MESOP MIDEAST WATCH FRANKFURTER BUCHMESSE:  WENIGSTENS EINER ! SLAVOJ ZIZEK SORGT FÜR TUMULT! / EIN BERICHT

Eklat bei Buchmesse: „Warten Sie damit, am Ende werden Sie nicht mehr klatschen“

Richard Kämmerlings

 

Eine besondere Frankfurter Buchmesse in besonders schlimmen Zeiten: Die Konflikte, die unsere Gegenwart durchziehen, werden bereits am ersten Abend fast bis zur Unerträglichkeit zugespitzt – als der Philosoph Slavoj Žižek eine Rede über den Hamas-Angriff auf Israel hält.

Es kommt zu Tumulten.

Das hatten sich die Slowenen so schön ausgedacht, diese Metapher von den „Waben der Worte“, dem „Honeycomb of Words“, wie das Motto ihres Gastlandauftritts auf der Frankfurter Buchmesse lautete. Man hatte die Staatspräsidentin Nataša Pirc Musar von den ältesten Schriftzeugnissen ihres Landes reden hören, ein virtuoses Duo hatte eine Art folkloristischen Free Jazz auf einer in Slowenien ausgegrabenen Neanderthalerflöte dargeboten, und eine Dichterin hatte sehr dicht, tja, über Dichtung gesprochen.

 

Und dann kam als letzter Redner der als philosophischer „Superstar“ aus Ljubljana angekündigte Slavoj Žižek an die Reihe und zerfetzte den so zarten, poetisch klingenden, assoziationsreichen Gedankenbau aus Wachs, Nektar und Buchstaben mit ein paar harten, wohlgesetzten Tatzenhieben wie ein hungriger Braunbär auf der Suche nach Honig.

Honigwaben? Welcher „Idiot“ habe das nur ausgewählt, fragte Žižek? Ein Bienenstaat sei „die totalitärste Gesellschaft, die man sich vorstellen kann“, was er mit einigen makabren Beispielen aus dem Paarungsverhalten der Bienenkönigin illustrierte.

Da herrschte noch recht große Heiterkeit im Publikum, was auch am Stil-Kontrast seiner Philippika zu den endlosen eröffnungsfeiertypischen Dank- und Selbstlobreden zuvor gelegen haben mochte. Doch Žižek hatte selbst beim euphorischen Begrüßungsapplaus gewarnt: „Warten Sie damit, am Ende werden Sie nicht mehr klatschen.“ Da sollte er mehr oder weniger recht behalten.

 

Slowenische Höhepunkte: Goran Vojnović, Drago Jančar, Maruša Krese

Von Beginn war die Eröffnungsfeier vom Dilemma geprägt, ein harmlos-gutgelauntes Buchbusiness-as-usual zu simulieren und zugleich die Terrorattacken auf Israel und die drohende Eskalation im Nahen Osten nicht auszublenden. Die tapfere, aber mit dieser Aufgabe deutlich überforderte junge Moderatorin versuchte es mit „dunklen Wolken“ und ähnlichen Klischees. Es ging zunächst lange um den Wert des Buchs, des Lesens an sich, der Begegnung mit anderen Standpunkten, der Möglichkeit der Teilhabe am kulturellen Leben durch Bildung und niedrigschwellige Zugänge („Kulturpass“!). All das hatte man schon oft gehört, und doch spürte man angesichts der Weltlage eine ungewöhnliche Dringlichkeit hinter den Phrasen von der Systemrelevanz des geschriebenen Worts für die Demokratie.

Eine gute Figur machten in der Eröffnungsrunde die Politiker. Die hessische Kulturministerin Angela Dorn (Grüne) kam von der Bedeutung von Büchern gleich auf antiisraelische Fake News, auf die unsägliche Täter-Opfer-Umkehr von Seiten der Hamas-Sympathisanten zu sprechen.

 

Und der Frankfurter Oberbürgermeister Mike Josef (SPD) machte klar: Dass eine Terrororganisation Israel angegriffen und unschuldige Menschen ermordet habe – „dazu darf es keine zwei Meinungen geben in diesem Land“. Die Solidarität mit der jüdischen Bevölkerung hierzulande habe oberste Priorität; die Einschränkung des Demonstrationsrechts für Leute, die das Existenzrecht Israels infrage stellten, sei natürlich gerechtfertigt.

 

Kurz: Die Buchmesse wurde als Ort auch kontroverser politischer Debatten angerufen, zugleich aber die Grenze demokratischer Meinungspluralität scharf markiert.

Ein extra Trampolin für Žižeks bewusste Provokationen

Claudia Roth, die in Vertretung des nach Israel gereisten Olaf Scholz gekommen war, legte mit der ihr eigenen flehend-pathetischen Rhetorik noch nach, beschwor das Abschlachten unschuldiger Menschen als „Angriff auf den Staat Israel, auf seine Kultur, seine offene Gesellschaft, die sich genau dort, wo sie angegriffen wurde, gegen niemanden richtete“. Für Menschen, die diesen Blutrausch feiern, „dürfe es keine Toleranz geben“, sagte die Kulturstaatsministerin, die sich in der Documenta-Debatte noch ihre Zögerlichkeit beim Umgang mit offensichtlichem Antisemitismus vorhalten lassen musste.

Als Roth dann in diesem Zusammenhang die „Freiheit des Denkens“, die „Vielfalt der Perspektiven“ und „neuen Sichtweisen“ lobte, die uns Bücher eröffneten, hatte sie noch einmal ein extra Trampolin errichtet, von der Slavoj Žižek dann wenig später seine bewussten Provokationen abspringen lassen konnte.

Auch er begann mit der Feststellung, ohne Bücher gebe es keine Lösung des schrecklichen „Gaza-Kriegs“. Aber der Philosoph, der gerade sehr prominent als Mitunterzeichner der „Westminster Declaration“ für das Recht auf freie Meinungsäußerung hervorgetreten ist, wollte auf etwas anderes hinaus, nämlich auf die aus seiner Sicht zu beobachtende Exklusion gerade von den zuvor so wortreich beschworenen fremden Perspektiven und neuen Gedanken.

 

Er verdamme zwar, so Žižek, den Angriff der Hamas bedingungslos, „ohne Wenn und Aber“, ebenso wie er Israel das „Recht der Selbstverteidigung“ zugestehe. Doch dann kam eben doch ein „Wenn“. Denn etwas sei seltsam: Wenn man eine „Analyse“ des „komplexen Hintergrunds der Situation“ fordere, werde man angeklagt, den Hamas-Terrorismus zu rechtfertigen oder zu unterstützen. „In welche Gesellschaft gehört dieses Analyseverbot?“, fragte er rhetorisch, um dann eben den totalitären, wabenhaft-gleichförmigen Bienenstaat der Gastlandplaner ins Spiel zu bringen.

 

Dann stellte er der Vernichtungsdrohung der Hamas gegen Israel verschiedene O-Töne der israelischen Regierung zur Siedlungspolitik gegenüber, geißelte die Besatzungspolitik und den Abschied von der Zwei-Staaten-Lösung. Žižek steigerte sich in einen rhetorischen Frontalangriff auf die israelische Politik, der so weit ging, die nun in der Trauer und der Krise gefundene nationale Einheit als „tragischen Moment“ zu bezeichnen.

„Relativismus!“, empört sich jemand aus dem Publikum

Für seinen Satz „Es wird keinen Frieden im Nahen Osten geben ohne eine Lösung der palästinischen Frage“ erhielt Žižek dann Zwischenapplaus, freilich nur von einem (kleineren) Teil des Publikums. Als er dann forderte, Palästinenserrechte ebenso zu verteidigen wie den Antisemitismus zu bekämpfen, brach offener Widerspruch los. Uwe Becker (CDU), der Antisemitismusbeauftragte des Landes Hessen, verwahrte sich vehement gegen den Vergleich von Hamas und Israel. „Relativismus!“, empörte sich jemand aus dem Publikum. Žižek konterte, jetzt würden die Zuhörer mal in der Praxis sehen, was es bedeute, Meinungsvielfalt auszuhalten, und bekam dafür wiederum Beifall. Ein Eklat, ein Abbruch der Veranstaltung schien da kurz bevorzustehen. Becker betrat sogar kurzzeitig mit Zwischenrufen die Bühne.

 

Da hatte OB Mike Josef den Saal schon demonstrativ verlassen; wo die Grenze der Meinungspluralität für ihn lag, war Thema seines Beitrags gewesen; er kam später zurück, um sich, während Žižek seine Rede fortführte, unter anderem mit Messechef Jürgen Boos über das weitere Vorgehen zu besprechen. Den oft schwer verständlichen historischen Ausführungen Žižeks, der seine Rede, wie später zu erfahren war, kurzfristig geschrieben hatte und über weite Strecken frei (auf Englisch) hielt, war in dieser aufgeheizten Atmosphäre kaum zu folgen. Der Redner war selbst hörbar aufgeregt und aufgebracht, was der Verständlichkeit zusätzlich abträglich war.

 

Es wurde erst wieder nachvollziehbarer (jedenfalls akustisch), als er auf die verschobene Preisverleihung an die palästinensische Autorin Adania Shibli einging, die ihn schockiert habe, ein klarer Fall von Cancel Culture. „Terror gegen Israel widerspricht allen Werten, für die die Frankfurter Buchmesse steht. Aber ebenso die Kollektivstrafe für Millionen in Gaza und das Canceln von Adania Shibli.“ Fast verzweifelt betont Žižek mehrfach am Schluss, dass er die Hamas-Massaker keineswegs relativieren oder rechtfertigen, das Existenzrecht Israels nicht anzweifeln wolle. Die Hamas wolle Israel auslöschen! Und doch bestand der Denker der Psyche trotzig auf seinem Analysezwang: „Wenn wir ignorieren, was in der Westbank geschieht, können wir die Lage nicht verstehen.“

 

So führte diese Messe-Eröffnung exemplarisch den Konflikt vor, wie eine Gesellschaft, die sich über Meinungsvielfalt und Diversität definiert, mit Positionen umgehen soll, die fundamentale Werte in Frage stellen, wie die bedingungslose Solidarität mit Israel und die Verurteilung von Judenhass in jeder Form. Dass es in Frankfurt offenen Widerspruch und lautstarke Buhrufe gegeben hat, war Beweis für eine lebendige Zuhörerschaft, die für ihre Überzeugungen einsteht.

 

Jürgen Boos ergriff am Ende noch einmal das Wort, betonte die „Freiheit des Worts“ und sprach stellvertretend für die „Gemeinde“ (das sagte er wirklich!), seine Stimme drohte dabei zu brechen. „Wir verurteilen den Terror. Wir sind Menschen und wir denken menschlich. Menschlich auf israelischer Seite, auf palästinischer Seite.“ Er sei Žižek dankbar dafür, die „Abgründe in uns allen“, aufgezeigt zu haben. „Ich bin froh, wenn eine Rede unterbrochen wird, das muss möglich sein. Ich bin froh, dass wir die Rede zu Ende gehört haben, auch wenn sie uns nicht gefallen mag, sie vielleicht sogar verurteilen. Es ist wichtig, dass wir uns zuhören.“

Die Frankfurter Buchmesse 2023 hat begonnen, es wird eine besondere Messe in besonders schlimmen Zeiten. Man kann ihr jedenfalls nicht vorwerfen, dass in irgendeinem Elfenbeinturm stattfände. Die Konflikte, die unsere Gegenwart durchziehen, wurden an diesem ersten Abend fast bis zur Unerträglichkeit zugespitzt, vermutlich war es nicht das letzte Frankfurter Wortgefecht.

 

Der Geist der Bücher ist ein Widerspruchsgeist. Die Messe ist eine gute Übung, ihn zu schärfen.