MESOP : HAYDAR ISIK MACHT EINEN BESUCH IN ALEVITENLAND – Kurdischer Emigrant – Im Gepäck die Angst

Süddeutsche Zeitung – 1 4. 2015 – Nach 37 Jahren Exil darf der in München lebende Kurde und Schriftsteller Haydar Işık erstmals wieder seine Heimat in der Türkei besuchen. Es ist eine Reise mit gemischten Gefühlen.Bertal ist ein alter Mann geworden. Seine Schritte sind langsam. Er quält sich die Steigung hoch. Die harte Arbeit hat seinen Körper ganz krumm werden lassen. Haydar Işık muss ganz genau hinschauen.

Ist das der Mann, mit dem er als Kind über die Felder tobte? Ist das der Mann, mit dem er zusammen oben im Baum kauerte, wenn die türkischen Soldaten wieder durchs Dorf marschierten? Auch Haydar Işık ist alt geworden, 77 ist er jetzt. In seiner Tasche hat er Tabletten gegen Bluthochdruck. Heute Abend wird er sie dringend brauchen, denn dieser Tag geht auch an ihm nicht spurlos vorbei.

Ein Dorf in den Bergen bei Nazımiye, einer Kleinstadt im kurdisch geprägten Ostanatolien. Es wird Schauplatz eines ganz besonderen Wiedersehens. Auf dem Gipfel des Duzgin liegt Schnee. Hier, auf der Ebene, krallt sich der lehmige Boden bei jedem Schritt an die Schuhe, als wolle er die Menschen, die ihn einmal betreten, nicht mehr fortlassen. Für Haydar Işık endet an diesem Ort eine Reise. 37 Jahre lang war er unterwegs. Nur hier durfte er nicht hin.

Die Politik trennte die Wege der Jugendfreunde Bertal und Haydar. Bertal übernahm die Arbeit seines Vaters, kümmerte sich ums Vieh und bestellte die Felder. Işık ging als junger Mann fort. Er kämpfte mit Worten um diesen Boden. Er wurde Lehrer, Schriftsteller und politischer Aktivist, der sich für mehr Rechte und Unabhängigkeit der Kurden in der Türkei einsetzte und das heute noch tut. Am 14. Oktober 1974 kam er nach Deutschland, um als Lehrer Gastarbeiterkinder zu unterrichten. 1982 ließ der Putschgeneral Kenan Evren den kurdischen Intellektuellen wegen seiner Ansichten in Abwesenheit ausbürgern.

Der Friedensprozess beginnt wieder – reicht ihm der Staat wirklich die Hand?

Işık lebt heute in Maisach bei München. Auch dort geriet er in den Fokus der Sicherheitsbehörden – deutscher. Sie sahen ihn im Dunstkreis der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK, eingestuft als Terrororganisation. Nach zwölf Tagen Haft kam Işık frei. Ihm war nichts Strafbares nachzuweisen. Zwischenzeitlich schien es, als wäre Işık nirgends wirklich willkommen.

Seit 1984 kämpft die PKK mit Waffengewalt für einen unabhängigen kurdischen Staat. Von dieser Maximalforderung ist sie mittlerweile abgerückt, der Wunsch nach mehr Autonomie ist geblieben. 40 000 Menschen sind ums Leben gekommen. Jenseits der vielen Todesopfer brachte der Konflikt Kummer über unzählige Familien – auch Işıks. Kurz vor der Parlamentswahl im Juni hat die islamisch-konservative AKP-Regierung begonnen, den ins Stocken geratenen Friedensprozess mit den Kurden, knapp 20 Prozent der Bevölkerung, wiederzubeleben. Işık hat das konkret zu spüren bekommen. Er hält jetzt ein Ticket in seine Heimat in der Hand.

Bei seinem Anwalt landete im Januar ein Schreiben des 8. Schwerstrafgerichts in Ankara. Obwohl Işık wegen Terrorverdachts mit internationalem Haftbefehl gesucht wird, dürfe er sich für vier Monate in der Türkei frei bewegen, heißt es in dieser “Garantiebescheinigung”. Die Bedingung: Er lässt sich in Ankara vor Gericht vernehmen. Das könnte der erste Schritt dahin sein, dass die Anklage womöglich fallen gelassen wird. Reicht der türkische Staat, der lange so unnachgiebig war, nun die Hand?

Wie sein Enkelsohn wohl aussieht?

Ende Februar in München. Işık sitzt im Münchner Stadtcafé. Hier kommen Leute gerne her, um ein Buch zu lesen. Işık zieht in den nächsten anderthalb Stunden seine Jacke nicht aus. Als sei er auf dem Sprung. Er sagt, er habe Heimweh. Seine Kinder aus erster Ehe leben in der Türkei. Aber in all der Zeit, in der er nicht heimreisen durfte, sind sie groß geworden, haben selbst Kinder bekommen. Wie Firat, sein Enkelsohn, wohl aussieht? Er ist ja auch schon erwachsen. Işık sorgt sich, dass die Behörden nicht Wort halten und ihn womöglich doch festnehmen. “Ich bin jetzt 77 Jahre alt”, sagt er. “Wenn die mich für fünf bis zehn Jahre ins Gefängnis stecken, sterbe ich dort.” Aber er müsse das Risiko eingehen.

Flug 1620 landet am 16. März gegen zwölf Uhr in Ankara-Esenboğa. Die Polizisten erwarten Işık – freundlich, und mit Wasser in der Hand für den Gast. Sie fragen, wie es ihm geht, und dann dauert es nicht mehr lang, bis der Weg ihn und seinen Anwalt zum Justizpalast führt. Ein Funktionsbau mit dicken Mauern wie eine Festung. Vor dem Verhandlungssaal im zweiten Stock fließen Tränen, dort warten Familie und Freunde. Hier sieht Işık auch seinen Enkel Firat das erste Mal nach 20 Jahren. Firat trägt Jeans und T-Shirt, Brille und Bart. Işık erkennt ihn nicht sofort. Firat muss sich vorstellen.

Der Richter bittet zur Verhandlung in einen Raum, so groß wie ein Vorlesungssaal. Er sitzt auf einem Podest, das Işık, der als einziger steht, noch einmal deutlich überragt. “Sie wissen, was Ihnen vorgeworfen wird?”, fragt der Richter. “Ich habe nichts Gesetzeswidriges getan”, antwortet Işık.

Der Vogel ruft Tag und Nacht: “Ich habe getötet.”

Daran schließt sich ein Gespräch an, über das sogar Işık staunt. Es redet fast nur der Richter. Der Mann trägt nicht nur die Vorwürfe vor, sondern auch Işıks Verteidigung. Als wolle er vermeiden, dass der sich in Schwierigkeiten bringt. Ob er noch etwas hinzuzufügen habe, will der Richter am Ende von Işık wissen. “Nein.” Das war’s. Die Hauptverhandlung sei im Sommer. Draußen vor dem Gericht warten türkische Medien. Işık zählt trotz der vielen Jahre im Ausland zur Elite der kurdischen Intellektuellen. Er hoffe, sagt Işık in die Mikrofone, dass sich “das System ändert”. Auf dem Weg zum Auto sagt er: “Ich bin so happy.” Abends, bei einer Feier, sagt Işıks Anwalt Yusuf Alataş: “Der Friedensprozess beeinflusst alles.” So ein Verfahren habe er noch nicht erlebt. Er ist guter Hoffnung, dass der Prozess bald eingestellt wird.

Işık hat traurige Bücher geschrieben. In seiner Heimat, der Provinz Dersim, kam es 1937/1938 zu einem Massaker der türkischen Armee an den Kurden mit überwiegend alevitischem Glauben. Zehntausende sollen umgekommen sein. Işık war eben geboren, als das Leid über die Berge kam. Er wuchs mit Geschichten auf, die nur Schmerz und Tod kannten. In seinem Buch “Der Agha aus Dersim” erzählt er von einem Mädchen, das seinen Bruder tötet. Es glaubte irrtümlich, er habe die Bärenklau-Ernte gegessen. Dabei war im Sack ein Loch. Işık schreibt: “Sie flehte zu den mächtigen Herren der kurdischen Berge: Ich will ein Vogel sein und Tag und Nacht den Schmerz um meinen toten Bruder kundtun.” So geschah es. Der Vogel ruft Tag und Nacht: “Ich habe getötet.”

Işıks Wagen schlängelt sich die Berge nach Nazımiye hoch. Eine karge, schroffe Landschaft. Auf den Gipfeln hat das Militär Kasernen errichtet. Ab und zu sind Panzer und schwer bewaffnete Soldaten zu sehen. Mit Farbe ist an Felsen “PKK” gemalt. Auch wenn seit 2013 Waffenstillstand zwischen PKK und Regierung herrscht, hier fühlt es sich an wie inmitten der Kampfzone. Das Auto biegt auf eine matschige Straße ab, an deren Ende ein paar alte, teils heruntergekommene Häuser stehen. Işık ist ganz ruhig geworden. Sein Geburtshaus ist nur noch Ruine. Was war das nur für ein beschwerliches Leben damals. Unten im Haus stand das Vieh, oben lebte die Familie. Wasser holen war im Winter, wenn der Schnee meterhoch lag, eine Strapaze. “Wenn im Frühjahr der Schnee geschmolzen war und das erste Grün sich durch den Boden kämpfte, waren wir erleichtert, dass wir es wieder geschafft hatten”, erzählt Işık. Unter demselben Dach, nur einen Raum weiter, ist sein Freund Bertal großgeworden. Der steht jetzt vor ihm. Die Augen füllen sich mit Tränen. “Wir haben gedacht, dass du die Berge nie wieder siehst”, sagt Bertal. Es dauert nicht lange, bis Işık von Nachbarn umringt ist. Sie gehen zum Grab von Işıks Eltern, das hinter dem Haus auf einer Anhöhe liegt, und schweigen. Nicht einmal zur Beerdigung seiner Mutter konnte er kommen.

Es erschreckt ihn, wie viel in seinem alten Dorf noch genau ist wie früher

Eine Nachbarin bittet Işık, etwas für ihre Töchter zu tun. Beide hätten studiert, Mode, würden aber keine Jobs finden. Tatsächlich steht bald darauf eine Frau, Mitte 20, vor Işık. Perfekt zurechtgemacht, als würde sie gleich in Istanbul ausgehen. Aber hier gibt es weit und breit nichts zum Ausgehen. Nicht einmal Bewunderer.

Işık schaut im Teehaus vorbei. Das Klackern der Okey-Spielsteine verstummt. Sofort stehen die Männer auf und begrüßen ihren Gast. Er bekommt einen Platz am warmen Ofen. “Wie geht’s?” Tee kommt auf den Tisch. Gute Frage: Wie geht’s?

Jeder Zweite ist arbeitslos. Felder werden nicht mehr bestellt. Viele sind fortgegangen, weil Fortschritt und Aufschwung hier oben in den Bergen nicht angekommen sind. Alaattin Yıldız, 43 alt und Dorfvorsteher, sagt, es werde höchste Zeit, den Konflikt beizulegen, damit auch hier endlich die Wunden heilen könnten: “Es liegt in der Hand von Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan.” Vielleicht tut sich nach den Wahlen im Juni etwas. Die Chancen standen noch nie so gut. Es ist noch so erschreckend vieles wie früher. Oft wünscht man sich genau das, wenn man nach Hause kommt. Işık aber macht das traurig. Er steht auf, verabschiedet sich und geht. Er hat genug gesehen. http://www.sueddeutsche.de/politik/kurden-im-gepaeck-die-angst-1.2418458