaft ist einfach. Sie setzen ihre Regeln durch mit Worten und mit Gewalt, es ist eine kraftvolle Bewegung.

Die Welt: Was macht das Narrativ der rückschrittlichen Muslime so überzeugend?

Hirsi Ali: Die rückwärtsgewandten Muslime beziehen sich auf den Koran, sie nehmen seine Regeln und Anweisungen wörtlich. Die Attraktivität besteht in der Einfachheit, es ist angenehm, keine Widersprüche aushalten zu müssen. Das beeindruckt vor allem junge Menschen, die in einer komplizierter werdenden Welt nach Orientierung suchen. Wenn die Unterscheidung zwischen richtig und falsch scheinbar so klar ist, wird es sehr schwer, sich über diesen Rahmen hinwegzusetzen. Die Angst davor, ausgeschlossen zu werden, sorgt für Zusammenhalt unter den Medina-Muslimen.

Die Welt: Der Reformislam hat also ein Marketingproblem?

Hirsi Ali: Ich bin überzeugt, dass die Widersprüchlichkeit zwischen Moderne und Glauben eines der größten Hindernisse für die Reform des Islam ist. Es braucht eine historisch-kritische Interpretation des Korans, eine Reformation des muslimischen Glaubens, so, wie sie auch das Christentum durchlaufen hat.

Die Welt: Das Christentum als leuchtendes Vorbild, damit wollen sie orthodoxe Muslime überzeugen?

Hirsi Ali: Es führt kein Weg daran vorbei: Die Trennung von Religion und Politik ist entscheidend für eine Neuaufstellung des Islam. Es gibt fünf zentrale Konzepte im Koran, die dem entgegenstehen. Der Aufruf zum heiligen Kampf ist problematisch genauso wie die Glorifizierung von Märtyrern. Die Medina-Muslime halten das Leben im Jenseits für erstrebenswerter als ein Leiden im Diesseits. Das ist eine gefährliche Idee, weil sie den Fokus vom Hier und Jetzt nimmt. Ich halte auch die Scharia, das islamische Recht, für überkommen, unter anderem, weil es sich über fundamentale Menschenrechte hinwegsetzt. Es sind vor allem Frauen und Homosexuelle, die unter dieser Ungerechtigkeit zu leiden haben.

Die Welt: Aber hat nicht jede Gruppe auch das Recht auf Rückständigkeit?

Hirsi Ali: Es gibt selbstverständlich keinen Zwang zur Moderne. Aber die Freiheit, rückwärtsgewandt zu sein, endet bei der Ausübung von Gewalt gegen andere. Und das genau ist das Problem mit den Medina-Muslimen: Sie führen einen Heiligen Krieg gegen Ungläubige, sie behandeln ihre Frauen wie Sklaven, sie stürzen ganze Regionen in die Krise.

Die Welt: Wer soll die Reform des Islam anstoßen?

Hirsi Ali: Die Bewegung muss von unten kommen, der Islam wird sich nur so erneuern. Die reformorientierten Muslime müssen den Mut finden, das Wort gegen die nihilistischen Lautsprecher zu erheben. Dabei brauchen sie Hilfe aus dem Westen.

Die Welt: Aber weshalb sollte sich der Westen einmischen?

Hirsi Ali: Unsere Welt ist klein geworden, die gegenseitigen Abhängigkeiten sind gewachsen. Es wäre fahrlässig, die rückwärtsgewandten Muslime einfach gewähren zu lassen. Der Westen bekommt die Folgen bereits zu spüren, zum Beispiel die Flüchtlingswellen aus Libyen und Syrien. Gleichzeitig wächst die Gefahr von Terror aus den eigenen Reihen: Junge Leute werden von Hasspredigern radikalisiert, ziehen in den Dschihad oder planen Anschläge in Europa. Wie könnte der Westen behaupten, der radikale Islam gehe ihn nichts an?

Die Welt: Der Westen sollte die Reform des Islam also aus purem Eigeninteresse unterstützen?

Hirsi Ali: Die Reformkräfte zu fördern ist mittelfristig billiger als Antiterrormaßnahmen. Es ist politisch und finanziell sehr viel kostspieliger, im Ausland militärisch zu intervenieren, Dschihadisten im Inland zu überwachen und Anschläge zu verhindern.

Die Welt: Aber es ist doch nicht so, als ignoriere der Westen Anhänger des moderaten Islam.

 Hirsi Ali: Gelegentliche Fernsehauftritte moderater Muslime im Westen reichen nicht aus, um ihnen eine Plattform zu geben. Sie müssen mehr Gehör finden in den Gesellschaften, aus denen sie kommen. Zudem ist es falsch, wenn Politiker wie Barack Obama oder François Hollande nach islamistischen Terroranschlägen erklären, diese hätten nichts mit dem Islam zu tun – obwohl das sehr wohl der Fall ist, denn die Attentäter begründen ihre Taten ja auch mit dem Koran.

Die Welt: Sie unterstellen dem liberalen Westen Naivität, weil er den Islam nicht offen kritisiert. Aber handelt es sich nicht eher um Toleranz?

Hirsi Ali: Wenn Toleranz die Intoleranten schützt, dann ist es eine falsch verstandene Toleranz. Sie versagt den Unterdrückten die Unterstützung. Was ist es denn für ein Signal an Frauen, Kinder und Homosexuelle in der muslimischen Welt, wenn nicht einmal westliche Liberale es wagen, die rückwärtsgewandten muslimischen Eliten herauszufordern? Das ist Feigheit.

Die Welt: Sie werfen Teilen des Westens also Doppelmoral vor?

Hirsi Ali: Es ist zumindest eine Art von kulturellem Relativismus, den ich vor allem in linken Kreisen Europas entdecke. Da wird das Hohelied auf die Freiheit gesungen, nur von muslimischen Einwanderern will man die Einhaltung ebendieser Freiheiten nicht einfordern. Das wäre ja westlicher Rassismus, heißt es dann. Multikulti sieht vor, dass jeder seine eigenen Werte behalten soll. Es ist aber ein Fehler, wenn wir hart erkämpfte Freiheiten dafür preisgeben. Bestimmte Wertvorstellungen schließen einander aus: Entweder man glaubt an gleiche Rechte für Männer und Frauen oder eben nicht. Scharia und Gleichberechtigung können nicht nebeneinander existieren. Vielleicht besteht der eigentliche Rassismus darin, bestimme Rechte als Privilegien des weißen Mannes anzusehen.

Die Welt: Oder schweigt der Westen vielleicht aus Angst vor Hass?

Hirsi Ali: Es ist eine Mischung, aber Angst spielt sicherlich auch eine Rolle. Nehmen wir nur den Streit über die Mohammed-Karikaturen. Es gibt inzwischen unzählige Zeitungen, die solche Zeichnungen aus Furcht vor Gewalt nicht mehr drucken. Das ist vielleicht nachvollziehbar, spielt aber den rückwärtsgewandten Muslimen in die Hände. Schlimmer noch: Die Radikalen nutzen Freiheiten wie das Recht auf Versammlung und freie Meinungsäußerung, um ihre Vorstellungen zu verbreiten – während der Westen nicht einmal bereit ist, diese Rechte zu verteidigen.

Die Welt: Sie geben sich in Ihrem Buch sehr optimistisch, was die Erneuerungskräfte des Islam angeht. Woher nehmen Sie Ihre Zuversicht?

Hirsi Ali: Der Westen mag enttäuscht sein über den “arabischen Frühling”, aber ich teile diese Enttäuschung nicht. Vielleicht hatte ich realistischere, bescheidenere Erwartungen. Was mir Hoffnung gibt, ist, dass diese Bewegung begonnen hat, Autoritäten zu hinterfragen: ein Volk seine Herrscher, Frauen ihre Männer, Schüler ihre Lehrer. Das ist nur der Anfang, denn die logische Folge davon ist, dass Gläubige ihre Religion und ihren Gott hinterfragen.

Die Welt: Was hat das Hinterfragen von Autoritäten den Menschen gebracht? Syrien versinkt im Krieg, in Ägypten hat eine Militärdiktatur die Muslimbrüder ersetzt.

Hirsi Ali: Der Funke des Widerstands ist entzündet, das lässt sich nicht leugnen. Vielleicht darf man den “arabischen Frühling” nicht an seinem Ergebnis messen, sondern an seiner langfristigen Wirkung. Die Menschen sehen den Widerspruch als Option. In Ägypten sind die Menschen ein zweites Mal auf die Straßen gegangen, als sie mit der herrschenden Muslimbruderschaft nicht zufrieden waren.

Die Welt: Sie setzen große Hoffnungen in die Frauen der muslimischen Welt, was die Reform des Islam angeht. Haben Sie die Männer aufgegeben?

Hirsi Ali: (lacht) Ich habe die Männer doch nicht aufgegeben! Aber es sind die Frauen, die mehr unter der Scharia leiden. Also ist ihr Bedürfnis größer, etwas daran zu verändern.

Die Welt: Wenn sie muslimische Frauen treffen – danken diese Ihnen häufiger, oder ernten Sie mehr Beleidigungen?

Hirsi Ali: Es gibt beide Reaktionen von Frauen: Dankbarkeit und Verachtung. Es ist aber wahrscheinlich die Verachtung, die mir mehr bedeutet. Sie sagt mir, dass ich eine Diskussion über den Islam provoziert habe. Und ich bevorzuge eine Auseinandersetzung über Kontroversen als das bloße Schweigen darüber.

Die Welt: Sie sind sehr explizit in Ihrer Kritik am Islam. Haben Sie überhaupt keine Angst?

Hirsi Ali: Ich bin kritisch gegenüber dem Islam, das stimmt. Aber ich bin nicht waghalsig, ich wähle meine Worte sehr genau.

Die Welt: Gibt es etwas, das Sie nicht sagen? Kennen Sie rote Linien?

Hirsi Ali: Ich hänge selbstverständlich an meinem Leben, das ist die rote Linie. Genau deshalb greife ich bestimmte Strömungen innerhalb des Islam auch an, weil sie anderen nach dem Leben trachten.

Die Welt: Bereuen Sie etwas?

Hirsi Ali: Es gibt nichts, was ich bereue. Der Tod von Theo van Gogh belastet mich noch immer. Aber ich habe ihn nicht umgebracht. Er musste nicht sterben, weil wir den Film zusammen gemacht haben. Er musste sterben, weil jemand beschloss, ihn aus Hass zu töten.

Die Welt: Wie hoch ist der Preis dafür, Tabus zu brechen? Die Nähe zur eigenen Familie?

Hirsi Ali: Meine Eltern haben meine Abkehr vom Islam verurteilt. Mein Vater ist inzwischen tot, aber meine Mutter und mein Bruder sind nach wie vor traurig und beschämt. Es ist sehr schwer auszuhalten, von der eigenen Familie verstoßen zu werden für seine Überzeugungen. Aber das ist mein Weg, ich muss ihn weitergehen.