MESOP : Interview mit Masud Barzani – «Kurdistan ist reif für die Unabhängigkeit»

 – von Inga Rogg, Suheil 23.5.2016, NEUE ZÜRCHER ZEITUNG

Der kurdische Regionalpräsident Masud Barzani fordert eine Neuordnung der Grenzen. Ein Gespräch über den kurdischen Unabhängigkeitstraum und den Kampf gegen die IS-Extremisten.

Triumphierend verkündeten die Kämpfer des Islamischen Staats (IS) im Juni 2014 das Ende der Grenzen von «Sykes-Picot», jenem im Ersten Weltkrieg von Grossbritannien und Frankreich geschlossenen Geheimabkommen, mit dem die beiden Kolonialmächte ihre Interessengebiete im Nahen Osten absteckten. Nicht nur der Irak und Syrien, sondern die gesamte nahöstliche Staatenordnung, die nach 1918 auf den Trümmern des Osmanischen Reichs entstand, sei dem Ende geweiht, verkündete kurz darauf IS-Chef Abu Bakr al-Baghdadi. Baghdadis Kalifat ist seitdem geschrumpft. Aber die Zukunft sowohl des Iraks wie Syriens scheint ungewisser denn je.

Auf einem Hügel rund 40 Kilometer nördlich von Baghdadis Herrschaftsgebiet hat Masud Barzani, Präsident des kurdischen Teilstaats im Nordirak, seine Kommandozentrale aufgeschlagen. Wenn auch aus anderen Gründen als die Jihadisten, die er bekämpft, will auch Barzani die Grenzen neu ziehen. «Das Sykes-Picot-Abkommen mag zu seiner Zeit gut gewesen sein. Aber heute ist klar, dass es ein Fehlschlag war, ein hundertjähriger Fehlschlag», sagt Barzani im Gespräch. «Die Grenzen wurden im Namen der Grossmächte gezogen. Aber in der Praxis existieren sie heute nicht mehr. Es ist an der Zeit, dass die anderen dies anerkennen und diese Realität akzeptieren.»

Friedliche Lösung

Im Abkommen, das der britische Diplomat Mark Sykes und sein französischer Kollege François Georges-Picot am 16. Mai 2016 besiegelten, wurden zwar nicht die heutigen Grenzen gezogen. Diese kamen erst in den Konferenzen und Verträgen, die noch folgten, zustande. Für die Kurden ist «Sykes-Picot» heute aber das Synonym für die Aufteilung von Kurdistan auf die Staaten Türkei, Iran, Irak und Syrien. In Dutzenden von Aufständen haben sie sich gegen die Unterdrückung in diesen Ländern erhoben. Man könne verschiedene Völker nicht zwingen, gegen ihren Willen zusammenzuleben», sagt Barzani. «Jedes Volk hat seine natürlichen Grenzen. Grenzen, die mit Gewalt gezogen wurden, sollten nicht mehr länger gelten.» Der 69-Jährige, der uns in Peschmerga-Uniform und dem rot-weissen Turban seines Stammes begrüsst, hat viele Schlachten geführt. Diese will er aber nicht mit Waffen, sondern mit friedlichen Mitteln gewinnen. «Man sollte die Völker fragen: Wollt ihr zusammenleben? Wollt ihr euch trennen und die Grenzen entsprechend ziehen?», sagt Barzani. «Keine Lösung sollte erzwungen werden. Jede neue Lösung sollte durch ein Referendum zustande kommen.» Alles andere würde nur zu einem weiteren hundertjährigen Scheitern führen, so Barzani.

Sosehr die Kurden zum Spielball fremder Mächte wurden, so sehr scheiterten sie mit ihrem Streben nach Autonomie oder Unabhängigkeit freilich auch an den Machtkämpfen untereinander. Die eine kurdische Nation gibt es im Grunde genommen nicht. Neben historischen Erfahrungen trennen sie verschiedene Dialekte, mit denen sie sich untereinander teilweise kaum verständigen können, Stammesloyalitäten und Ideologie und Politik der führenden Parteien. Dem trägt auch Barzani Rechnung, wenn er sagt: «Natürlich würden wir es begrüssen, wenn unsere Nation von 40 bis 50 Millionen einen eigenen Staat hätte. Aber wir müssen der Realität ins Auge sehen. Wir sind vier Teile. Jeder hat seine eigenen Umstände, seine eigene Situation, und jeder muss eine eigene Lösung mit der Zentralregierung finden.»

Lob für Erdogan

Kein gutes Haar lässt Barzani dabei an der türkisch-kurdischen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK), deren Hauptquartier in den irakisch-kurdischen Kandil-Bergen die türkische Luftwaffe beinahe täglich bombardiert. Die PKK habe sich nach dem Wahlerfolg der Demokratischen Partei der Völker (HDP) im Juni 2015 «sehr arrogant» verhalten. Er habe die HDP aufgefordert, eine Koalition mit der Partei von Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan einzugehen. Aber die HDP habe sich von der Arroganz der PKK anstecken lassen. Zwar habe sich auch Erdogan verändert, räumt Barzani ein. Aber Erdogan habe als erster Regierungschef der Türkei die Existenz der Kurden anerkannt und eine friedliche Lösung des Konflikts in Angriff genommen. «Das war ein kompletter Wandel in der türkischen Politik, die bis dahin total chauvinistisch war.»

Wie Barzani nimmt auch der inhaftierte PKK-Chef Abdullah Öcalan für sich in Anspruch, Anführer aller Kurden zu sein. Der alte Machtkampf tritt derzeit nirgendwo offener zutage als in «Rojava» (Westen), wie die Kurden den syrischen Teil des imaginären Nationalstaats nennen. Dort hat ein Ableger der PKK, die «Partei der Demokratischen Union» (PYD), einen mehrere hundert Kilometer langen Streifen entlang der Grenze mit der Türkei unter ihre Kontrolle gebracht. Ähnlich wie die irakischen Kurden schafft die PYD ihre eigene Verwaltung und ihren eigenen Sicherheitsapparat. Doch Barzani wirft der PYD vor, sie sei ein Bündnis mit dem syrischen Machthaber Bashar al-Asad eingegangen und gehe mit Gewalt gegen kurdische Rivalen vor. Die Grenze zwischen Irakisch-Kurdistan und Rojava verläuft nur wenige Kilometer westlich von Barzanis Kommandozentrale am Westufer des Tigris. Seit Wochen ist die Grenze geschlossen. PYD und PKK werfen Barzani ein Embargo vor. Barzani beschuldigt sie seinerseits, mehrere Abkommen gebrochen zu haben. «Sie kontrollieren alles. Sie verhindern einen Aufstand der Kurden. Sie stehlen, stecken Menschen ins Gefängnis», so Barzani. Die PYD fordert wie Barzani ein Ende der Grenzen von «Sykes-Picot». Aber ausgerechnet zwischen Kurden sind diese derzeit intakt. Wenn er von einem unabhängigen kurdischen Staat spreche, gehe es nur um Irakisch-Kurdistan, sagt Barzani. «Irakisch-Kurdistan ist reif für die Unabhängigkeit.» Die irakische Verfassung garantiert den Kurden im Nordirak seit zehn Jahren weitgehende Eigenständigkeit von der Zentralregierung in Bagdad. Das bescherte der Region lange Zeit Stabilität und dank den Öleinnahmen einen veritablen Aufschwung. Seit dem Verfall des Ölpreises ist es freilich vorbei mit dem Boom, viele staatliche Bedienstete erhalten oft über Monate keine Gehälter. Vor allem aber stehen die kurdischen Institutionen auf tönernen Füssen. Barzanis Amtszeit als Präsident ist seit knapp einem Jahr offiziell abgelaufen. Fast genauso lange hat das Parlament nicht mehr getagt. Die Einheitsregierung zwischen Barzanis Demokratischer Partei Kurdistans und den anderen kurdischen Parteien existiert nur noch auf dem Papier. Faktisch regiert wie vor dem Sturz des Saddam-Regimes im Westteil Barzanis Partei und im Ostteil die Patriotische Union Kurdistans und die aus ihr hervorgegangene Goran-Bewegung.

Warten auf Mosul-Offensive

«Der Kampf gegen den IS hat für uns oberste Priorität», sagt Barzani auf seiner Basis nordwestlich des Mosul-Staudamms. Nun wird eine Offensive auf das vom IS gehaltene Mosul erwartet. Seine Partei hat Tausende von Kämpfern in die Region verlegt. «Wir stehen bereit.» Die Kurden warteten jedoch darauf, dass die Regierung in Bagdad und die Amerikaner einen Plan für die Militäroffensive und die Verwaltung von Mosul am Tag danach vorlegten. «Noch wichtiger als die Befreiung von Mosul ist die Frage, wie Stadt und Provinz nach der Befreiung verwaltet werden.» Doch genau diese Frage ist explosiv.

Die Wut auf die Schiiten in Bagdad und die Kurden, die Teile der Provinz für ihren Teilstaat beanspruchen, war indes einer der Gründe, warum nicht wenige sunnitische Araber, die in Mosul die Mehrheit bilden, die IS-Fanatiker anfangs begrüssten und ihr Joch teilweise bis heute ertragen. Eine baldige Einigung zwischen allen drei Seiten ist derzeit nicht in Sicht. Den IS als Nachbarn wollen weder Barzani noch die Mehrheit der Kurden. Auf die Frage, ob das Unabhängigkeitsreferendum, für das seine Partei derzeit kräftig die Trommel rührt, dieses Jahr stattfinde, sagt Barzani nur: «Inschallah», so Gott will. www.mesop.de