MESOP MIDEAST WATCH PERSPEKTIVE : Pulitzer-Preisträger Nathan Thrall: „Israel wird seinen derzeitigen Weg weiter fortsetzen“
Stand: 01.09.2024, 09:43 Uhr Von: Hanno Hauenstein- FRANKFURTER RUNDSCHAU
Pulitzer-Preisträger Nathan Thrall über die Katastrophe im Westjordanland, den Diskurs über Palästina und Israel und sein jüngstes Buch „Ein Tag im Leben von Abed Salama“.
Herr Thrall, vor wenigen Monaten wurde eine Lesung von Ihnen in Frankfurt ohne weitere Begründung abgesagt. Damit reihen Sie sich ein in eine wachsende Liste von Personen mit kritischen Haltungen zu Israel-Palästina, deren Veranstaltungen in Deutschland nach dem 7. Oktober abgesagt wurden. Wie blicken Sie heute auf diese Situation?
Für mich sieht das alles ziemlich extrem aus. Das Ausmaß der Einschränkungen freien Sprechens über Israel-Palästina in Deutschland ist mit dem Verhalten eines demokratischen Landes unvereinbar. Nehmen Sie nur mal den Fall von Ghassan Abu Sitta, ein palästinensischer Arzt, der von London nach Gaza reiste, um dort Patienten zu behandeln. Die Tatsache, dass Deutschland ihn an der Einreise gehindert hat, um in Berlin auf einem Kongress aufzutreten; dass daraufhin ein EU-weites Reiseverbot für ihn verhängt wurde; dass, als er versuchte, via Video aufzutreten, die deutsche Polizei eine Razzia durchführte und den Strom abstellte – weil dort über Palästina gesprochen wurde? Das ist ungeheuerlich.
Wie erklären Sie sich das?
Was wir in Deutschland sehen, folgt einem Muster, das wir auch in anderen Ländern sehen, wo die extreme Rechte, die vorgeblich pro-israelisch ist, die israelische Definition von Antisemitismus – die sogenannte IHRA-Definition – vorantreibt. Sie wurde geschaffen, um Israel vor Kritik abzuschirmen. Dies ist ein Mittel, die freie Meinungsäußerung einzuschränken, indem die Unterstützung universeller Menschenrechte als Hassrede gekennzeichnet wird. In einer demokratischen Gesellschaft sollte es nicht möglich sein, Menschen daran zu hindern, einen Staat zu kritisieren.
Deutschland erklärt sein besonderes Verhältnis zu Israel zum Ausdruck seiner historischen Verantwortung. Daran, dass uns Deutschen historische Verantwortung aus dem Holocaust erwächst, sollte kein Zweifel bestehen. Meinen Sie nicht?
Erstens: Kritik an Saudi-Arabien ist nicht anti-islamisch. Und die Verfolgung der Palästinenser zu verurteilen, ist kein Ausdruck von Hass auf das jüdische Volk. Wir sollten das als Argument nicht akzeptieren. Zweitens sind viele der Menschen, die vom deutschen Staat oder deutschen Institutionen ins Visier genommen oder gecanceled werden, beziehungsweise die aufgrund ihrer politischen Haltung Repressionen erfahren, Jüdinnen und Juden. Die Vorstellung, dass historische Verantwortung die Unterstützung für alles, was Israel tut, beinhaltet, kann ich nicht akzeptieren.
Lassen Sie uns über Ihr Buch sprechen. Was hat Ihr Interesse an Abed Salamas Geschichte geweckt?
Es gab viele Gründe, warum ich mich zu dieser Geschichte hingezogen fühlte. Zunächst war der Unfall, der im Zentrum des Buches steht, eine große Tragödie. Aber für mich stand die Geschichte auch sinnbildlich für eine Politik der Vernachlässigung aller Palästinenser, die auf der anderen Seite der Mauer leben. Durch die Geschichten der Juden und Palästinenser, deren Leben bei diesem Unfall aufeinanderprallten, erfahren wir, was es für normale Menschen bedeutet, sich tagtäglich durch ein System ethnischer Segregation und Vorherrschaft zu bewegen.
Bei der Lektüre bekommt man einen Eindruck von der Allgegenwart der israelischen Segregationspolitik.
Das war das Ziel. Die gelebte Realität der Apartheid zu erklären. Die Fakten dieses Systems sind hinreichend dokumentiert. Was ich vermitteln wollte, ist, wie es sich konkret anfühlt, darin zu leben.
Wie hat Abed Salama reagiert, als Sie entschieden haben, seine Geschichte aufzuschreiben?
Er war zunächst neugierig, warum all die Jahre nach dem Unfall plötzlich ein ausländischer Journalist darüber schreiben will.
Er hat Ihnen also sofort vertraut?
Leute stellen Abed diese Frage andauernd: Warum hast du ihm vertraut? Ein Außenstehender, ein amerikanisch-jüdischer Journalist, der in Jerusalem lebt? Seine Antwort lautet, dass er Tränen in meinen Augen sah, als er mir seine Geschichte erzählt hat. Die Intimität des Buchs – die Details von Abeds ersten Liebschaften, von familiären Rivalitäten – all das verdanken wir Abed und dass er mir sein Vertrauen geschenkt hat. Später stand ich dann vor dem Dilemma, ob ich den Entwurf meines Buchs mit ihm teile oder nicht. Ich war hin- und hergerissen. Am Ende beschloss ich, nichts mit ihm zu teilen, bevor das Buch fertig war.
Wie war seine Reaktion auf das Buch?
Sobald ich das Vorab-Exemplar in den Händen hielt, fuhr ich zu ihm und gab es ihm. Einen Tag oder so später rief er mich an und sagte: „Ich bin sehr verärgert“. Und, mein Gott, das war das Schlimmste, was er hätte sagen können. Er sagte, er habe gewusst, dass es Details geben würde, aber nicht, dass es so viele sein würden. Aber ein paar Tage später rief er dann nochmal an und sagte, dass er das Buch beendet habe und verstünde und akzeptiere, warum ich es so gemacht habe. Er sagte, als er das Buch beendet hatte, hatte er das Gefühl, seinen Sohn zu umarmen.
Sie haben für „Ein Tag im Leben von Abed Salama“ den Pulitzer-Preis gewonnen. Haben Sie damit gerechnet?
Nein, natürlich nicht. Aber ich hatte das Gefühl, dass es schon vor dem 7. Oktober eine gewisse Empfänglichkeit für das Buch gab.
Glauben Sie, diese Empfänglichkeit, von der Sie sprechen, ist Ausdruck einer diskursiven Verschiebung in der Diskussion über Israel-Palästina?
Dass es eine diskursive Verschiebung gibt, daran kann gar kein Zweifel bestehen. Das war schon lange vor dem 7. Oktober der Fall. Aber als der 7. Oktober geschah, dachte ich, ich sei am Ende. Selbst linke Organisationen in den USA sagten meine Veranstaltungen ab. Das waren progressive Organisationen, die mir eine Bühne geben wollten und dann plötzlich kalte Füße bekamen.
Zur Person
Nathan Thrall wurde in Kalifornien geboren und lebt seit vielen Jahren in Jerusalem. Seine Essays, Kritiken und Features erschienen u. a. im „New York Times Magazine“ und im „Guardian“. Sie wurden in viele Sprachen übersetzt. Thrall war überdies Vorsitzender des Arab-Israeli Projects bei der International Crisis Group, die sich mit Lösungsvorschlägen zu internationalen Konflikten beschäftigt.
Im Jahr 2021 veröffentlichte er in der „ New York Review of Books“ den Lang-Essay „Ein Tag im Leben von Abed Salama“, ihn hat er 2023 zu einem Sachbuch erweitert, für das er den Pulitzer-Preis gewann. „Ein Tag im Leben von Abed Salama“ ist im Pendragon Verlag auf Deutsch erschienen. An diesem Montag, 19.30 Uhr, tritt Nathan Thrall gemeinsam mit Deborah Feldman im Literaturhaus Frankfurt auf. Es handelt sich um eine Hybridveranstaltung.
Vor ein paar Jahren schrieben Sie einen Aufsatz in der „London Review of Books“ mit dem Titel „Die Illusion der getrennten Regime“ („The Separate Regime Delusion“), wo Sie argumentierten, dass Israels Siedlungen und die Besatzung untrennbar mit dem Staat Israel verbunden sind. Vertreten Sie diesen Standpunkt noch immer?
Mehr noch, ich denke, dass der springende Punkt des Aufsatzes auch denjenigen, die diese Illusion der getrennten Regime bislang vertreten haben, immer klarer wird.
Inwiefern?
Die Illusion, die ich beschreibe, ist die Vorstellung, dass es so etwas wie eine Chinesische Mauer zwischen Israel und seiner Besatzung gibt. Dass die Siedlungen „außerhalb“ Israels liegen und das Gebiet unter israelischer Kontrolle in Wirklichkeit zwei getrennte Gebiete sind – ein guter demokratischer Staat in den Grenzen von vor 1967 und eine bedauerliche, aber vorübergehende Besatzung in Ost-Jerusalem, dem Westjordanland und Gaza. Die Gegenposition hierzu wäre zu sagen, dass es einen souveränen Staat zwischen dem Jordan und dem Mittelmeer gibt, der sieben Millionen Jüdinnen und Juden kontrolliert, die alle vollwertige Rechte haben, und sieben Millionen Palästinenser, von denen die meisten keine grundlegenden Bürgerrechte haben. Und dass Israel die Besiedlung palästinensischen Landes im gesamten Gebiet vorantreibt.
Und wo stehen Sie zwischen diesen zwei Position?
Ich denke, dass Israel in den verschiedenen Gebieten unterschiedliche Mittel von Kontrolle einsetzt. Was Israel im C-Gebiet des Westjordanlandes tut, unterscheidet sich von dem, was es im A- oder im B-Gebiet tut, was es in Jerusalem tut, und was es innerhalb der israelischen Grenzen von 1948 tut. Das kann niemand leugnen. Aber sagen wir deshalb, dass es keine Apartheid innerhalb der israelischen Siedlungen oder in den palästinensischen Stadtzentren gibt, sondern nur in den Landstrichen dazwischen? Niemand hat dieses dümmliche Argument in Südafrika angeführt. Niemand hat versucht, die Homelands, Townships und gemischten Gebiete in Zonen der Demokratie und in Zonen der Apartheid aufzuteilen. Wie heute in Israel gab es auch damals nur einen einzigen Souverän. In Israel werden heute auch in der Grenzen von 1948, etwa in palästinensischen Dörfern in der Negev, Häuser zerstört, um Platz für jüdische Siedlungen zu schaffen, genauso wie im Gebiet C des Westjordanlandes. Das Leben der Palästinenser in diesen Gebieten ist ziemlich ähnlich. Mit dem einzigen Unterschied, dass die eine Gruppe die israelische Staatsbürgerschaft besitzt und die andere nicht.
Sie sagen also, dass niemand außer Israel selbst in der Region Apartheid ausübt.
Exakt. Die Illusion der getrennten Regime wird oft von der zionistischen Linken vertreten, die argumentiert, dass die Unterdrückung der Palästinenser nicht vom demokratischen Israel ausgehe, sondern von den bösen Siedlern und der Armee. Das ist, offen gesagt, Bullshit. Alle Zweige der israelischen Regierung sind in den besetzten Gebieten tätig. Einer von zehn israelischen Juden lebt dort. Wenn Siedler wählen, müssen sie keine Briefwahl-Stimme abgeben. Es gibt ganze ministerielle Ausschüsse für Siedlungen. Das Verkehrsministerium pflastert die Straßen im Westjordanland, die israelischen Gesundheitsorganisationen sind dort aktiv, ebenso wie die Banken, Schulen, die Polizei und die Feuerwehr.
Der IGH hat jüngst verlautbart, dass die israelische Besatzung illegal ist. Die Mehrheit des Gerichts vertritt in ihrem Gutachten die Auffassung, dass Israel gegen eine UN-Konvention verstößt, die Apartheid verbietet. Glauben Sie, dass wir uns einem Konsens annähern, dass in Palästina Apartheid vorherrscht?
Wir sind tatsächlich sehr nah an einem Konsens. So gut wie alle israelischen Menschenrechtsorganisationen haben Erklärungen unterzeichnet, in denen es heißt, dass, was im Westjordanland geschieht, Apartheid ist. Ganz zu schweigen von den palästinensischen und internationalen Organisationen.
Der Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung, Felix Klein, sagte vor knapp einem Jahr, die Annahme, dass Israel Apartheid praktiziere, sei antisemitisch. Was sagen Sie dazu?
Will Deutschland den Richtern des IGH das Wort verbieten? Mehr als 1000 führende israelische und jüdische Wissenschaftler, die sich mit dem Holocaust, Jüdischen Studien und Antisemitismus beschäftigen, haben explizit gesagt, dass Israel Apartheid praktiziert. Welche Gruppe nach Muslimen und Arabern wird in Deutschland heute am stärksten mit falschen Vorwürfen von Antisemitismus belegt? Juden! Überall auf der Welt sind es Rechtsextreme, viele von ihnen eindeutig antisemitisch, die jüdischen Menschen vorschreiben, was sie über Israel sagen dürfen und was nicht. Die nicht-jüdische herrschende Klasse trennt somit vermeintlich gute Juden mit legitimen Äußerungen und vermeintlich schlechte mit illegalen, illegitimen Äußerungen. Wenn Deutschland Lehren aus seiner Vergangenheit ziehen will, wäre der erste Schritt, diese widerliche Praxis zu beenden.
Der Krieg gegen Gaza dauert weiterhin an, mit Zehntausenden zivilen Opfern. Glauben Sie, die Zweistaatenlösung liegt heute wieder auf dem Tisch?
Es wird wieder vermehrt von einer Zweistaatenlösung gesprochen und es gibt Bemühungen, so etwas wie eine Roadmap dafür zu entwerfen. Dies ist das Ziel der USA mit der saudischen Normalisierung. Aber daraus wird nichts werden.
Warum?
Weil die saudischen Normalisierungsversuche die Palästinenser nicht einbeziehen. Israel wird niemals zwei Staaten anstreben, es sei denn, es wird dazu gezwungen. Solange es keine Rechenschaftspflicht und keinen Preis gibt, ist es viel bequemer für Israel, seinen derzeitigen Weg fortzusetzen. Es wird echten Druck von außen brauchen. Druck, wie wir ihn bislang nicht sehen.
Wie geschwächt ist die israelische Linke in Ihren Augen?
Sie ist sehr schwach. Das konnte man schon bei den Protesten gegen die Justizreform vor dem 7. Oktober sehen. Wie viele Menschen sprachen dort über die Millionen Palästinenser, die unter israelischer Kontrolle ihrer demokratischen Rechte beraubt sind? Der Anti-Besatzungsblock war winzig. Auch jetzt ist die Zahl der Menschen, die einen Waffenstillstand und einen Rückzug aus Gaza fordern, sehr klein.
Glauben Sie, es gibt einen nennenswerten Impuls innerhalb Israels, in Gaza israelische Siedlungen wieder zu errichten?
Es gibt Ideologen in der Regierung, die dieses Ziel verfolgen. Innerhalb der Koalition haben sie enorme Macht. Die linksliberale Mitte und selbst das rechte Zentrum in Israel hingegen sehnen sich nicht danach. Sie finden in Ordnung, dass Palästinenser in Gaza weiterhin kontrolliert werden, genauso wie sie in Ordnung finden, dass die Palästinenser im Westjordanland kontrolliert werden. Sie fallen in das Lager von „Eyn Brira“ („Es gibt keine Wahl“). Sprich: Wir müssen sie kontrollieren, weil wir ihnen leider keine Staatsbürgerschaft und keinen Staat anvertrauen können. Sehen Sie sich die Argumente der Opposition an, als Israel begann, sich stärker in Richtung Annexion zu bewegen. Dabei ging es nicht um die Rechte der Palästinenser im Westjordanland. Das Argument lautete: „Das wird uns international schlecht aussehen lassen.“ Israels Oppositionsführer Yair Lapid sagte: „Das Jordantal ist jetzt ein Teil Israels. Es ist nicht so, als ob jemand droht, es uns wegzunehmen.“ Mit anderen Worten: „Wir haben es bereits de facto annektiert – warum es formell ankündigen?“
Diese Haltung erklärt alles, was man wissen muss.