MESOP MIDEAST WATCH EINSICHTEN : Kurden im Irak Übersicht

Flagge der Autonomen Region Kurdistan im Irak.

 

Die Kurden stellen mit mindestens acht Millionen zwischen 15 und 20 Prozent der Gesamtbevölkerung des Irak, der damit nach der Türkei und dem Iran das Land mit dem drittgrößten kurdischen Bevölkerungsanteil der Welt ist. Die Kurden sind die größte ethnische Minderheit des Irak. Der Großteil lebt in der Autonomen Region Kurdistan im Norden des Landes, die aus den Provinzen Sulaimaniyya, Erbil (hier liegt auch die gleichnamige Hauptstadt der Autonomieregion), Dahuk und Halabdscha besteht.

Die kurdische Region um Mossul hätte nach dem Ersten Weltkrieg laut dem Vertrag von Sèvres Teil einer kurdischen Autonomie mit Aussicht auf spätere staatliche Unabängigkeit werden sollen, doch dieses Vorhaben wurde nie Realität. Stattdessen wurde Mosul 1920 dem britischen Mandatsgebiet Mesopotamien zugeschlagen, aus dem 1921 das Königreich Irak hervorging. Im Vertrag von Lausanne (1922), der denjenigen von Sèvres ersetzte, war von kurdischer Autonomie oder gar einem kurdischen Staat keine Rede mehr. 1932 erlangte der Irak schließlich die volle Unabhängigkeit von Großbritannien.

Aufstände

Die britisch-irakische Herrschaft wurde in mehreren kurdischen Aufständen (1919/1920, 1931–1937) herausgefordert, deren Anführer dem Barzani-Clan entstammten, dem es gelungen war, verschiedene kurdische Clans unter ihrem Kommando zu vereinen. Nach dem Zweiten Weltkrieg setzte sich Mustafa Barzani, der Chef der 1946 gegründeten Kurdischen Demokratischen Partei (KDP) gemeinsam mit dreitausend Peschmergas in den Iran ab, wo er die nur kurz existierende Republik Kurdistan unterstützte und Kommandant von deren Armee wurde. Nach der Zerschlagung der Republik durch den Iran ging Barzani ins Exil in die Sowjetunion.

Der Sturz des Königreichs 1958 und die Ausrufung der Republik führten Barzani zurück in den Irak, wo er beim neuen Herrscher Abd al-Karim Qasim zunächst hoch im Kurs stand, sich alsbald aber mit diesem über strittige kurdische Rechte überwarf. Nach einem erneuten mehrjährigen Aufstand ab 1961, in dessen Verlauf die irakische Regierung fast 1.300 kurdische Dörfer niederbrennen ließ, wurde 1970 ein Friedensabkommen geschlossen, in dem das Prinzip einer Autonomie für die Kurden verankert wurde. Umgesetzt wurde dieses Abkommen allerdings nicht, praktisch wurde es durch eine versuchte Arabisierung ölreicher Regionen im Kurdengebiet durch die irakische Regierung konterkariert.

1974 erhoben sich die Kurden unter abermaliger Führung Barzanis erneut gegen die Zentralregierung, unterstützt nicht zuletzt durch den Iran, der seinerseits einen langjährigen Konflikt mit dem Irak über den Grenzverlauf am Fluss Schatt el Arab führte (der Irak unterstützte im Gegensatz kurdische Gruppen im Iran). Die Beilegung dieses Streits mit dem iranisch-irakischen Abkommen von Algier, mit dem im März 1975 der Grenzverlauf vereinbart wurde, enthielt auch die Verpflichtung zur gegenseitigen Nichteinmischung in innere Angelegenheiten. Der Iran entzog daraufhin Barzani und seiner KDP die Unterstützung, worauf der kurdische Aufstand kollabierte. Die Mitglieder der Partei hatten die Wahl, sich der Zentralregierung zu ergeben oder ins Exil in den Iran zu gehen.

Barzani und zahlreiche Anhänger wählten den zweiten Weg, woraufhin der KDP im Irak mit der Patriotischen Union Kurdistans (PUK) unter der Führung des Talabani-Clans ein ernsthafter politischer Rivale erwuchs. Die bisweilen auch gewalttätig ausgefochtene Konkurrenz von KDP und PUK ist bis heute eines der wesentlichen Charakteristika kurdischer Politik im Irak.

Arabisierung, Giftgas, Völkermord

Die irakische Regierung setzte nach dem Kollaps des kurdischen Aufstands ihre Arabisierungspolitik in kurdischen Gebieten aggressiv fort. Wieder wurden zahlreiche kurdische Dörfer niedergebrannt. Allein zwischen 1975 und 1978 wurden zweihunderttausend Kurden in andere Gegenden des Landes zwangsdeportiert.

Ihren grausamen Höhepunkt erreichte diese Politik zwischen 1986 und 1988 in der sogenannten Anfal-Kampagne, einer Folge von acht aufeinander abgestimmten Offensiven, die von den Vereinten Nationen offiziell zum Völkermord erklärt wurden. Auf militärische Angriffe folgte die Inhaftierung der Bevölkerung in Lagern; Männer in wehrfähigem Alter wurden von Erschießungskommandos ermordet, die Übriggebliebenen in andere Landesteile deportiert; mehrere Tausend Dörfer (fast 90 Prozent aller kurdischen Orte in den betroffenen Gebieten) dem Erdboden gleichgemacht.

Ab April 1987 setzte die irakische Armee bei ihren Bombardements kurdischer Ortschaften auch Giftgas ein. So geschehen etwa am 16. März 1988 in Halabdscha, wo die über der Stadt abgeworfenen Giftgase zwischen 3.200 und 5.000 Menschen töteten, drei Viertel davon Frauen und Kinder. Insgesamt sind der Anfal-Kampagne zwischen 100.000 und 185.000 Menschen zum Opfer gefallen, zum überwiegenden Teil Kurden.

Autonomes Kurdistan

Nach der Niederlage Saddam Husseins im Zweiten Golfkrieg 1991 gab es im Irak zahlreiche Aufstände. Im Süden erhoben sich Schiiten, im Norden waren es erneut Kurden, die gegen die Diktatur aufstanden. Während die sogenannte internationale Gemeinschaft nicht intervenierte, als Saddam Hussein die schiitischen Proteste blutig niederschlagen ließ, verhängten mehrere Staaten unter der Führung der USA im Norden des Landes eine Flugverbotszone, um irakische Luftangriffe auf die Kurden zu verhindern.

Motiviert war die Errichtung der Flugverbotszone nicht von der Parteinahme für die Kurden, sondern um die Massenflucht von Irakern in die Türkei zu beenden, indem den Menschen im Nordirak ein einigermaßen sicheres Zufluchtgebiet geboten wurden.

Unter diesem Schutzschirm konnten die Kurden zwar nicht vollständig unabhängig werden, aber unter der Kurdischen Regionalregierung eine demokratische und vergleichsweise prosperierende Autonomie aufbauen. Interne Konflikte führten 1996 zu einem zwei Jahre anhaltenden Bürgerkrieg zwischen der KDP, die in diesem Fall mit der Zentralregierung kooperierte, und der PUK, die Unterstützung vom Iran erhielt. Fast zehn Jahre lang blieb die Region zwischen den beiden Parteien gespalten.

Im Irakkrieg 2003 standen die irakischen Kurden auf der Seite der USA und ihrer Alliierten. Im kurdischen Autonomiegebiet ist der 9. April, der Tag, an dem US-Soldaten 2003 Bagdad einnahmen, ein offizieller Feiertag.

In der neuen Verfassung, die nach dem Sturz Saddam Huuseins erlassen wurde, wurde die Autonomie der Kurden im Irak – erstmals – ausdrücklich festgeschrieben. In den folgenden Jahren blieb Irakisch-Kurdistan im Vergleich zu anderen Teilen des Landes ein Hort des Friedens und der Stabilität. Seit 2004 bekleideten darüber hinaus mit Dschalal Talabani (2004–2014), Fuad Masum (2014–2018) und Barham Salih (seit 2018) drei PUK-Politiker das Amt des Präsidenten des Irak.

Nach dem Vormarsch der Terrorgruppe Islamischer Staat 2014, im Zuge dessen unter anderem die zwischen den Kurden und der Zentralregierung umstrittene Provinz Ninawa und deren Hauptstadt Mossul vom IS überrannt wurden, waren die Kurden mit ihrer Peschmerga-Miliz eine der wichtigen Kräfte im Kampf gegen die Islamisten. Über eine Million irakische Binnenvertriebene und eine Viertelmillion geflüchteter Syrer fanden Schutz im Gebiet der Kurdischen Regionalregierung – eine enorme Herausforderung für ein Land mit einer Bevölkerung von rund 5,5 Millionen Menschen.

Ein im September 2017 von der Kurdischen Regionalregierung abgehaltenes Referendum über eine Unabhängigkeit vom Irak brachte ein deutliches Votum für die Unabhängigkeit, wurde aber von den USA und den umgebenden Staaten aus Furcht vor der Beispielwirkung abgelehnt und vom irakischen Verfassungsgericht für verfassungswidrig erklärt. Die Zentralregierung nahm das Referendum zum Anlass, jene umstrittenen Gebiete unter ihre militärische Kontrolle zu bringen, die zwar mehrheitlich von Kurden bewohnt werden, aber nicht zum Territorium der Kurdischen Regionalregierung gehören, allen voran Kirkuk, das Zentrum der irakischen Ölindustrie.

Schon seit den 1990er Jahren unternimmt die Türkei immer wieder militärische Vorstöße im Nordirak, um dort gegen die PKK vorzugehen. Auch der Iran geht im kurdischen Nordirak immer wieder militärisch gegen Stützpunkte iranisch-kurdischer Gruppen wie der Demokratischen Partei Kurdistan-Iran vor, so etwa auch infolge der im September 2022 im Iran losgebrochenen Massenproteste gegen die Diktatur der Mullahs. Das Regime macht u.a. kurdische Parteien dafür verantwortlich, die Proteste organisiert zu haben.

Doch das iranische Regime nimmt im kurdischen Autononmiegebiet nicht nur kurdische Stellungen ins Visier. Als Rache für die Ermordung des für Auslandsoperationen der iranischen Revolutionsgarden zuständigen Qassem Soleimani zum Jahresbeginn 2020 am Bagdader Flughafen durch einen amerikanischen Drohnenangriff beschoss der Iran in der Nacht vom 7. auf den 8. Januar eine Luftwaffenbasis nahe Erbil, auf der auch amerikanische Truppen stationiert waren.