MESOP MIDEAST WATCH REPORT – Weissrussland schickt immer mehr Migranten in den Irak zurück – viele gehen nicht freiwillig

Der Irak hat in den vergangenen Tagen Hunderte von Kurden aus Weissrussland repatriiert. Die Rückkehrer erheben schwere Vorwürfe gegen das Regime in Minsk, aber auch gegen Litauen und Polen. Sie berichten von Push-backs, Misshandlungen und Folter.

Inga Rogg, Jerusalem 30.11.2021, NEUE ZÜRCHER ZEITUNG  –

Wie Tausende von Kurden träumte Didar Wahab von einem Leben in Würde in Westeuropa, als er sich im Herbst ein Visum für Weissrussland kaufte. Dass es nicht einfach werden würde, nach Westeuropa zu gelangen, wusste er. Doch was er und andere Kurden aus dem Nordirak erlebten, spricht für eine systematische Verletzung von internationalem Recht. Und es spricht für Verstösse gegen die Uno-Menschenrechtskonvention nicht nur durch das autokratisch regierte Weissrussland, sondern auch durch die EU-Länder Polen und Litauen.

Ende Oktober flog der 19-Jährige aus Hajiawa, einer Kleinstadt nahe der iranischen Grenze, von Suleimaniya nach Teheran, von dort nach Istanbul und dann weiter nach Minsk, wo er sich mit einer Gruppe von 18 weiteren Kurden auf den Weg in den Wald beim Grenzübergang Bruzgi machte, den die Flüchtlinge und Migranten bloss «Dschungel» nennen. Weil sie dort nicht weiterkamen, versuchten sie es an der Grenze zwischen Weissrussland und Litauen.

«Ihr habt den Weg des Todes gewählt»

Zwanzig Mal sei die Gruppe von litauischen Grenzsoldaten wieder nach Weissrussland geschickt worden, sagt Wahab. Dabei hätten die Soldaten auch Wachhunde auf sie losgelassen. Beim letzten Mal seien sie festgenommen und in ein Gebäude gebracht worden. «Sie steckten uns in einen Raum und versetzten uns nacheinander Elektroschocks.» Der Einsatz von Tasern ist in Europa in gewissen Situationen erlaubt, auch litauische Polizeieinheiten setzen solche Elektroschockgeräte ein. Laut Wahab benutzten sie aber Kabel. Mehrere Tage seien sie von den Soldaten malträtiert worden. «Mir allein haben sie 28 Mal Elektroschocks versetzt. Und das machten sie mit jedem.»

Gemäss der Uno-Antifolterkonvention gilt jede Handlung als Folter, «durch die einer Person vorsätzlich grosse körperliche Schmerzen oder Leiden zugefügt werden», um sie «einzuschüchtern oder zu nötigen». Genau das haben Litauens Grenzwächter laut Wahab getan. «Ihr habt den Weg des Todes gewählt. Entweder ihr geht freiwillig, oder wir bringen euch wieder zurück», hätten die Soldaten gesagt. «Ich dachte, sie bringen uns um. Einer hatte am ganzen Körper dunkle Flecken. Ein Freund von mir ist bis heute verschwunden.»

Eine unabhängige Bestätigung für die schweren Vorwürfe gibt es nicht. Die litauische Regierung hat bis zur Veröffentlichung dieses Artikels auf eine Anfrage der NZZ nicht reagiert. Verängstigt kehrte die Gruppe nach Minsk zurück, wo sie von der weissrussischen Polizei festgenommen wurde. «Sie nahmen uns unsere Pässe ab und verfrachteten uns in einen Raum am Flughafen. Dort hielten sie uns fest, bis wir das Flugzeug nach Erbil bestiegen», sagt Wahab. Damit ist er nicht allein.

Gruseliges Pingpong mit Zivilisten

Der weissrussische Autokrat Alexander Lukaschenko hatte seit dem Sommer Kurden wie Wahab, aber auch Asylsuchende aus Afghanistan, Syrien und Jemen mit der grosszügigen Vergabe von Visa ins Land gelockt. Da sein Versuch gescheitert ist, die EU mit den Migranten unter Druck zu setzen, will er sie nun offenbar wieder loswerden. Wahab und andere Kurden kehrten am frühen Freitagmorgen mit einer Sondermaschine der irakischen Regierung nach Erbil zurück, wo sie einem Gewährsmann der NZZ Auskunft gaben.

Wie Wahab hatte sich auch Hassan Hussein aus Kalar, einer Kleinstadt südlich von Suleimaniya, Ende Oktober über Teheran und Istanbul auf den Weg nach Weissrussland gemacht. Am 8. November erreichte er den «Dschungel». Über zwei Wochen versuchten er und eine grosse Gruppe von Kurden immer wieder, über die Grenze zu gelangen. Jedes Mal scheiterten sie und versteckten sich wieder im «Dschungel». Bei einem der Versuche seien Schüsse gefallen, und die Weissrussen hätten eine Gruppe von Männern festgenommen.

«Wir warteten ein paar Stunden. Dann umstellte uns die Polizei», sagt Hussein. ‹Los, steht auf, wir bringen euch nach Polen›, hätten die Polizisten gesagt und eine Gruppe von Frauen, Männern und Kindern in einen Transporter verfrachtet. Zwei, drei Stunden seien sie gefahren. «Wir kamen an einem etwa drei, vier Meter breiten Bach an. Sie setzten uns in Autoreifen und trieben uns über den Bach.» Bis zum Morgen versteckte sich die Gruppe in Ufernähe, dann lief sie durchs Unterholz. «Es war sehr, sehr kalt.»

Die Gruppe wurde jedoch von polnischen Grenzwächtern entdeckt und festgenommen. «Sie trennten Frauen, Alte und Kinder. Uns Junge brachten sie schnurstracks wieder zur Grenze. Sie öffneten uns den Zaun und schickten uns zurück.» Kaum auf dem Boden Weissrusslands angelangt, wurden die Kurden von Polizisten festgenommen und an den Flughafen transportiert. «Egal, ob wir wollten oder nicht. Ich wollte nicht.»

Inhaftierung am Flughafen von Minsk

Ähnlich ging es Serkan Bekir aus Neu-Halabja, einer für die Überlebenden des Giftgasangriffs des Saddam-Regimes 1988 gebauten Kleinstadt westlich von Halabja. Mithilfe eines Schmugglers hatten es Bekir und 21 weitere Kurden fast bis zur polnisch-deutschen Grenze geschafft, als sie von der polnischen Polizei gestoppt wurden. «Sie brachten uns umgehend zur Grenze zu Weissrussland zurück.» Von dort seien sie von den Weissrussen an den Flughafen von Minsk geschafft worden. «Ich wollte nicht, aber Widerspruch war zwecklos.»

Mit anderen Kurden unternahm Bekir einen Ausbruchsversuch, wurde aber festgenommen und erneut zum Flughafen gebracht. «Sechs Tage sperrten sie uns in einen Raum. Sechs Tage!», sagt der 24-Jährige. Die irakische Regierung und auch die Regierung des kurdischen Teilstaats im Nordirak beteuern, sie nähmen nur «freiwillige Rückkehrer» auf. Doch gefragt hat die drei jungen Männer niemand.

Obwohl die EU die «freiwillige Rückkehr» mit 3,5 Millionen Euro unterstützt, bekamen sie weder einen EU- noch einen Uno-Vertreter zu sehen. Ein Vertreter der Regierung in Bagdad habe sich für den Rückflug um die Formalitäten gekümmert und Personen, die ihre Pässe verloren oder vernichtet hätten, Papiere ausgestellt. «Er war der Einzige, der uns überhaupt half», sagt Bekir. «Aber gefragt hat uns niemand. Und die Weissrussen machten klar, dass wir keine Wahl haben.»

Die EU hat dem Regime in Minsk Unterstützung in Höhe von 700 000 Euro für humanitäre Hilfe zugesagt. Im Übrigen stellt sich Brüssel geschlossen hinter Polen, das gegenüber den Migranten und Flüchtlingen eine harte Linie verfolgt. Dabei droht eine Grauzone zu entstehen, die Rechtlosigkeit Vorschub leistet.

Gemäss der weissrussischen Propaganda gibt es noch viele Iraker, die die Rückreise antreten wollten. 200 sässen derzeit am Flughafen in Minsk fest, doch die EU zahle entgegen ihren Zusagen nicht. Insgesamt hat die irakische Regierung seit dem 18. November auf fünf Sonderflügen 1894 Staatsbürger aus Weissrussland zurückgeholt. Etliche Rückkehrer waren erleichtert, wieder in Kurdistan zu sein. Doch für viele wie Wahab, Hussein und Bekir galt dies nicht. «Nein, nein, nein!», sagten sie. «Hätten wir die Wahl gehabt, wären wir nicht wiedergekommen.»