MENA WATCH NEWS : SACROSANCTER „HOLOCAUST“ ALS ONTOLOGISCHE KATEGORIE sui generis

Der Katechismus der Deutschen – Von Dirk Moses

 „Nichts ist „rein“. Der Holocaust ist Teil vieler Geschichten: des Antisemitismus, der massenhaften Versklavung, von Aufständen in den Kolonien und von Vertreibungen, um nur einige Beispiele zu nennen. “

  1. Dirk Moses ist Frank Porter Graham Distinguished Professor of Global Human Rights History an der Universität North Carolina in Chapel Hill. Er ist Herausgeber des Journal of Genocide Research; sein letztes Buch ist “The Problems of Genocide: Permanent Security and the Language of Transgression”, Cambridge 2021.

Die Erinnerung an den Holocaust als Zivilisationsbruch ist für viele das moralische Fundament der Bundesrepublik. Diesen mit anderen Genoziden zu vergleichen, gilt ihnen daher als eine Häresie, als Abfall vom rechten Glauben. Es ist an der Zeit, diesen Katechismus aufzugeben.

Die hitzigen Debatten über Achille Mbembes angeblichen Antisemitismus, über Michael Rothbergs Buch Multidirektionale Erinnerung oder auch Jürgen Zimmerers Von Windhuk nach Auschwitz?, lassen einen als Beobachter aus der Ferne ratlos zurück. Denn die Frage nach dem Zusammenhang zwischen dem Kolonialismus des Deutschen Reichs und dem Vernichtungskrieg der Nazis wird außerhalb Deutschlands schon seit zwei Jahrzehnten unaufgeregt verhandelt.

Bereits 2003 haben Rothberg und Zimmerer in Sydney an einer von mir organisierten Konferenz mit dem Titel „Genocide and Colonialism“ teilgenommen. Im darauffolgenden Jahr hat Zimmerer einen seiner vielen Aufsätze zur Verbindung von Kolonialismus und Holocaust in einem von mir herausgegebenen Sammelband veröffentlicht. Wenige Jahre später hatte sich unter vielen Wissenschaftlern die Annahme etabliert, dass wesentliche Aspekte des NS-Regimes und des Holocaust durch deren Beziehung zum imperialistischen Kolonialismus überhaupt erst erfassbar werden.

 

Was also ist neu? Die Gegenargumente sind es sicher nicht. Es sind dieselben, die bereits in den 2000er Jahren von Historikern wie Birthe Kundrus, Robert Gerwarth und Stefan Malinowski vorgebracht wurden. Die damalige Debatte entprovinzialisierte die historische Holocaustforschung und zwang alle Teilnehmer zu schärferem Nachdenken. Heute liegen die Dinge anders.

Die Heftigkeit der Reaktionen auf den Artikel, den Rothberg und Zimmerer am 31. März 2021 unter dem Titel „Enttabuisiert den Vergleich!“ in der Zeit veröffentlicht haben, ihr denunziatorischer, sarkastischer, herabwürdigender Ton – all dies erinnert an Häresieprozesse. Empörung tritt an die Stelle von Nüchternheit, vermutlich noch potenziert durch die Fähigkeit der Sozialen Medien, politische Emotionen zu lenken und für diese Öffentlichkeit zu schaffen. Es scheint, als ob wir zunehmend zu Zeugen von nicht weniger als öffentlichen Exorzismen werden, die unter der Aufsicht selbsternannter „Hohe

Priester“ den „Katechismus der Deutschen“ bewachen.

Der Katechismus

Dieser Katechismus besteht aus fünf Überzeugungen:

  1. Der Holocaust ist einzigartig, da er die uneingeschränkte Vernichtung von Juden um deren Vernichtung willen Im Unterschied zu den pragmatischen und begrenzten Zielen, um derentwillen andere Genozide unternommen wurden, versuchte hier ein Staat zum ersten Mal in der Geschichte ein Volk ausschließlich aus ideologischen Gründen auszulöschen.
  2. Da er die zwischenmenschliche Solidarität beispiellos zerstörte, bildet die Erinnerung an den Holocaust als Zivilisationsbruch das moralische Fundament der deutschen Nation, oft gar der Europäischen Zivilisation.
  3. Deutschland trägt für die Juden in Deutschland eine besondere Verantwortung und ist Israel zu besonderer Loyalität verpflichtet: „Die Sicherheit Israels ist Teil der Staatsräson unseres Landes.“
  4. Der Antisemitismus ist ein Vorurteil und Ideologem sui generis und er war
  5. in spezifisch deutsches Phänomen. Er sollte nicht mit Rassismus verwechselt werden.
  6. Antizionismus ist Antisemitismus.

Dieser Katechismus verdrängte um die Jahrtausendwende den vorangegangenen Katechismus, der seinerseits Werten wie der nationalen Ehre und Tradition verpflichtet war. Die Anhänger des „alten Katechismus“ verstanden den Holocaust als ein historisches Unglück, für das lediglich eine kleine Gruppe ideologischer Fanatiker verantwortlich gemacht werden könne. Diese kleine Gruppe werde nun von „Nestbeschmutzern“ instrumentalisiert, um Schmach und Schande über die Nation als Ganzes zu bringen.

Viele deutsche Familien durchlebten im Verlauf der 1960er und 1970er Jahre den Generationenkonflikt, bei dem diese ältere Vorstellung von nationaler Identität auf ein neues Selbstverständnis traf, das von den jüngeren Kohorten der 68er Generation getragen wurde. Das bedeutet nicht, dass die 68er bereits an die Einzigartigkeit des Holocaust geglaubt hätten: In ihrem antiimperialistischen Furor verglichen seinerzeit viele die Vereinigten Staaten ausdrücklich mit Nazi-Deutschland, da diese in Vietnam Krieg führten („USA-SA-SS“).

Mit den 1980er Jahren begann sich die Deutung des Holocaust als ein historisch einzigartiges Geschehen dann aber allgemein durchzusetzen. Viele linke  und liberale Deutsche begriffen nun, dass sie nach dem Holocaust nur dann als „gute Menschen“ gelten können, wenn sie diese Deutung in das eigene Selbstverständnis eingliederten, und dies auch gegenüber einer internationalen Öffentlichkeit dokumentierten. Im Historikerstreit Mitte der 1980er Jahre, in dem es um die Frage ging, ob der Holocaust als „asiatische Tat“ von den Bolscheviken provoziert wurde, setzte sich der neue Katechismus aber noch nicht durch. Er war lediglich eine frühe Episode in einer ganzen Reihe von Debatten  – etwa jener der 1990er Jahre über den Multikulturalismus, Daniel Goldhagens Buch „Hitlers willige Vollstrecker“, die Wehrmachtsausstellung oder das Holocaust Mahnmal in Berlin. In diesen Debatten führten Konservative ein Rückzugsgefecht im Namen des alten Katechismus, bei dem ihnen in erster Linie die Frankfurter Allgemeine Zeitung ein öffentliches Forum bot.

Letztlich aber mussten irgendwann auch sie einsehen, dass Deutschlands geopolitische Legitimität davon abhing, ob der neue, im Austausch mit amerikanischen, britischen und israelischen Eliten ausgehandelte Katechismus von ihnen akzeptiert wurde.

Dessen fünf Elemente sind für eine ganze Generation zu Glaubensartikeln geworden. Millionen Deutsche haben während der vergangenen Jahrzehnte verinnerlicht, dass für die sündige Vergangenheit ihrer Nation nur über den Katechismus Vergebung zu erlangen ist. Kurz gefasst impliziert der Katechismus eine Heilsgeschichte, in der die „Opferung“ der Juden durch die Nazis im Holocaust die Voraussetzung für die Legitimität der Bundesrepublik darstellt.

 

Deshalb ist der Holocaust für sie weit mehr als ein wichtiges historisches Ereignis: Er ist ein heiliges Trauma, das um keinen Preis durch andere Ereignisse – etwa durch nichtjüdische Opfer oder andere Völkermorde – kontaminiert werden darf, da dies seine sakrale Erlösungsfunktion beeinträchtigen würde. Für den Historiker Dan Diner etwa nimmt der Holocaust als Zivilisationsbruch den Platz ein, der vormals Gott zukam.

Das Bezeugen der universalen Bedeutung der Leiden der jüdischen Opfer des Völkermords wird hier zum Fundament für eine neue Welt, die, so Diner, notwendigerweise all jenen verschlossen bleibt, die durch einen „sakralen Zeitstau“ in der Vergangenheit vor der „Opferung“ verweilen. Die nationalsozialistische Moral muss negiert werden: statt „erlösender Antisemitismus,“ (Saul Friedländer) – „erlösender Philosemitismus.“

Ein Erlösungsnarrativ

Eine zentrale Rolle in diesem christologisch geprägten Erlösungsnarrativ kommt hier auch der „Wiederauferstehung“ des Opfers bei. Seit der Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten und dem Kollaps der Sowjetunion unternimmt der deutsche Staat diverse Maßnahmen, die eine „Wiederaufforstung“ von Juden in Deutschland hervorbringen sollen.

So zieht sich auch durch die Diskurse, die beispielsweise die Migration von Juden und Jüdinnen aus der ehemaligen Sowjetunion begleiteten, ein Erlösungsnarrativ, in dem die jüdischen Migranten mit den Opfern des Holocaust zu einer Figur verschmelzen und die „deutsch-jüdische Symbiose“ als bourgeoise Kulturbürger wiederherstellen sollen. Nachdem Deutschland nun nicht nur die gründlichste „Aufarbeitung der Geschichte in der Geschichte“ hinter sich gebracht hat, sondern auch Juden und Jüdinnen „wiederbelebt“ hat, kann es im Bewusstsein seiner Rolle als Leuchtturm der Zivilisation wieder stolz unter den anderen Nationen stehen und sich von der politischen Klasse Israels und den USA anerkennend den Kopf tätscheln lassen.

Den Glauben nicht zu verlieren verlangt jedoch ständige Wachsamkeit. Angeführt von offiziellen Amtsträgern mit dem beeindruckenden Titel Beauftragte:r der Bundesregierung für jüdisches Leben in Deutschland und den Kampf gegen Antisemitismus auf Bundes- und Länderebene halten die Hüter der erinnerungspolitischen Orthodoxie ständig Ausschau nach antisemitischen Häresien und Anzeichen für den Glauben an den alten Katechismus, etwa die Wiederkehr von Schlussstrichdebatten. Obwohl die Nazis als Ergebnis einer ganzen Reihe von NS-Vergangenheits-Skandalen, die bis in die 1960er Jahre zurückreichen, längst symbolisch aus der Nation-auf-Wiedergutmachungskurs ausgestoßen worden sind, hat sich die Anspannung bis heute nicht gelegt. Heute entdecken die Glaubenswächter neue Nazis, etwa Palästinenser und ihre nicht-zionistischen israelischen Freunde, die Allianzen in Deutschland und anderswo schaffen und mit den Modi des Zusammenlebens jenseits nationalstaatlicher Grenzziehungen experimentieren.

Das bislang unheilvollste Signal dafür ist der BDS-Beschluss des Deutschen Bundestags von 2019. Er verurteilt die Palestinian Boycott, Divestment and Sanctions Bewegung, weil sie – wie es in der Begründung etwas provinziell heißt – die Abgeordneten „an die schrecklichste Phase der deutschen Geschichte“ erinnere. Der Beschluss und die breite Unterstützung, auf die er traf, lässt darauf schließen, dass der politische Konsens in dieser Frage ein Spektrum von den Antideutschen bis hin zur AfD umfasst. Welche alternativen Möglichkeiten Palästinenser ergreifen können, um sich der Kolonisierung ihres Landes zu widersetzen, schien diese Politiker nicht zu kümmern: Sie fühlen, dass sie die Zustimmung der Palästinenser für ihr ethisch aufrichtiges Selbstbild und ihre internationale Reputation nicht benötigen.

Diese moralische Hybris führt zu der bemerkenswerten Situation, dass nichtjüdische Deutsche amerikanische und israelische Juden und Jüdinnen mit erhobenem Zeigefinger über korrekte Gedenkkultur und Loyalität zu Israel belehren. Das hielt jene Deutsche nicht davon ab, Disziplin zu wahren – einerseits um zu verhindern, dass Juden und Palästinenser gemeinsam Bündnisse und Allianzen schmieden, andererseits, um sogar die AfD zur Konformität zu bringen: Nach einigen Wiederbelebungsversuchen des alten Katechismus

hatte diese schließlich erkannt, dass das öffentliche Erscheinungsbild wichtig ist, um einem Verbotsverfahren aus dem Weg zu gehen. Davon abgesehen bringt die AfD Israel als ethno-nationalistischem und anti-islamischem Staat mit einer restriktiven Einwanderungspolitik eine gewisse Bewunderung entgegen. Das Klima ist mittlerweile derart angespannt, dass der oder die deutsche Autorin eines Beitrags zu einem von mir im Journal of Genocide Research veröffentlichen Forum zur Mbembe-Debatte ausdrücklich darum bat, anonym bleiben zu dürfen.

Der Erfolg der Glaubenswächter hat aber auch eine Reaktion provoziert. Die Jagd auf Häretiker hat unter den liberalen Geistern, die Deutschlands Kulturinstitutionen leiten, den Verdacht aufkommen lassen, dass die Gedanken womöglich doch nicht ganz so frei sind und sie selbst als nächstes an die Reihe kommen könnten. Deshalb starteten sie im Dezember die Initiative GG 5.3 Weltoffenheit, eine Erklärung über Meinungsfreiheit und das Recht, die Politik Israels zu kritisieren. Obwohl viele der Beteiligten Gegner des BDS sind, denken sie, dass man deshalb nicht um seinen Arbeitsplatz oder die Teilnahme am öffentlichen Leben fürchten müssen sollte. Aus demselben Grund unterstützen einige von ihnen auch die Jerusalemer Erklärung zum Antisemitismus. Letztere tritt den erschreckenden Auswirkungen der IHRA Definition entgegen, für die sich die israelische Regierung stark macht.

Die andere Perspektive der Migranten

Aufgrund der demografischen und generationellen Umbrüche wird es zugleich immer schwieriger, die Bevölkerung zu disziplinieren. Für immer mehr jüngere Deutsche spiegelt der Katechismus ihre Lebenswelt nicht wider – unabhängig von den Mühen schulischer Vermittlung. Wie ihre Altersgenossen, die in den USA und in anderen Ländern für Black Lives Matter auf die Straße gegangen sind, verstehen viele, dass Rassismus gegen Deutsche mit „Migrationshintergrund“ – und nicht nur wenn er antisemitisch ausgerichtet ist – ein allgemeines Problem ist. Sie beobachten zugleich, dass in Israel kontinuierlich rechtsgerichtete Regierungen an der Macht sind, die durch eine aggressive Siedlungspolitik die Illusion von der Zwei-Staaten-Lösung ad absurdum führen. Diese hatte es Deutschen (und US- Amerikanern) lange erlaubt, den Traum von der Vereinbarkeit von Zionismus und Gerechtigkeit für Palästina zu träumen.

Selbstverständlich bringen Einwanderer Erfahrungen und Perspektiven auf Geschichte und Politik mit, die den von Europäern so oft rezitierten, selbstgefälligen Geschichten über die Verbreitung der Zivilisation durch die Jahrhunderte hindurch nicht anhängen. Viele von ihnen dürften die Rede vom Zivilisationsbruch als schal empfinden, selbst wenn sie die unbestreitbar spezifischen Eigenschaften des Holocaust anerkennen. Wurden im Namen der westlichen Zivilisation nicht weite Teile der Welt von Europäern und US-Amerikanern erobert und Millionen von Menschen getötet, auch von Angestellten der deutschen Kolonialverwaltungen?

In Berlin treffen diese jungen Deutschen mittlerweile auf tausende junger Israelis (mit und auch ohne deutsche Staatsbürgerschaft), die hoffen, hier dem Alptraum in ihrer Heimat zu entfliehen. Berlin ist außerdem Heimat der größten palästinensischen Diaspora Europas, die sich seit den 50er Jahren durch Flucht und Vertreibung formiert hat.

Zugleich sorgt die demokratische Anarchie des Internet dafür, dass die priesterlichen Zensoren, anders als noch in den 1980er und 90er Jahren, die öffentliche Meinung kaum mehr kontrollieren können. Die Sozialen Medien schaffen Diskursräume, in die man schlecht hineinregieren kann. Obwohl ein „speaking back to power“ durch das überparteiliche Bekenntnis zum Katechismus im Zaum gehalten wird, entstehen durch die Sozialen Medien subalterne Diskursräume.

 

Gleichzeitig schlossen sich deutsche Akademiker ihren Kollegen andernorts an: Nicht länger ausschließlich an den Gedanken und Taten weißer Menschen interessiert, widmeten sie der imperialen Geschichte und der Kolonialliteratur zunehmend Aufmerksamkeit. Die „Postcolonial Studies“ sind als Feld zu komplex, um sie kurz zusammenzufassen. Ein zentraler Punkt besteht jedoch in dem Verständnis von Metropole und Kolonie als einer Einheit, in der Informationen zirkulieren, und Menschen und Kulturen durch ungleiche Machtverhältnisse konstituiert werden. Ein weiterer Punkt besteht darin, sich Rechenschaft darüber abzulegen, wie sehr Politik noch bis vor kurzem in imperialen Kategorien verstanden wurde: in Begriffen der Hierarchie von Kulturen und Zivilisationen und in historischen Analogien, beispielsweise der Nachahmung Roms.

Viele Historiker halten darum das Beharren darauf, der Holocaust habe nichts mit der Kolonialgeschichte zu tun, für genauso pervers wie die Behauptung, Antisemitismus sei etwas grundsätzlich anderes als Rassismus.

Wie Claudia Bruns gezeigt hat, überlagerten sich „Schwarz“-Sein und „Jüdisch“-Sein in den Aufklärungsdebatten über die jüdische Emanzipation, in denen „koloniale“ Lösungen für die „Judenfrage“ vorgeschlagen wurden. Wilhelm Marr, der berüchtigte Erfinder des Begriffs „Antisemitismus“, war von den rigiden Rassen-Hierarchien, die er auf seinen Reisen über den amerikanischen Kontinent in den 1850er Jahren beobachtete, inspiriert.

Das Verständnis jüdischer Präsenz in Deutschland stand im Kontext einer von Rassentheorie geprägten Weltsicht, in deren Rahmen Eroberung und Kolonisierung fremder Völker, Vorstellungen von einer Hierarchie der Zivilisation, Fortschritt und Niedergang, Überleben und Auslöschung zentrale Elemente darstellten. Jahrzehnte nach Marr lieferte, wie Historiker festgestellt haben, die deutsche Herrschaft über afrikanische Menschen mit dem Alldeutschen Verband das Modell rassischer Unterjochung, Segregation und Gewaltherrschaft. So verlangten jene Antisemiten in den 1890er Jahren etwa, dass Juden unter ein spezielles Ausländerrecht fallen sollten, während sie zur selben Zeit dafür kämpften, auf Afrikaner ein gesondertes „Eingeborenenrecht“ in den Kolonien anzuwenden.

 

Nichts ist „rein“

In Anbetracht dieser Verbindungen ist die Rede von der „Relativierung“  sinnlos: Sie scheint eher einer theologisch imprägnierten Vorstellung von der Einzigartigkeit des jüdischen „Opfers“ verpflichtet, als einer Betrachtung des Holocaust in seinem historischen Kontext. Wenn Michael Rothberg die Erinnerung an den Holocaust mit anderen historischen Traumata in Beziehung setzt, dann zeigt er dadurch, wie sehr dieses „in Beziehung setzen“ seit dem Holocaust eine globale Praxis darstellt. Erinnerung ist notwendigerweise durch rekursive Prozesse von Inklusion und Exklusion konstituiert, durch das Herstellen von Analogien und Unterscheidungen. Nichts ist „rein“. Der Holocaust ist Teil vieler Geschichten: des Antisemitismus, der massenhaften Versklavung, von Aufständen in den Kolonien und von Vertreibungen, um nur einige Beispiele zu nennen.

In der Verbindung von Aktivismus „von unten“ und Wissenschaft „von oben“ hat der Zeitgeist in den letzen Jahren eine neue Befassung mit dem Erbe des Kolonialismus in den Ländern des Westens erzwungen. Wie sind koloniale Objekte in Museen gelangt und wie können ihre Geschichten multidirektional aus Sicht von Einwandern der Diaspora, People of Colour und Vertretern der Herkunftsländer erzählt werden? Warum sind Straßen nach „Kolonialhelden“ benannt und warum stehen ihre Statuen auf prominenten Plätzen in europäischen Städten? Wie haben Institutionen, ja ganze Ökonomien von der systematischen Versklavung afrikanischer Menschen profitiert oder waren sogar abhängig von ihr? Was hatten europäische Mächte überhaupt in Afrika und in anderen Teilen der Welt zu suchen, und sollten Reparationen an die Nachfahren der Opfer dieser genozidalen Feldzüge und Hyper-Ausbeutungen gezahlt werden?

Diese Entwicklungen haben die regelmäßig zu beobachtende Reaktion provoziert, die ich an anderer Stelle „Ängste in der Holocaust- und Genozid-Forschung“ genannt habe: Eine Panik, der ikonische Status des Holocaust würde dadurch auf einen „einfach weiteren“ Genozid in der Geschichte reduziert, und das Heilige durch das Profane verunreinigt. Manche, wie Thomas Schmid in der Zeit, machen sich Sorgen über einen „Generalverdacht gegen den weißen Mann“.

Die alternde 68er-Generation erlebt den Einfluss der Postcolonial Studies als Einfall der Barbaren in Rom. Eine Debatte über diese Dinge ist an der Zeit. Anstatt aber Argumente zu liefern, wollen die Hohepriester sie als Inquisition führen, Häretiker denunzieren und den Katechismus herunterbeten.

Deutsche Eliten instrumentalisieren den Holocaust, um andere historische Verbrechen auszublenden.

Nehmen wir Claudius Seidl, der in der FAZ fragte: „War der Holocaust eine koloniale Tat?“.

In seiner negativen Antwort beharrt er darauf, dass den Deutschen wegen des Holocaust eine besondere Verpflichtung gegenüber den Juden zukommt. Von vergleichbaren Verpflichtungen gegenüber Namibiern spricht er nicht.

Als sie Reparationen für Angehörige der Opfer verlangten, verweigerte Ruprecht Polenz  diese mit dem Verweis darauf, dass man die in Namibia begangenen Verbrechen nicht mit dem Holocaust vergleichen könne. Schmid erklärt ausdrücklich: „Der Holocaust war kein Kolonialverbrechen,“ zudem sei „der ‘globale Süden‘ den Beweis schuldig geblieben, dass er für einen neuen, besseren Entwicklungsweg steht“.

Kein Wunder, dass diese Nachfahren der Opfer des deutschen Staats, deren Entwicklungsmöglichkeiten durch die genozidale kolonialistische Kriegsführung zerstört wurden, die deutsche Erinnerungskultur als rassistisch empfinden: Sie behauptet eine Hierarchie des Leidens, Abstufungen vo n Humanität und bietet gleichzeitig wenig Ansätze für Selbstreflektion.

Gerechtfertigt wird diese Hierarchie mit dem Verweis auf die vermeintliche empirische Einzigartigkeit des Holocaust: Nur Juden seien um des Tötens willen und einzig aus Hass getötet worden, während alle anderen Opfer von Genoziden aus „pragmatischen Gründen“ ermordet wurden. Während die Nazis die Slawen durch die koloniale Brille gesehen haben mögen, sahen sie die Juden durch die antisemitische Brille, was zu ihrem entgrenzten, in der Geschichte einzigartigen Kampf geführt habe. Zudem, so geht das Argument weiter: Wenn der Kolonialismus ein so bedeutender Faktor gewesen sei, warum hätten dann Frankreich und Großbritannien mit ihren weit größeren Imperien keinen Holocaust begangen?

Der Kolonialismus der Nationalsozialisten

In meinem neuen Buch The Problems of Genocide argumentiere ich, dass diese vertrauten Einwände auf einem falschen Geschichtsverständnis beruhen.

Sie ignorieren die Tatsache, dass alle Genozide durch Sicherheits-Paranoia betrieben werden.

 

Das Nazi-Reich war ein kompensatorisches Unternehmen, das permanente Sicherheit für das deutsche Volk anstrebte: nie wieder sollte das Volk z.B. einer Hungersnot erleiden müssen, wie es sie in der Blockade der Alliierten während des Ersten Weltkriegs erlebt hatte. Es ging also um den utopischen Ehrgeiz der Kontrolle über ein autarkes Territorium und seine Ressourcen und der damit verbundenen Ausschaltung innerer Gefahren für die eigene Sicherheit.

Viele Deutsche gaben den Juden und der Linken die Schuld an der Niederlage von 1918. Die Nationalsozialisten betrachteten Juden von Anfang an als Volksfeinde, die das kommende Reich durch ihre angebliche Verbindung mit den internationalen Ideologien des Liberalismus und Kommunismus gefährdeten. Historiker wissen, dass eine solche Eliminierung ganzer Gruppen in paranoiden und rachsüchtigen Kämpfen gegen „Erbfeinde“ keineswegs einzigartig und in der Weltgeschichte ein verbreitetes Muster ist.

 

Hitler und andere führende Nationalsozialisten haben derartige Muster in den Imperien der Antike wie der Moderne studiert und eine rücksichtslos moderne Version davon entworfen, um nach der Erniedrigung durch die militärische Niederlage einem wiedergeborenen deutschen Volk eine Heimat zu geben.

Wie Rom und die alten Germanen würde auch das neue Deutsche Reich die europäische Zivilisation vor der „asiatischen Barbarei“ bewahren: „dem drohenden Ansturm des innerasiatischen Ostens, dieser ewig latenten Gefahr für Europa.“ Das war in der Tat eine historische deutsche Mission, wie Hitler noch im November 1944 versicherte:

„Jahrhundertelang mußte das alte Reich seinen Kampf gegen Mongolen und später Türken mit eigenen und wenigen verbündeten Kräften führen, um Europa vor einem Schicksal zu bewahren, das in seinen Ergebnissen genauso unausdenkbar gewesen wäre, wie es heute der Vollzug einer Bolschewisierung sein würde.“ Dieser Orientalismus gehörte untrennbar zu einer dauerhaften Tradition des deutschen Okzidentalismus.

Unter den jüdischen Gelehrten, die in die Emigration gingen, waren diese Verbindungen allgemein bekannt.

Mehr als ein Jahrzehnt, bevor Aimé Césaire und Frantz Fanon darüber schrieben, verstanden sie, dass die Nazis einen europäischen Herrschaftsstil importierten, den Europäer zur Herrschaft über ihre Imperien eingesetzt hatten. Kein Zufall, dass Raphael Lemkin, der das Konzept des Genozids 1944 einführte, diesen in Begriffen des Kolonialismus definierte (es geht um die Ersetzung der ursprünglichen Bewohner durch Siedler) und dass Franz Neumann in seinem Buch Behemoth. Struktur und Praxis des Nationalsozialismus 1933-1944 (1942, 1944) den Nationalsozialismus als „rassischen Imperialismus“ bezeichnete, der die Bevölkerung zu einen versuche, indem er ihr die Beute der „Welteroberung“ versprach, was bedeutete, dass „die besiegten Staaten und ihre Satelliten auf den Status von Kolonialvölkern reduziert“ würden.

Es ist Zeit für ein inklusives Denken

Der deutsche Katechismus begreift historische Gerechtigkeit als Transaktion zwischen identifizierbaren und stabilen Völkern: Statt Juden zu ermorden, sollten die Deutschen nett und weltoffen sein. Dieser Philosemitismus sieht Juden in Deutschland weiterhin als Gäste, nicht völlig deutsch, und er begreift die jüdische Gemeinschaft als Repräsentanten eines ausländischen Staats, nämlich Israels. Während diese Verbindung in der deutschen politischen Klasse sehr geschätzt wird, sollen muslimische

Migranten sich gefälligst nicht mit Muslimen im Ausland identifizieren, um nicht dem Dschihad Vorschub zu leisten. Die Bewältigung des Zivilisationsbruchs erlaubt es, eine neue Zivilisierungsmission zu proklamieren, in deren Rahmen Migranten und deren Nachfahren dazu angehalten werden, sich mit dem deutschen Katechismus zu identifizieren, und nicht nur formell, sondern auch moralisch zu deutschen Staatsbürgern zu werden. Man fragt sich, wie diese Migranten und ihre Nachfahren den deutschen Sinn für historische Gerechtigkeit empfinden, wenn er die Verteidigung einer seit mehr als fünfzig Jahren herrschenden Militärdiktatur, unter der die Palästinenser zu leben haben, mit einschließt.

 

Keine Frage, der Katechismus hat bei der Entnazifizierung des Landes eine wichtige Rolle gespielt. Es ist gut, dass in Berlin ein Holocaust-Mahnmal existiert.

 

Aber das Land hat sich verändert. Der Katechismus ist nicht nur nicht mehr nützlich, er gefährdet inzwischen gerade die Freiheit, die die Deutschen zu schätzen vorgeben. In seinen völkischen Vorannahmen und seiner Fetischisierung der europäischen Zivilisation gegenüber den asiatischen Barbaren steckt der Katechismus voller Widersprüche, auf die jüngere deutsche und nicht-deutsche Stimmen den Finger legen. Es ist an der Zeit, diesen Katechismus zu verabschieden und die Forderungen nach historischer Gerechtigkeit auf eine Weise neu zu verhandeln, die alle Opfer des deutschen Staats und alle Deutschen – auch BPoC, inkl. Juden und Jüdinnen und Muslime und Muslimas, Einwanderer und ihre Nachfahren – respektiert.