MESOP MIDEAST WATCH : Brief aus Istanbul- Erdoğan setzt nun auf Assad

  • Von Bülent Mumay 25.08.2022- Der türkische Präsident hat einen neuen Plan, wie er die Wahl doch noch gewinnen will: Krieg gegen die Kurden und Schulterschluss mit Syriens Machthaber.

Erdoğans Partei AKP, die ihn ein Jahr nach der Gründung an die Regierung brachte, feierte kürzlich ihr einundzwanzigjähriges Bestehen. Diesmal fehlte den Feierlichkeiten allerdings die frühere Euphorie. Es gab weder Ovationen, die Erdoğans Rede unterbrachen, noch begeisterten Applaus. Erdoğans Fähigkeit aber, Realitäten ins Gegenteil zu verkehren, hat kein Gran abgenommen. Er schloss seine Rede, in der er die 21 Jahre als große Erfolgsgeschichte zusammenfasste, mit den Worten: „Jeder, der seine Hand aufs Herz legt, wird zugeben, dass die heutige Türkei im Vergleich zu der vor 21 Jahren demokratischer und freier und von Chancengleichheit geprägt ist.“

Erdoğan sprach, als handele es sich bei dem Land, in dem laut Länderbericht 2022 der Bertelsmann-Stiftung Demokratie und Rechtsstaat in der letzten Dekade am stärksten zurückgegangen sind, nicht um die Türkei. Oder als würden wir nicht in der Türkei leben, von der er sprach, oder als erzählte er von dem Tausend-Zimmer-Wunderland. Etliche Fernsehsender übertrugen Erdoğans Rede live, darunter lief im Nachrichten­ticker folgende Meldung: „Gegen die Istanbul-Vorsitzende der (größten Oppositionspartei) CHP, Canan Kaftancioglu, wird wegen Beleidigung Erdoğans ermittelt, weil sie gesagt hatte: ‚Wir werden auf demokratischem Weg einen Diktator aus diesem Land schicken.‘“

Im Tausend-Zimmer-Wunderland

In der Woche, da Erdoğan in seiner Traumwelt ein rosarotes Bild von der Türkei zeichnete, folgte ein die Grenzen der Autokratie austestender neuer Zensurbeschluss auf den anderen. Der Kampf gegen digitalen Journalismus ist in die Welt der Unterhaltung übergesprungen. Nachdem die Deutsche Welle verboten worden war, kam die Reihe nun an digitale Plattformen. Gegen Spotify wurde eine Untersuchung eingeleitet, weil in Playlisten Respektlosigkeit gegen „Persönlichkeiten der Staatsführung“ begangen worden sei. Man muss wohl nicht ausführen, um wen es sich hier handelt. Auch wird gegen einen Youtube-Kanal mit mehr als einer Million Abonnenten wegen Erdoğan-Darstellungen ermittelt. Und auf Netflix wurde ein Zeichentrickfilm zensiert, weil er angeblich Homosexualität fördere.

So geht es in dem Land zu, das Erdoğan „demokratischer und freier“ nennt. Und wo er von Chancengleichheit spricht, gibt es Aufrufe, die einer Taliban-Regierung in nichts nachstehen. Ein religiöser Fernsehsender, den Erdoğan mit Steuergeldern einrichten ließ, empfahl Frauen, keine Hosen zu tragen. In dem von der staatlichen Religionsbehörde Diyanet geleiteten Sender sprach ein Theologe, der wiederum von unseren Steuergeldern finanziert Fatwas erlässt: „Hosen sind sehr eng. Es ist nicht zu billigen, dass Frauen damit in der Öffentlichkeit in Erscheinung treten.“

„Wir beneiden in Dokumentarfilmen die Löwen um ihr Fleisch“

Nicht bloß die Freiheit ist bei uns geschrumpft, auch die Arbeit und unser Auskommen. In einer Stadt in Anatolien bewarben sich 1948 Personen auf eine einzige freie Stelle als Reinigungskraft. In den letzten beiden Jahren ist der Fleischkonsum um nahezu die Hälfte gesunken. Ein Rentner klagte bei einer Straßenumfrage, bei ihnen gebe es kein Fleisch mehr in der Küche, wörtlich sagte er: „Wir beneiden in Dokumentarfilmen die Löwen um ihr Fleisch.“ Uns fehlen sogar die Mittel, für unsere grundlegenden Ausgaben aufzukommen. In den ersten neun Monaten 2021 konnten 400 Millionen Rechnungen für Gas und Strom nicht bezahlt werden. Jetzt naht wieder die kalte Jahreszeit, entsprechend steigt die Sorge. 73 Prozent der Bürger sehen Schwierigkeiten beim Bezahlen ihrer Rechnungen auf sich zukommen.

Glauben Sie, die Leute, denen eine Freiheit nach der anderen genommen wird und die täglich ärmer werden, würden dafür nicht die Regierung zur Rechenschaft ziehen? Sie wissen sehr genau, dass Erdoğan, der Alleinentscheider, verantwortlich ist. Das spiegelt sich in einer neuen Umfrage, weniger als ein Jahr vor den Wahlen im kommenden Jahr, wider: Von einem Sieg für Erdoğan ist da nichts zu sehen. Er weiß selbst, dass er gehen muss, wenn nicht noch ein Wunder geschieht. 60 Prozent der Bevölkerung sagen, sie würden Erdoğan „auf keinen Fall“ wählen. Nur halb so viele erklären, sie gäben ihm auf jeden Fall ihre Stimme. Zwei von drei Wählern im Land sind gegen Erdoğan. Er weiß, dass er nicht mit der Stimme von nur einem von drei Wählern im Amt bleiben kann, und hat einen neuen Plan ausgetüftelt.

Dieser Plan basiert auf Erdoğans bekannter Taktik, in der Diplomatie eine 180-Grad-Wende zu vollziehen. Allerdings sieht diese Wende ganz anders aus als die vorangegangenen. Es geht nicht darum, Deutschland an seine NS-Vergangenheit zu erinnern, um Stimmen zu sammeln, und nach den Wahlen Merkel mehrfach auf goldenem Sessel zu empfangen. Auch nicht darum, Israel vorzuwerfen, man sei dort gut im Ermorden von Kindern, um anschließend mit Schiffen seines Sohnes Erdöl dorthin zu verschiffen. Ich spreche auch nicht davon, dass er die Vereinigten Arabischen Emirate bezichtigte, den Putschversuch von 2016 gegen sich gesponsert zu haben, um kurz darauf dorthin zu reisen. Diesmal dreht Erdoğan an einem größeren Rad. Er schickt sich an, mit einem Land, gegen das er mit Worten wie mit Taten Krieg führt, Frieden zu schließen.

Einer der Hauptakteure im syrischen Krieg

Als 2011 der Krieg in Syrien ausbrach, machte Erdoğan die Türkei zu einem der Hauptakteure. Nach Russland, das die Regierung in Damaskus zu Hilfe rief, und den USA, die als Schutzmacht der kurdischen Kräfte agieren, hat die Türkei die meisten Sicherheitskräfte vor Ort. Auf einen Schlag erklärte Erdoğan Präsident Assad, den er bis 2011 als seinen „Freund“ bezeichnet hatte, zum Feind. Und wir begannen einen Stellvertreterkrieg in Syrien, dem Land, mit dem uns die längste Grenze verbindet. Unter dem Vorwand, gegen den IS und gegen die kurdischen Kräfte, die eine autonome Region errichtet hatten, zu kämpfen, ließen wir Assad-Gegner eine Armee aufstellen, die größtenteils aus radikalen Islamisten besteht. Erdoğans imperiale Ambitionen erreichten einen Höhepunkt, 2012 drohte er Assad gar: „Wir werden in der Omayyaden-Moschee in Damaskus beten.“ Und 2015 sagte er offen: „In Syriens Zukunft ist kein Platz für Assad.“ Den Vorwand, gegen den IS und die Kurden-Regierung zu kämpfen, ließ er 2016 fallen und die Katze aus dem Sack: „Wir sind da reingegangen, um die brutale Assad-Herrschaft zu beenden.“

Nach elf Jahren ändert sich nun die Syrienpolitik der Türkei, für die sie sowohl materiell wie auch ideell einen hohen Preis bezahlt hat. Wie kommt nun Erdoğan dazu, heute zu sagen: „Wir haben nicht vor, Assad zu besiegen“? Aus einem einfachen Grund: Er kann die Wirtschaft nicht in kürzester Zeit wieder auf die Beine bringen, um die Unter- und Mittelschichten zurückzugewinnen. Es gibt aber zwei Dinge, die er tun kann, um fünf weitere Jahre im Palast zu bleiben, und beide hängen mit Syrien zusammen.

Erstens sich mit Putins Zustimmung mit Assad verständigen und eine größere Militäroperation gegen die kurdische Führung in Nordsyrien durchführen. Damit könnte er die durch die Wirtschaftskrise verlorenen Wähler in einer Welle des Nationalismus hinter sich scharen. Er weiß, dass das gegen ihn aufgestellte Oppositionsbündnis einem Militäreinsatz, der als „Verhinderung der Errichtung eines kurdischen Staates in unserem Süden“ verpackt wäre, nicht widersprechen würde. Damit würde er zugleich einen Keil zwischen den oppositionellen Block und die HDP, die Partei der Kurden in der Türkei, treiben, die gegen eine solche Aktion protestieren würde. Zweitens etwas in Sachen Flüchtlingskrise unternehmen, die in der Türkei als größtes Problem nach der Wirtschaftskrise angesehen wird, und sei es zum Schein. Dazu könnte er sich wiederum mit Assad verständigen und einen Teil der Syrer, von denen sich offiziellen Angaben zufolge 3,6 Millionen in der Türkei aufhalten, tatsächlich aber doppelt so viele, zurückschicken. Damit würde er der mit der Wirtschaftskrise weiter gestiegenen Flüchtlingsfeindlichkeit den Schwung nehmen.

Würde Assad der Türkei erlauben, gegen die syrischen Kurden im Norden vorzugehen? Würde er einem Frieden zustimmen, der Erdoğan, der ihn jahrelang bekämpft hat, fünf weitere Jahre im Präsidentenpalast sichert? Bekanntermaßen existiert auf den Fluren der Di­plo­matie das Wort Zuverlässigkeit nicht, im Zuge sich wandelnder Interessen sind rote Linien im Handumdrehen aufgehoben. Nehmen wir einmal an, sie verständigen sich: Würde dieser Plan, den Erdoğan gemeinsam mit Russland umsetzen will, etwas nützen? Zöge Erdoğans Syrien-Spekulation einen Sieg nach sich? Ich bin weder Diplomat noch Glücksspieler, stattdessen ein unverbesserlicher Realist. Solange wir Fleisch nur in Dokumentarfilmen, nicht aber auf unserem Teller sehen, wird kein Krieg und keine Zwangsmigration Erdoğan weitere fünf Jahre im Palast bescheren.