MESOP MIDEAST WATCH : AUFARBEITUNG  DURCH GHAZA BLUT?  – Deutsche Israel-Politik: Die falschen Lehren aus der Vergangenheit

Deutschland ist auf einen gefährlichen Konfrontationskurs mit Meinungsfreiheit geraten. Das erinnert an die McCarthy-Ära. Ein Gastbeitrag. – Fabian Scheidler BERLINER ZEITUNG – 22.04.2024 |

Wenn man mir vor einigen Jahren vorausgesagt hätte, was sich heute zum Thema Israel und Gaza in Deutschland abspielt, hätte ich das für eine dystopische Fantasie gehalten.

Eine deutsche Regierung aus Sozialdemokraten, Grünen und Liberalen sichert einem Staat bedingungslose militärische und diplomatische Unterstützung zu, der sich gerade vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag wegen des Verdachts auf Völkermord verantworten muss – ein Verdacht, den das Gericht selbst als „plausibel“ einstuft. International renommierte Intellektuelle und Künstler – darunter auch jüdische Stimmen –, die sich für Menschenrechte und Völkerverständigung einsetzen, werden aus Deutschland ausgeladen, ihre Gastprofessuren abgesagt, ihre Preisverleihungen gecancelt, darunter Nancy Fraser, Laurie Anderson und Masha Gessen.

Ihr Verbrechen: Die ausführlich dokumentierten Kriegsverbrechen und Menschenrechtsverletzungen in Gaza beim Namen zu nennen und das zu fordern, was auch die UN-Vollversammlung mit überwältigender Mehrheit verlangt: Einen sofortigen und dauerhaften Waffenstillstand, um das besinnungslose Töten in Gaza zu beenden. Inzwischen sind mehr als 34.000 Menschen, darunter 13.000 Kinder, den Bombardements zum Opfer gefallen, eine Hungerkatastrophe zeichnet sich ab.

Die Liste der Geächteten ist damit noch lange nicht beendet, sie wächst fast täglich weiter. Die Filmemacher Yuval Abraham aus Israel und Basel Adra aus Palästina, die für ihren Film „No Other Land“ über Vertreibungen in der Westbank den Dokumentarfilmpreis der Berlinale erhielten, wurden von Politik und führenden Medien des Antisemitismus bezichtigt, weil sie ein Ende der deutschen Waffenlieferungen an Israel forderten, die sich während des Krieges verzehnfacht hatten. Und weil sie es wagten, das Wort „Apartheid“ in den Mund zu nehmen, das die beiden weltweit führenden Menschenrechtsorganisationen Amnesty International und Human Rights Watch seit Jahren in Bezug auf Israel anwenden, nachdem sie dazu langjährige gründliche Studien vor Ort durchgeführt haben. Wer sich heute in Deutschland auf die UN, das Völkerrecht und anerkannte Menschenrechtsorganisationen beruft, wird zur Persona non grata, zum Israelhasser, zum Antisemiten erklärt.

 „Palästina-Kongress“ in Berlin: Einreise- und Betätigungsverbote

Und nicht nur das: Er hat inzwischen sogar mit einem Einreise- und Betätigungsverbot zu rechnen, wie etwa der ehemalige griechische Finanzminister Yanis Varoufakis und der weltweit renommierte britisch-palästinensische Chirurg und Rektor der Universität Glasgow, Ghassan Abu-Sittah, der am Berliner Flughafen mehrere Stunden festgehalten und dann zurückgeschickt wurde. Sittah hatte im Oktober und November für Ärzte ohne Grenzen im inzwischen zerstörten Al-Schifa-Hospital in Gaza während der ersten Phase der Bombardierungen gearbeitet und dem Internationalen Gerichtshof im Januar über seine Erfahrungen Bericht erstattet. Er und Varoufakis waren für den 12. bis 14. April zu einer Palästina-Konferenz in Berlin eingeladen, an der auch zahlreiche jüdische Teilnehmer beteiligt waren.

Der dreitägige Kongress wurde allerdings nach zwei Stunden von der Polizei abgebrochen, die kurzerhand den Strom abstellte. Offizielle Begründung: das Streamen eines Onlinebeitrags des 87-jährigen palästinensischen Forschers und Autors Salman Abu Sitta. Über Sitta war wenige Tage zuvor ein Betätigungs- und Einreiseverbot verhängt worden, weil er in einem Artikel bemerkt hatte, dass er als junger Mann zu denen gehört haben könnte, die am 7. Oktober 2023 den blutigen Hamas-Anschlag auf Israel verübt haben. Auf welcher Rechtsgrundlage man einen ganzen Kongress abbrechen kann, weil ein einzelner Redner per Videobotschaft fragwürdige Äußerungen von sich gibt, bleibt ein Geheimnis der Behörden.

Während laut Umfragen 69 Prozent der Deutschen das israelische Vorgehen in Gaza nicht für gerechtfertigt halten, setzt die Politik weiter auf eine bedingungslose Unterstützung Israels. Dabei geht sie immer brachialer gegen Kritiker vor und begibt sich auf einen gefährlichen Konfrontationskurs mit der Meinungsfreiheit und völkerrechtlichen Standards. Deutschland droht auf diese Weise immer weiter in eine repressiv-autoritäre Ordnung abzurutschen.

Die deutsche Regierung steht isoliert da

Aus internationaler Perspektive ist Deutschland ohnehin längst dabei, seinen Ruf gründlich zu verspielen. Das äußert sich nicht zuletzt in der Klage Nicaraguas gegen Deutschland wegen Beihilfe zum Völkermord vor dem Internationalen Gerichtshof, ein Prozess, der im Globalen Süden auf breite Unterstützung gestoßen ist. Angesichts einer um sich greifenden Cancel Culture gegenüber israelkritischen Veranstaltungen wenden sich auch zunehmend internationale Künstler und Intellektuelle von Deutschland ab. Die französische Literaturnobelpreisträgerin Annie Ernaux etwa schloss sich einer Initiative an, die zum Boykott von staatlichen deutschen Kultureinrichtungen aufruft, weil Deutschland eine Politik im „McCarthy-Stil“ betreibe, welche die freie Meinungsäußerung unterdrückt.

Als Begründung für die Irrfahrt der Bundesregierung wird immer wieder gesagt, dass Deutschland aufgrund seiner Geschichte fest an der Seite Israels stehen müsse.

Aber kann es die richtige Lehre aus dem größten Verbrechen der Menschheitsgeschichte sein, gegen Völkerrecht, Menschenrechte und Meinungsfreiheit Stellung zu beziehen? Ist es die richtige ethische Konsequenz, einem bestimmten Staat ewige und bedingungslose Solidarität zuzusichern, vollkommen unabhängig davon, wer diesen Staat regiert (im Falle Israels sind es gegenwärtig Rechtsextreme) und was sie tun? Muss unsere Solidarität nicht vielmehr den betroffenen Menschen gelten, und zwar den 1200 israelischen und den 33.000 palästinensischen Opfern gleichermaßen? Folgt nicht aus der Schuld der Vergangenheit, dass gerade deutsche Regierungen die Rechte von Menschen ungeachtet ihrer Herkunft, Nationalität, Hautfarbe und Religion vor Verfolgung, Traumatisierung und Tod schützen sollten? Warum aber wird den Menschen in Gaza dieser Schutz von der deutschen Politik nicht zuteil? Warum werden diejenigen, die für diese Rechte eintreten und weiteres Töten verhindern wollen, geächtet und aus der deutschen Öffentlichkeit verbannt? Wahrheit und Recht stehen in Deutschland derzeit auf dem Kopf und die übrige Welt schaut kopfschüttelnd zu.

Fabian Scheidler studierte Geschichte und Philosophie und arbeitet als freischaffender Autor für Printmedien, Fernsehen und Theater. 2015 erschien sein Buch „Das Ende der Megamaschine. Geschichte einer scheiternden Zivilisation“, das in mehrere Sprachen übersetzt wurde, gefolgt von „Chaos. Das neue Zeitalter der Revolutionen“ (2017). 2021 erschien im Piper-Verlag „Der Stoff, aus dem wir sind. Warum wir Natur und Gesellschaft neu denken müssen“. Fabian Scheidler erhielt 2009 den Otto-Brenner-Medienpreis für kritischen Journalismus.

www.fabian-scheidler.de