MESOP HINTERGRUND : „Eine Bankrotterklärung für den Journalismus“ – Christoph Reuter zu Berichterstattung zu Syrien – Über die PYD/PKK

 Von Ansar Jasim | Interviews, Mashreq, Syrien. ALSHARQ

Spiegel-Korrespondent Christoph Reuter berichtet im Gespräch mit Alsharq en Detail über die Schwierigkeiten der Berichterstattung und Recherche zu Syrien sowie die Herausforderung, mit dominanten Diskursen zu brechen. Angesichts der mangelnden Differenzierungsbereitschaft in der Medienlandschaft sei die deutsche Berichterstattung zu Syrien gescheitert.

Alsharq: Du bist seit Kriegsbeginn mehrmals nach Syrien gereist. Wie bereitest Du Dich auf die Aufenthalte vor?

Christoph Reuter: Ich mache diese Arbeit seit 20 Jahren. Die jüngste Reise nach Syrien war die 14. seit Beginn der Revolution. Deswegen brauche ich keine besondere mentale Vorbereitung mehr. Ich kontaktiere nüchtern die wichtigen Gruppen der Gegend, in die wir gehen wollen, und kläre, wie sich die Lage gestaltet, ob es überhaupt Leute gibt, die wir besuchen können, und was für Gefahren lauern.

Welche Gefahren meinst Du?

Ist das Dorf menschenleer, weil es bombardiert wurde? Befinden sich dort ISIS-Milizionäre?[ISIS benannte sich mittlerweile in IS, Islamischer Staat, um, Anm. d. Red.] Solche Fragen müssen im Vorfeld geklärt sein, damit einem nicht das Gleiche wie Anthony Loyd passiert, der von denselben Rebellen entführt wurde, die ihn früher beschützt hatten. Es gibt kriminelle Gruppen, die nach Ausländern Ausschau halten.

Daneben gibt es technische Überlegungen: Wo können wir bleiben, wer schützt uns im Zweifelsfall? Gib es irgendeine Katiba [dt. Bataillon], auf die wir uns verlassen können? Wer fährt, oder wer fährt von wo bis wo? Bis wohin können wir mit Person X fahren und dort auch übernachten, mit wem fahren wir weiter? Wo können wir vermutlich hin?

Wie geht es weiter, wenn all diese Vorbereitungen getroffen sind?

Dann kommt die Feinplanung. Wer holt uns an welchem Grenzübergang wann ab, und zwar ganz genau: am hinteren Parkplatz links, an dem und jenen Häuschen. Sodass wir aus dem ersten Auto aussteigen, ins andere Auto einsteigen und nicht länger als zwei, drei Sekunden draußen und somit auch fast nicht zu sehen sind. Gerade an Grenzübergängen muss man so arbeiten, denn dort werden Leute ausgespäht.

Zudem klärt man noch kuriose Details, etwa ob man eine schusssichere Weste mitnimmt oder nicht.

Warum ist das eine Frage? Immerhin reist man ins Kriegsgebiet.

Schusssichere Westen sind zum Beispiel im Libanon illegal und gelten als Militärgut. Man darf sie weder ein- noch ausführen. Das Gleiche gilt für Satellitentelefone.

Wir müssen grundsätzlich abwägen, ob es sich lohnt, Dinge mitzunehmen, die uns vielleicht schützen, aber die auch mehr Gewicht bedeuten. Selbst wenn wir drei Wochen im Einsatz sind, sollte das Gepäck nur so schwer sein, dass man es rennend noch tragen kann.

Wenn ich weiß, dass ich nicht nach Aleppo gehe oder in andere Gegenden, wo Kämpfe stattfinden, dann brauche ich keine Weste. Für die letzte Recherche waren Westen weniger wichtig. Uns interessierten dieses Mal vor allem die Machtstrukturen und die Frage, wie sich die Leute organisieren.

Bei Deiner Arbeit bist Du auf vertrauenswürdige Personen angewiesen. Manchmal schlaft ihr auch bei Leuten von der islamistischen al-Nusra-Front. Wie unabhängig und ausgewogen berichtet man unter solchen Umständen?

Es war leichter, mit Leuten von Jabhat al-Nusra als zum Beispiel mit der PKK unterwegs zu sein, weil sie nicht den Anspruch hatten, einen zu kontrollieren. Wir konnten mit verschiedenen Personen reden, während die PKK ein komplettes Besucherprogramm organisiert hatte. Bei der PKK wird man betreut und zwar 24 Stunden am Tag. Man übernachtet bei ihnen und sie kommen überall mit hin. Sie entscheiden, was man machen kann. Und wenn man sagt, dass man gerne mal was anderes machen würde, dann heißt es, dass es schwierig sei. Unter diesen Umständen haben wir weitaus weniger mitbekommen von der wirklichen Lage und den Fragen, die uns eigentlich interessiert haben – etwa, ob es eine kurdische Opposition in Kobani gibt. Und selbst wenn wir die Opposition getroffen haben, haben sie sich nicht getraut, mit uns offen zu sprechen, da durchgehend jemand von der PYD, dem syrischen Ableger der PKK, dabei saß.

Das ist der Alltag beim Recherchieren in Diktaturen. In den befreiten Gebieten hat man normalerweise den Vorteil, dass egal mit wem man unterwegs ist – sei es die Freie Syrische Armee (FSA) oder Jabhat al-Nusra – sie zu neu, amateurhaft oder auch desinteressiert sind, uns zu kontrollieren. Davon abgesehen sind wir ja immer mit unterschiedlichen Gruppen unterwegs. Wir gehen mit einer bestimmten Gruppe rein, übernachten bei einer anderen und fahren weiter zu neuen Leuten.

Warum wechselt Ihr so oft die Begleiter?

Nach zehn bis zwanzig Kilometern wechselt man zu einer anderen Gruppe, die dort die Wege besser kennt, denn die Wege ändern sich teilweise Tag für Tag. Nur die lokalen Gruppen wissen, wo zum Beispiel die Bebauung nicht mehr steht und deswegen die Scharfschützen von einem Regimecheckpoint 800 Meter weiter reinschießen können. Deswegen muss man – obwohl die Straße ansonsten sicher ist – von der Straße abfahren und einen anderen Weg nehmen, um die Sichtachse zu umgehen. Das ist, was dem ARD-Korrespondenten Jörg Armbruster widerfahren ist: Einmal an einem Kreisel falsch abbiegen, 100 Meter fahren und man kann froh sein, wenn man mit zwei Schusswunden überlebt.

Dabei erfährt man vermutlich auch vieles aus dem Innenleben der einzelnen Fraktionen?

Wir verbringen schon sehr viel Zeit jenseits der journalistischen Gespräche, wenn wir abends mit den Gruppen zusammen sitzen. Die Leute reden. Sie haben keine Parteidisziplin. Sie ärgern sich über ihren Anführer, über die andere Katiba, über den Stadtrat, über ihre Verwandten. Sie streiten sich. Man bekommt das reale Leben mit.

Was heißt das, das reale Leben?

Letzten August haben wir in Salkin in der Provinz Idlib für eine Woche im Hauptquartier einer Katiba gewohnt. Dort sahen wir, wie scheidungswillige Frauen, Unfallpartner, jeder, der irgendeinen Konflikt hatte, im Hauptquartier auftauchte und von dem Befehlshaber dieser kleinen Katiba verlangte, die Konflikte zu lösen. Er sollte etwa sagen, wer die Schuld an diesem oder jenen Unfall hatte. Er war völlig überfordert und tierisch genervt, dass er sich mit Bremsspuren, häuslicher Gewalt und all dem auseinandersetzen musste. Aber alle empfanden ihn eben als die wichtigste Autorität, da sie nicht zum Scharia-Gericht gehen wollten, welches von ISIS kontrolliert wurde. Der Befehlshaber hingegen war von vor Ort, die Menschen kannten ihn – den anderen trauten sie nicht, da sie glaubten, sie seien tunesische Dschihadisten.

Wie gehst Du bei Deiner Recherche mit dem Thema der Ausgewogenheit um?

Ausgewogenheit ist zu einem Placebo-Begriff geworden. Journalismus heißt ja nicht, dass ich nur Version a und dann b höre und dann gleichwertig präsentiere. Sondern es heißt, dass ich mir alle Versionen anhöre und dann versuche herauszufinden, was wirklich passiert ist. Manchmal gibt es ja auch nicht nur Version a und dann b, sondern noch c, d, e. Oder es gibt nicht einmal einander widersprechende Versionen, weil ja nicht mal klar ist, worum sich die Versionen drehen. Sondern es gibt eine Wirklichkeit, von der wir gar nicht wissen, wie sie aussieht. Hierfür bekommen wir ein gewisses Gefühl, indem wir neben dem, was wir wissen wollen, uns einfach treiben lassen. Man muss so viel Zeit wie möglich mitbringen und offene Ohren haben.

Unter den Syrer_innen herrscht Ernüchterung über die Position des „Westens“, der nicht eingeschritten ist. Ich kann mir vorstellen, dass nicht jede/r glücklich ist, einen ausländischen Journalisten zu treffen. Warum aber helfen Dir die Leute?

Sie tun das zum einen, weil wir sie bezahlen. Leute, mit denen wir öfter unterwegs sind, bekommen im Schnitt pro Tag um die 150 Dollar und wir bezahlen zudem für das Auto und Benzin. Das ist moderat, wenn man bedenkt, was einige Fixer an der Grenze verlangen. Aber für einen Syrer, der sonst kein Einkommen mehr hat, ist das relativ gut. Wir fahren wenn möglich immer wieder mit denselben Leuten. Es gab eine Zeit, da waren die Leute extrem desillusioniert und fast wütend, wenn wir kamen. Weil sie meinten, die Berichterstattung bringe Hilfe und Veränderung. Dem war nicht so. Bei meinem letzten Besuch,  nachdem sich acht Monate keine Journalisten reingetraut hatten, war eher wieder Freude darüber zu spüren, dass überhaupt noch jemand kommt, dass man nicht vergessen und alleine gelassen wird – auch wenn sie nicht unbedingt von dem profitieren, was wir tun. Doch ich denke, dass es letztlich auch im Interesse der Syrer vor Ort ist, wenn wir in Gefahrenzonen gehen, um etwa über die Gasangriffe zu berichten, von denen das Regime sagt: „Das waren die Terroristen“.

Wie ist mit dem Phänomen des Bürgerjournalismus? Jene, die am Anfang mit ihrer Handykamera gefilmt haben, aber inzwischen professionellere Strukturen entwickelt haben, weil sie geschult wurden und nun auch das richtige Equipment haben. Kommst du mit denen in Berührung? Gibt es da besondere Formen der Solidarität?

Nein. Wir treffen sie gerne. Oft haben sie etwas gefilmt, was wir nicht haben, weil wir nicht da waren, als es passiert ist. Insofern sind es wertvolle Dokumente. Aber für die Verwertung müssen wir den Kontext verstehen, indem wir noch weitere Aufnahmen sehen, die vorher und nachher entstanden sind. Wir müssen die Möglichkeit ausschließen können, dass diese Aufnahmen gestellt wurden, müssen garantieren, dass sie an diesem oder jenen Tag entstanden sind.

Deshalb treffen wir die Filmer und reden mit ihnen. Manchmal geben sie uns Filmaufnahmen umsonst, manchmal bezahlen wir dafür, weil es ihre Arbeit ist. Es gibt in dem Zusammenhang viele Probleme: Zwar filmen die Leute zum Teil besser als vorher. Doch gibt es viele Aktivisten, die den Regimemedien ähnlich ihrerseits übertreiben und fälschen. Für präzise investigative Recherchen muss man also sehr vorsichtig mit solchem Material umgehen.

Wie kannst Du wissen, ob Aufnahmen echt oder gefälscht sind?

Es gab einen bezeichnenden Fall vor zwei Jahren. In Atmeh wurde uns ein gefangener Regimemilizionär vorgeführt, der gestand, er habe als Krankenpfleger reihenweise Leute umgebracht und dann dafür gesorgt, dass ihre Organe verkauft werden. Die Reste der Leichen seien nach Teheran geschickt worden. Ein paar Leichen seien zudem als vermeintliche Opfer bei fingierten Explosionen benutzt worden.

Die Geschichte war einfach zu perfekt, deswegen wurden wir skeptisch. Wir haben dann sehr aufwendig recherchiert, was wirklich in dem Militärkrankenhaus von Aleppo passiert ist, und es stellte sich heraus, dass er tatsächlich dort war und vielleicht eine Person umgebracht hat. Nach Gesprächen mit einigen Krankenhausmitarbeitern wurde klar, dass vielleicht drei, vier oder fünf Leute dort umgebracht wurden.

Es kommt häufig zu Übertreibungen: Es heißt, es seien 60 Leute umgekommen, aber tatsächlich waren es fünf. Ich kann die Leute irgendwie verstehen. Das Regime macht das die ganze Zeit so und viele glauben das. Wir sagen dann immer, macht das nicht, weil die Wirklichkeit grauenvoll genug ist. Ihr müsst nichts übertreiben. Damit riskiert ihr die Glaubwürdigkeit. Aber deshalb versuchen wir, so viel wie möglich selbst zu recherchieren.

Welche Möglichkeiten hast Du, in einer fremden Umgebung ein vergangenes Ereignis zu rekonstruieren, wobei sich häufig mindestens zwei Parteien die Schuld gegenseitig zuschieben?

Bei einem Massaker etwa gibt es keine Dokumente, aber es gibt Möglichkeiten zu eruieren, ob es tatsächlich so stattgefunden hat. Zum Beispiel, indem man Zeugen, die die Angreifer haben kommen sehen, unabhängig voneinander, nacheinander, exakt mit dem gleichen Set an Fragen interviewt und zudem präzise Zeitfragen stellt. Das haben wir bei dem Massaker in Hula vom Mai 2012 so gemacht. Die Täter kamen vom Hügel runter. Oben wurden sie um 17:30 Uhr gesehen, in der Mitte des Hügels um 18:00 Uhr und das Massaker begann gegen 19:00 Uhr, so die Zeugen. Dass Leute sich dermaßen absprechen, ist extrem unwahrscheinlich. Das ist ein Beleg dafür, dass es tatsächlich so stattgefunden hat. In Hula wurden sehr viele alte Männer, Frauen und Kinder umgebracht. Es haben aber interessanterweise eine Reihe junger Männer überlebt, weil die alle von ihren Familien rausgeschickt wurden, als sie die Shabiha-Regimemilizionäre haben kommen sehen. Die Familien dachten, dass diese kommen, um die jungen Männer zu verhaften. Ein junger Mann versteckte sich im Hühnerstall und hörte, wie seine Familie massakriert wurde – er selbst überlebte. Auch das ist ein Beleg dafür, dass die Version stimmt. Denn würde die Version des Regimes stimmen, dass die Faruk-Brigade der Rebellen kam, dann wären ja die jungen Männer nicht rausgegangen und hätten sich versteckt, sondern wären im Haus geblieben und hätten geguckt, was kommt denn jetzt. Insofern haben wir dann sehr viel Wert darauf gelegt, mit diesen jungen Männern zu reden: Was genau habt ihr gesehen, was ist passiert, warum wurdet ihr rausgeschickt? All die Dinge, die einer bestimmten Version Glaubwürdigkeit verleihen und die schlecht zu fälschen sind. Und das sind Dinge, die nicht zu erwarten sind von jemanden, der früher einfach eine Handykamera hochgehalten hat und nun besser filmen kann als vorher. Er hat ja diesen ganzen Background von Recherche nicht, weil es das so früher nicht gab in Syrien. Wir sagen denen immer, wir arbeiten wie die Kriminalpolizei. Wir versuchen, Indizien dazu zu sammeln, was wirklich vorgefallen ist. So hat aber kein Journalist in Syrien früher gearbeitet.

 

lsharq: Warum hat gerade das Massaker in Hula in unserem Verständnis so einen Stellenwert erlangt? Wenn wir heute in Deutschland über die syrische Revolution reden, dann ist Hula ein Thema. Daran wird bis heute festgemacht, ob Assad oder die Opposition kriminell sind.

Christoph Reuter: Es war das erste große Massaker, das relativ gut belegt war, da zeitgleich die UN-Inspekteure im Land und am nächsten Morgen in Hula waren. Dadurch haben sie den Aussagen der Überlebenden, dass hier ein Massaker stattgefunden hat, großes Gewicht und Glaubwürdigkeit verliehen. Die haben die Leichen gesehen und dann wurde automatisch davon ausgegangen, dass das Regime hier ein Massaker an einer Dorfbevölkerung verübt hat. Das war auch die Version, die alle Dorfbewohner erzählten. Dann hat das Regime zwei Wochen später mit relativ viel Mühe eine Nonne, gefälschte Zeugen aus der Umgebung und einen russischen Journalisten aufgeboten und sie mit Rainer Hermann, dem FAZ-Korrespondenten, zusammengebracht. Der hat sich in Damaskus diese Gesprächspartner zuführen lassen und die haben ihm erzählt, dass es die Terroristen waren. Das hat er dann so aufgeschrieben und danach hatte man in Deutschland, wo Ausgewogenheit ja gerne als Ersatz für Journalismus genommen wird, zwei Versionen: Die einen sagen so, die anderen sagen so.

Und dann kam auch noch der ehemalige Verlagsmanager Jürgen Todenhöfer, dem dieselben Zeugen zugeführt wurden. Insofern war das auf einmal eine deutsche Geschichte geworden, obwohl wir ja mit dem Massaker nichts zu tun hatten. Daraufhin sind mein Team und ich zwei Monate später unter ziemlich großen Mühen dahin gefahren und haben mit den Überlebenden, mit Familienangehörigen, mit Zeugen, die die Angreifer gesehen haben, geredet. Wir haben uns die Topografie angeschaut, die Wege: welche Gegenden unter Kontrolle der Scharfschützen der Armee sind und so weiter. Wir kamen zu dem Ergebnis, dass es keinen Grund zur Annahme gibt, dass die Zeugen oder Überlebenden lügen. Insofern war das eine Recherche, die wir sehr wichtig fanden, da es weltweit die Leute bewegte, was denn nun stimmte.

Was ist für Dich der Unterschied bezüglich Deiner Berichterstattung über Syrien im Vergleich zum Irak oder Afghanistan vorher? Geht es Dir auch darum, eine „Sache“ zu unterstützen? In einigen Deiner Artikel hast du ja auch schon empfohlen, Solidaritätsgruppen wie „Adopt a Revolution“ zu unterstützen.

Das sind zwei unterschiedliche Stränge. Die Berichterstattung darf davon nicht beeinflusst sein. Wenn wir eine FSA [Freie Syrische Armee]-Brigade erleben, die ihre Gefangenen foltert, wenn falsche Anschuldigungen erhoben werden, wenn Dörfer bombardiert werden, dann schreiben wir das auch.

Aber ich glaube, dass diese Leute ihrer Regierung oder ihrem Regime den Kampf erklärt haben – erst den friedlichen Widerstand und dann den Krieg –, weil sie Gerechtigkeit wollen und die Freiheit, sich als Bürger zu fühlen. Das ist ein berechtigtes Anliegen, im Gegensatz zum Anliegen des Regimes, dieses Land weiterhin als seinen Privatbesitz zu beherrschen. Insofern ist diese Revolution ethisch begründet. Auf der kommentierenden Ebene unterstütze ich sie also.

Du warst in letzter Zeit recht häufig in nahen Zeitabständen in Syrien. Inwiefern hat sich die Situation jedes Mal geändert?

Also bis Sommer letzten Jahres war es so, dass wir drei bis vier Stunden auf türkischer Seite waren, noch kurz Leute getroffen haben, Gepäck eingelagert haben, was wir nicht mitnehmen wollten – und dann fuhr man rein. Es war normal geworden. Das änderte sich dann ab August, als klar wurde, dass ISIS [ISIS benannte sich mittlerweile in IS, Islamischer Staat, um, Anm. d. Red.] immer mehr Gebiete kontrolliert.

Ihr seid also immer über den Norden rein, oder auch über den Süden?

Nein, nie über den Süden. Wir sind Experten geworden für alle Grenzen. Irak ging, haben wir aber nie gemacht. Jordanien haben wir versucht, zu unserer großen Überraschung war es aber vollkommen unmöglich. Diese Grenze ist ähnlich gesichert wie die israelische. Niemand kommt rüber, ohne dass der jordanische Geheimdienst sein OK dazu gibt. Wir haben es über fünf verschiedene Wege versucht: über den Militärrat von Daraa, über einen Liaison-Kontakt zum jordanischen Geheimdienst, über den jordanischen Geheimdienst selbst und über einen – wie wir dachten, unabhängigen – Schmuggler und dann noch über Verwandte unseres damaligen Rechercheurs. Jedes Mal hieß es: „Es klappt, gebt uns zwei Tage“. Und nach einer Woche oder so hieß es dann: „Nein, geht nicht, kein Ausländer darf rein.“ Libanon ging, solange man eben noch nach Qalamon, also Yabrud und Zabadani, nach Syrien hinein konnte.

Insofern bleiben im Moment nur die Türkei und der Irak. Irak gestaltet sich jedoch schwierig, nur unter recht großen Gefahren gelänge man bis Deir az-Zor. Aber dort ist ISIS an vielen Orten präsent, und das wäre für uns zu gefährlich. Oder nach Qamishli, aber da kann man auch von der türkischen Seite hin.

Es war in der Tat ein ungewisses Gefühl, im April wieder reinzugehen, ohne zu wissen, was sich alles verändert hat.

Was hat sich denn verändert?

Gar nicht so viel, wie wir dachten. Die zweite Reise war insofern anders, als die PYD [syrischer Ableger der PKK] den Anspruch einer dem Assad-Regime ähnlichen Form der Totalkontrolle aufgebaut hat. Sie wissen genau, was bei ihnen passiert. Oder wie es der Pressezuständige ausdrückte: „Ihr müsst nur ein Taschengeld mitbringen, alles andere organisieren wir.“

Selbst in Qamishli wäre es vielleicht leichter, verschiedene Gruppen zu treffen. Aber in Kubani, der kleinen kurdischen Enklave weiter westlich, war es ein bisschen bizarr. Da die dort allerdings umzingelt sind von ISIS und sich in der Tat einen sehr ehrlichen und mörderischen Kampf mit denen liefern, fällt das dann nicht so ins Gewicht. Denn wenn man umzingelt ist von Leuten, die einen umbringen wollen, haben basisdemokratische Debatten nicht die oberste Priorität. Die kämpfen da im Moment ums Überleben. Es war spannend, aber sehr anders als alles, was wir in Idlib, in Aleppo oder Hama erlebt hatten, wo man spätestens am zweiten Abend das Gefühl hatte, man weiß, worum es geht. Wer gegen wen was hat. Was schief geht, wer schmuggelt. Da wird letztlich über alles geredet.

Wie geht man damit um als Journalist, dass man in große Teile des Landes nicht reinkommt und deswegen nicht über sie berichten kann? Die Informationsquellen reduzieren sich, muss man sich auf die staatliche Nachrichtenagentur SANAverlassen? Was machst du, um eine Idee davon zu bekommen, was etwa in den belagerten Gebieten, in die du ja nicht reinkommst, passiert?

Skype ist eine großartige Erfindung, weil man mit Leuten sprechen und sie dann auch noch zum großen Teil sehen kann. Was sehr anders ist, als wenn man mit ihnen mailen würde. Denn man bekommt ihren Gesichtsausdruck mit, wenn sie etwas sagen, man hört ihre Stimmenlage. Man hört, wie sie auf Fragen reagieren. Der Subtext eines Gespräches wird über Skype vermittelt. Dann gibt es Leute, die wir früher schon mal getroffen haben, als sie noch ausreisen konnten. Oder es sind gute Bekannte von Leuten, die wir sehr gut kennen, sodass man eine gewisse Gewähr hat, dass der einem jetzt keinen totalen Blödsinn erzählt. Außerdem reden wir mit mehreren Menschen über dieselben Vorkommnisse. Aber natürlich wissen wir nicht so genau, wie es wirklich drinnen ist. Wir gucken uns sehr viel mehr Videos an. Nach Daraa etwa konnten wir nicht, aber wir hatten das Gefühl, das wir halb Daraa in fünf verschiedenen Orten in Jordanien getroffen hatten. Insofern kriegt man schon ziemlich viel mit, selbst wenn man nicht selber dagewesen ist. Die schwierigsten Gegenden sind in der Tat Homs und die Vororte von Damaskus, wo Leute nicht mehr rauskonnten.

Du bist ja jetzt auch in „befreiten“ Gebieten unterwegs gewesen. In unseren englisch-/deutschsprachigen Medien wird die Lage zurzeit vor allem so dargestellt, dass Assad die Oberhand hat und gewinnt. Die Assadschen Diskurse werden in unseren Medien oft als neutral aufgenommen. Wie ist es für Dich, wenn du im Land bist – ist das Bild dann für dich komplizierter oder einfacher?

Es ist frustrierend. Bei Afghanistan oder Irak hatte man das Gefühl, es gibt keine so klare Parteinahme. Weder hatte man das Gefühl, eine der beiden Seiten ist einem sonderlich sympathisch, noch gab es in den englisch-/deutschsprachigen Medien eine so klare Bereitschaft, manipulierten Berichten Glauben zu schenken. Wenn ich nach Lektüre gehen würde, so hätte ich das Gefühl, alle lokalen Räte seien zusammengebrochen und es gibt nur noch Chaos und Zustände wie in Somalia.

Aber dann ist man drin und sieht, es gibt sie immer wieder oder es gibt sie immer noch. Man kann sich auch noch durch das Land bewegen. Zumindest im Norden. Die Leute sind noch nicht völlig barbarisiert. Und viele Dinge sind anders als das, was berichtet wird. Aber das Problem ist: Es gibt eine hohe Bereitschaft, SANA zu glauben.

Was sind die Methoden des Regimes, seine Diskurse so effektiv einzubringen?

Das Regime betreibt seine Propaganda unablässig und auch auf relativ elegante und elaborierte Weise. Sie vermelden Nachrichten nicht unbedingt selbst, sondern sie schicken christliche Priester oder Nonnen vor und andere Würdenträger. Sie lassen ihre Meldungen über russische oder iranische Auslandssender laufen, über die sie dann wieder in Deutschland ankommen, oder etwa von AP (Associated Press) übernommen werden – die aber dann nicht nachgraben, ob das denn auch tatsächlich so stimmt. Bei Ma´alula war das wunderbar zu sehen: Es gab mehrere Checkpoints am Stadtrand von Ma´alula, von denen aus sunnitische Dörfer beschossen wurden. Dann wurden diese Checkpoints angegriffen, sonst nichts. Das Regime verbreitete, die Kirchen seien geschändet worden. Aber es brauchte Tage, bis sich in den deutsch- und englischsprachigen Medien durchsetzte, dass das überhaupt nicht stimmte. Und das geschah auch nur, weil es Leute gab, die mit den Nonnen vor Ort telefoniert hatten, die sagten, dass in dem Ort nichts angegriffen worden sei.

Das Gleiche gilt für ISIS. Es gibt extrem wenige Berichte in der deutschsprachigen Presse darüber, dass ISIS bis Mitte Juni vom Regime nie angegriffen worden ist und sie im Prinzip gemeinsam Krieg führen, bis hin zu zeitlich und örtlich choreographierten Bewegungen. Die Luftwaffe bombardiert eine FSA-Stellung, Minuten später greift ISIS an. Das Regime und die destruktivsten Fanatiker ergänzen sich wunderbar im Kampf gegen die restlichen Rebellen. Die deutschsprachigen Medien berichten entweder gar nicht mehr oder fahren halt immer wieder auf der Schiene der Ausgewogenheit im Sinne „die einen sagen das, die anderen sagen das – und man kann es leider nicht überprüfen“, was eine Bankrotterklärung ist für den Journalismus.

Wie erklärst Du Dir das? Bei der Twitter-Kampagne #SaveKessab haben wir zuletzt gesehen, dass Orientalismus hier eine große Rolle spielt. Wie kommt es, dass das in Deutschland so einfach akzeptiert wird?

Zum einen, weil es aus den Erfahrungswerten eine bestimmte Reserviertheit gibt gegenüber allem, was sunnitisch, bärtig und bewaffnet ist. Die paar Partikel, die ein deutsches Publikum kennt, sind die Shabab in Somalia, das sind die Taliban, das sind im Zweifelsfall noch pakistanische Väter, die ihre Töchter steinigen. Man hat das Gefühl, die syrischen Aufständischen werden für alles, was irgendwie sunnitisch ist, haftbar gemacht. Dazu kommt, dass der arabische Frühling lange her ist und das folgende Chaos schon sehr lange dauert. Die Aufmerksamkeitsspanne des deutschen Publikums, was solche Länder angeht, ist gering. Dann hat man das syrische Regime, das genau diese wunde Stelle kennt und sie immer wieder ansticht und füttert mit den Horrorbildern. Sei es #SaveKessab, wo zum Teil Bilder aus einem amerikanischen Horrorfilm der 1980er-Jahre verwendet wurden oder Bilder von Opfern der Luftwaffenbombardements des Regimes selbst. Dazu kommen die Berichte von deutschen, syrischen oder libanesischen Christen, die in Deutschland auftreten und dann sagen: „Wir haben das von unseren Verwandten gehört.“ Die glauben zum Teil vielleicht, was ihnen die Verwandten erzählt haben; diese kennen es aber selber nur aus dem Fernsehen. Es gibt auch das Narrativ, dass Christen im Nahen Osten verfolgt werden, was im Irak ja auch gestimmt hat, aber das Assad-Regime füttert das nach Kräften. Das fällt dann auf fruchtbaren Boden. Und nachdem man Leute drei Jahre lang aufs Grausamste verfolgt und bombardiert hat, hat man jetzt Leute wie jenen Subkommandante aus Homs, der einem Hisbollahi die Leber – das Herz war es, glaube ich, nicht – rausschneidet und so tut, als ob er reinbeißt. Man hat ein großes Rauschen in Syrien – wo sich für jede Melodie ein paar Töne finden lassen. Die sind nicht repräsentativ, aber sie sind auch nicht falsch. Man kann sagen, ja dieser syrische Rebell ist ein Kannibale. Aber es gab nur einen! Man findet Belege und die Frage ist, was macht man dann daraus. Und zu sagen, es ist aber nicht repräsentativ, oder die Dschihadisten, die jetzt da sind, die waren vor zwei Jahren nicht da, als das Regime oder Herr Todenhöfer schon behauptet haben, es seien alles Ausländer – das ist ein Maß an Differenzierung, das so gut wie unvermittelbar ist in einem Konflikt, der leider – so hat man das Gefühl – sowieso fast niemanden mehr interessiert.

Christoph Reuter ist mehrfach ausgezeichneter Autor und Nahostkorrespondent des SPIEGEL. Er hat als Kriegsberichterstatter aus Afghanistan und Irak berichtet. Zurzeit lebt er in Beirut und hat in den vergangenen Jahren regelmäßig aus Syrien berichtet.

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