MESOP NEWS KOMMENTAR ZUM TAG : INGA ROGG – NEUE ZÜRCHER ZEITUNG (NZZ) FINDET KURDEN HABEN EIGENEN STAAT VERDIENT !

Iraks Kurden sehen sich trotz vielen Drohungen kurz vor dem Ziel

Die Kurden haben alle Warnungen ignoriert und auch in der umstrittenen Erdölstadt Kirkuk über die Unabhängigkeit abgestimmt. An ein böses Erwachen glauben sie nicht.

Inga Rogg, Kirkuk 25.9.2017,  –  Grosse Freude bei den Kurden in der nordirakischen Stadt Kirkuk. Schon sein Grossvater, sein Vater haben für die Sache der Kurden gekämpft. Scheich Jaafer Scheich Mustafa ist seit 48 Jahren Peschmerga, wie die Kurden ihre Kämpfer nennen. Jetzt sieht es sich am Ziel seiner Träume. «Es ist vorbei», sagt er. «Kurdistan wird ein eigener Staat.» Der 69-Jährige mit dem kurzen grauen Stoppelhaar und Schnauzer kommandiert eine 45 000 Mann starke Truppe von Kurden in Kirkuk, dieser zwischen Kurden, Arabern und Turkmenen so heissbegehrten Stadt mit ihren riesigen Ölvorkommen.

Kirkuk gehört bis jetzt nicht zum kurdischen Teilstaat. Geht es nach dem Peschmerga-Veteran, wird sich das freilich schon bald ändern. Trotz den Widerständen vonseiten der Regierung in Bagdad und den Warnungen aus dem Ausland fand das Referendum über die Unabhängigkeit von Irakisch-Kurdistan am Montag auch in Kirkuk statt. Der Peschmerga-Veteran hat eben seine Stimme für ein Ja abgegeben. Stolz hält er seinen von der Tinte lila gefärbten rechten Zeigefinger in die Luft. «Es gibt keine umstrittenen Gebiete mehr», sagt Scheich Jaafer. «Mit dieser Abstimmung gehört Kirkuk zu Kurdistan.»

Dies sei die Antwort der Kurden auf die jahrzehntelange Unterdrückung und Verfolgung durch das ehemalige Regime von Saddam Hussein, unter dem viele Kurden aus der Erdölmetropole vertrieben wurden. Es sei auch die Genugtuung für die vielen Opfer der Kurden im Kampf gegen ihre Unterdrücker und zuletzt die Extremisten des Islamischen Staats (IS). Allein seine eigene Familie hat in diesen Konflikten 25 Personen verloren. «Dieser Tag wird unsere Märtyrer glücklich machen.»

Der Preis für den Anti-IS-Kampf

Auf der Basis der Einheit von Scheich Jaafer rund 60 Kilometer südwestlich von Kirkuk stehen die Kämpfer Schlange, um ihre Stimme abzugeben. Am Checkpoint wehen zwei kleine irakische Flaggen unter einem Bild von Jalal Talabani, dem seit Jahren gesundheitlich schwer angeschlagenen ehemaligen Präsidenten des Iraks und Chef der Patriotischen Union Kurdistans (PUK), dessen Partei auch der Veteran angehört. Etliche Kilometer entfernt halten die IS-Extremisten noch ihre Stellung. Aber damit könnte es bald vorbei sein. Am Dienstag sollen irakische Soldaten und Verbände der paramilitärischen Bundespolizei eine Offensive auf die IS-Hochburg Hawija starten. «Wir werden ihnen den Weg freimachen», versichert Scheich Jaafer. «Unsere Verbündeten müssen sich keine Sorgen machen. Wir halten Wort.» Allen voran die Amerikaner hatten auf eine Verschiebung des Referendums gedrängt. Sie befürchten, dass der Zwist zwischen Bagdad und den Kurden um die Unabhängigkeitsbestrebungen das gemeinsame Vorgehen gegen den IS schwächen könnte.

Weitaus grösser ist freilich das Risiko, dass es zwischen schiitischen Milizen und den Peschmerga zum offenen Konflikt kommt. Beide Seiten haben sich, schwer bewaffnet, in der Umgebung in ihre Stellungen eingegraben. Vizepräsident Nuri al-Maliki, der als Sprachrohr der Milizionäre auftritt, nannte die Abstimmung am Montag eine Kriegserklärung. Scheich Jaafer schliesst das nicht aus. Doch das im Krieg gegen den IS gewonnene Gelände freiwillig herzugeben, kommt für ihn, wie für alle Kurden, nicht infrage. Und dafür haben sie vorgesorgt. Allein seine Einheit ist mit 25 000 Mann in der Region präsent. Insgesamt seien mehr als 200 000 kurdische Soldaten, Mitglieder von Eliteeinheiten und Peschmerga, in der Region rund um Kirkuk stationiert. Von ein paar Hardlinern abgesehen stimmten auch die Araber und die Turkmenen für die Unabhängigkeit von Kurdistan.

Seltene Unterstützung

Etwa eine Viertelstunde von der Militärbasis entfernt, in Topzawa, verlassen drei Araber in ihren typischen langen Männerkleidern ein Wahllokal. «Wir haben mit Ja gestimmt», sagen sie. Warum? «Ein kurdischer Staat ist gut für uns.» In dem gemischten Ort sind sie freilich eine Minderheit. Alle anderen Wählerinnen und Wähler sind Kurden. Das Gleiche gilt auch für ein mehrheitlich turkmenisches Viertel im Zentrum von Kirkuk. Fakir Kheireddin Burhan ist mit seinem Sohn und seiner Enkelin in die Ipek-Yolu-Mädchenschule gekommen. Der Sohn trägt einen Schal mit der kurdischen Trikolore, die Wangen der Enkelin sind in den Farben der Flagge bemalt. Er und sein Sohn hätten selbstverständlich mit Ja gestimmt, sagt Burhan. Es ist eine überraschende Aussage, denn Vater, Sohn und Enkelin sind Turkmenen.

Aber mit ihrer Haltung stehen sie ziemlich alleine da. Bis zum Mittag haben nur 250 der mehr als 3300 Wahlberechtigten ihre Stimme abgegeben. Und nicht nur die Wählenden, auch der Schuldirektor und die Lehrer, die die Namen mit der Wählerliste abgleichen, Wahlzettel aushändigen und einsammeln, sind Kurden. Wahlbeobachter gibt es nur zwei, und sie gehören der PUK und der Partei des kurdischen Regionalpräsidenten Masud Barzani an. Wer gegen das Referendum ist, wie viele Araber und Turkmenen, bleibt dem Urnengang fern.

Nur in den mehrheitlich kurdischen Vierteln gibt es vor den Wahllokalen teilweise längere Schlangen. Darüber hinaus wirkt die Stadt wie ausgestorben. Sämtliche Geschäfte haben geschlossen. Von der Polizei, die normalerweise für die Sicherheit zuständig ist, weit und breit keine Spur. Sie musste auf Geheiss von Regierungschef Haider al-Abadi zu Hause bleiben. Statt der Polizisten sorgen Kurden für Sicherheit.

Vertrauen auf den Westen

Damit dürfte selbst in Kirkuk das Ergebnis sicher sein. Die Drohungen aus Bagdad, Iran oder der Türkei machen an diesem Tag keinen Eindruck auf die Kurden. «Schlimmer als bis anhin kann es nicht werden», sagt die Lehrerin Janar Faki. «Darauf haben wir fünfzig Jahre gewartet», wirft ihre Tochter ein. Und der alte Peschmerga-Haudegen Scheich Jaafer: «Wir haben uns abgespalten. Nun müssen die Iraner, die Türken und Bagdad zu uns kommen und mit uns verhandeln.» Die Unterstützung der Amerikaner und der Europäer sei den Kurden sicher, glaubt er. «Sie waren ja nicht grundsätzlich gegen das Referendum. Sie werden das Ergebnis akzeptieren.»

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