MESOP NEWS CULTURE : DER TOTENGRÄBER DER GESAMTEN FRANZÖSISCHEN PRESSE / EMMANUEL MACRON – IM AUFTRAG DES FINANZKAPITALS

Medien in Frankreich Hurra, wir haben die Presse verschenkt!

Patrick Drahi will mit seiner Telekomfirma SFR Frankreich erobern. Er verkauft Handyverträge, kauft Fernsehrechte und bietet Zeitungen zu Minipreisen an. Er geht vor wie Amazon. Ob die Verlage das überstehen?

15.08.2017, von Jürg Altwegg, Genf  FAZ – New York Stock Exchange vor zwei Monaten: Patrick Drahi feiert den Börsengang der amerikanischen Tochterfirma seines Konzerns „Altice“. Für Zeitungsleser sind in Frankreich paradiesische Zeiten angebrochen.

Nie war es so leicht, renommierte Blätter und politische Magazine aus dem ganzen Land zu lesen. Der Pariser „Figaro“ gefällig? Mit einem Klick lädt man sich „Libération“ herunter. Genauso geht es mit dem Boulevardblatt „Le Parisien“. Auch „L’Express“ wird unter dem gleichen digitalen Dach vertrieben. Und am Wochenende die Sonntagszeitung „Le Journal du Dimanche“ sowie die Magazine des „Figaro“. „Paris Match“ fehlt nicht. Wenn man Lust auf Klatsch verspürt, stehen die People-Illustrierten bereit. Die Auswahl an Programmzeitschriften ist umfassend. Für Kinder gibt es „Mickey Mouse“, für Manager Wirtschaftsmagazine wie „L’Expansion“. Die Sportzeitung „L’Equipe“ sowie mehrere Sport- und Fachzeitschriften („L’Auto“, „Le Vélo“) sind in Sekunden auf dem Bildschirm. Genauso wie „Elle“ und „Marie-France“ und Ratgeber-Magazine zu Gesundheit, Essen, Körperpflege.

Der Blick schweift in die Provinz und erschließt die führenden Zeitungen (fast) aller Regionen: Bernard Tapies „La Provence“ in Marseille, „La Voix du Nord“ aus Lille, „Corse Matin“ oder „Sud-Ouest“ und „Ouest-France“. Und selbstverständlich liegen Reisemagazine und Kulturzeitschriften wie „Lire“, „Classica“, „Jazz“ in der Bibliothek aus, sie umfasst mehr als achtzig Titel.

Und der Preis? Er ist, ehrlich gerechnet, ein Nulltarif. Denn das Leserparadies ist eine Beigabe für diejenigen, die mit dem Konzern SFR einen Handy- oder Internetvertrag abgeschlossen haben. Dem Nutzer der „SFR Presse“ sind keine Grenzen gesetzt, er darf jedes Blatt lesen.

SFR (Société française de radiotéléphonie) ist in Frankreich hinter Orange (Ex-France-Télécom und immer noch mit staatlicher Beteiligung) die Nummer zwei auf dem Markt der Telekommunikation. Der Konzern gehört zu Altice, der Firma des in der Schweiz ansässigen französisch-israelischen Kabelunternehmers Patrick Drahi. Altice hat bei den Banken, die seine Expansion finanzieren, Schulden von fünfzig Milliarden Euro. In Paris erwarb Drahi auf Kredit „Libération“ und „L’Express“. Er legte sie mit dem Newssender BFM-TV und dessen Satelliten zusammen. SFR kam vor zwei Jahren hinzu – Emmanuel Macron spielte bei dem Deal eine Schlüsselrolle.Der digitale Zeitungskiosk ist keine Erfindung Drahis. Es gibt mehrere, die beliebtesten sind „Relay“ und „Le Kiosk“. Sie bieten Abonnements an. Das billigste kostet zehn Euro pro Monat. Für zwanzig Euro bekommt man 25 Kredite, die beim Downloaden verrechnet werden. Für die meisten Magazine wird ein Kredit verrechnet, weniger als ein Euro: das ist im Vergleich zum Preis der gedruckten Ausgabe am Kiosk gut fünfmal weniger. Ist der gesamte Kredit verbraucht, kann man einzelne Titel zum etwas realistischeren Preis erstehen. Der Betrag, der den Medienunternehmen überwiesen wird, bleibt Geschäftsgeheimnis.SFR bietet auch die in der eigenen Holding erscheinenden Publikationen in einem Online-Shop an, der nicht nur Kunden mit Handy-Abo offensteht: der unbeschränkte Zugriff auf „Libération“, „L’Express“ und ein paar hauseigene Zeitschriften kostet zwanzig Euro im Monat. Zum Vergleich: das digitale Abonnement von „Libération“ allein wird für siebzehn Euro angeboten, als Mehrwert umfasst es einzig noch den Zugang zum Archiv.

Das Dumping der digitalen Kioske, die immerhin noch einzeln abrechnen, erreicht mit der „SFR Presse“ eine neue Dimension und ist Teil einer größeren Expansionsstrategie. Es geht darum, die Schläuche und Netze massenhaft mit Inhalten zu füllen. Drahi ist gerade dabei, in den Vereinigten Staaten den zweitgrößten Kabelanbieter zu übernehmen. und will Frankreich im Alleingang verkabeln. Die Infrastruktur will gefüttert werden, die Kunden werden mit spektakulären Programmen angelockt. An erster Stelle ist es der Fußball. Mit dem Erwerb der Rechte an der englischen Premier League löste Drahi in Frankreich ein Erdbeben aus. Umgehend wurde „SFR Sport“ mit fünf Kanälen aus dem Boden gestampft. Weitere Ligen kamen hinzu: China, Portugal, Südamerika – Fußball rund um die Uhr. Von 2018 an verfügt SFR auch über die Champions und die Europa League.

Die Fernsehlandschaft wird dabei umgepflügt. Der große Verlierer ist der Abosender Canal+, dessen Besitzer Vivendi die SFR an Drahi verkaufte und den Schritt wohl bitterlich bereut. Canal+ hatte zuvor schon wichtige Sportrechte an die Agentur BeIN (Al Dschazira) verloren und befindet sich nun im freien Fall. Nach dem Verlust von Hunderttausenden von Abonnenten hat der Pionier des Bezahlfernsehens seine Vermarktung Orange überlassen, das sich als einziger Telekommunikationskonzern nach kostspieligen – vielleicht allzu frühen – Erfahrungen auf die Vermittlung von Gesprächen und den Internetzugang beschränken will: Verzicht auf eigene Produktionen und den Kauf von Rechten.

Das zweite Schlachtfeld sind die Filme und Fernsehserien. Auch hier war Canal+ führend. Seine Krise hat inzwischen Auswirkungen auf den Kulturbetrieb. Der Sender ist in die Filmproduktion eingebunden und kann diese Aufgabe nicht mehr wirklich erfüllen. Von Netflix wird das Prinzip des Kinovertriebs untergraben. Seit Monaten weigert sich Canal+, Honorare an Produktionsfirmen und Abgaben an Autorenverbände zu zahlen. Die Verträge, so die Forderung, sollen neu verhandelt werden.Im Vergleich zu Film und Fußball handelt es sich bei der Presse zumindest in finanzieller Hinsicht um Peanuts. Doch mit Drahis Strategie wird auch sie zum Spielball – und zum dritten Schlachtfeld – im Krieg der Konzerne. Als entscheidende Schwäche erweist sich, dass die Verlage nicht mehr autonom sind, sondern branchenfremden Unternehmern gehören, die auf die Unabhängigkeit und Interessen ihrer Zeitungen und Magazine wenig Rücksicht nehmen. Frankreichs Medien befinden sich in der Hand der zehn bis zwanzig reichsten Franzosen, und zu diesen Superreichen im Lande gehört kein Verleger.

Über den „Figaro“ herrscht der Milliardär, Flugzeug- und Waffenhersteller Serge Dassault. Der Privatsender Tf1 ist im Besitz des Bauunternehmens Bouygues, der ebenfalls in der Telekommunikation tätig ist. Als Reaktion auf den Konkurrenten SFR arbeitet Bouygues mit „Le Kiosk“ zusammen. Auch Orange verteilt online Zeitungen, die sich den Telefonkonzernen bedenkenlos ausliefern.

Als standhaft erweist sich nur „Le Monde“: Dessen Miteigentümer Xavier Niel gehört der Handyanbieter Free, der einzige ohne Zeitungskiosk. Das Magazin „L’Obs“ der gleichen Besitzer ist indes auf „Le Kiosk“ präsent, kostet aber mit zwei Krediten doppelt so viel wie „L’Express“ oder „Le Point“. Der „Monde“-Geschäftsführer Louis Dreyfus hält die Zusammenarbeit mit Online-Kiosken für einen „strategischen Fehler“. Als „Le Point“ – im Besitz des Multimilliardärs François Pinault –, ohne gefragt zu werden, von „Le Kiosk“ und von Canal+, das ebenfalls einen digitalen Zeitungsstand eröffnete, verscherbelt wurde, schrieb der Herausgeber einen wütenden Kommentar: „Für SFR und Canal+ ist der Journalismus nichts wert“, die Zeitungen würden „in ihren Dienst gestellt, ihrer Gnade ausgeliefert und bald nicht mehr über die nötigen Einnahmen“ für die Finanzierung ihrer Aufgabe verfügen. Die Telekomkonzerne behaupteten, „ihre lächerlichen Vergütungen würden dem um die Kosten für Papier, Druck und Vertrieb reduzierten Einzelverkaufspreis entsprechen. Handelt es sich um eine gezielte Lüge oder üble Ignoranz? Bei uns betreffen die hauptsächlichsten Ausgaben die Redaktion!“ Die Beilagen-Kioske von SFR und Canal+ bezeichnet der Autor als „Totengräber der Presse“. Doch „Le Point“ ist weiterhin dabei.

SFR betreibt den Verdrängungswettberwerb mit Methode. Das Handy-Abo – Gesprächsdauer und 4G-Datenvolumen unbegrenzt – kostet 39,90 Euro im Monat. Wer eine SFR-Box zu Hause hat, bekommt zehn Euro Nachlass. Das Paket umfasst die Sportangebote BeIN (Einzelpreis: 14 Euro) und „SFR Sport“, das für Handy und Tablets zehn Euro kostet. Da kann man beim Zeitungsbouquet, das in dieser Zusammenstellung nicht einzeln zu haben ist, sehr wohl von einer Beilage zum Nulltarif sprechen.

Intern wird ein Preis ausgewiesen: zwanzig Euro. Das hat rein fiskalische Gründe: Für die Presse gilt die reduzierte Mehrwertsteuer von zwei Prozent, für Handyverträge beträgt sie zwanzig Prozent. Auf den Schwindel sind die Steuerbehörden inzwischen aufmerksam geworden. Der Verlust an Steuereinnahmen soll mehrere hundert Millionen Euro pro Jahr ausmachen.

Patrick Drahi jedoch hält unbeirrt daran fest, dass er für die Zeitungen das Geschäftsmodell der Zukunft entwickelt habe. Für rund vierzig Millionen Downloads seien den Verlagen „mehrere Millionen“ Euro überwiesen worden. Doch rechnen wir einmal nach: Sind es vier Millionen, bezahlt er pro Exemplar zehn Cent. Acht Millionen Euro ergäben den lächerlichen Unkostenbeitrag von zwanzig Cent. Die Rechnung geht nicht auf. Aber mehr gibt Drahis Kalkulation unmöglich her. Sollte das Pauschalangebot massenhaft genutzt werden, setzt es die Presse erst recht unter Druck. Vom „Journal du Dimanche“ ist zu erfahren, dass über „SFR Presse“ zusätzlich 17000 Exemplare vertrieben werden. Die Verleger sprechen von einer Versuchsphase, während der sie „Erfahrungen“ sammeln wollen. Die Erfahrung besteht darin, dass man die gesamte Zeitung gratis bekommt.

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