MENA WATCH : LINKSFASCHISTEN ! Die Unschuldsvermutung? Ein Werkzeug der Klassenjustiz! – «L’affaire de Grenoble»

In einer Diskussion mit Studenten kritisiert der deutsch-französische Professor Klaus Kinzler den Begriff «Islamophobie». Kurze Zeit später benötigt er Polizeischutz

Eine Geschichte über studentischen Machtrausch, Debattenkultur in Corona-Zeiten, den Umgang mit Islamismus und das Reizwort «Cancel-Culture».Lucien Scherrer, Grenoble14.09.2021, NEUE ZÜRCHER ZEITUNG

Plötzlich rechtsextrem: Klaus Kinzler, Professor am politologischen Institut der Universität Grenoble, aufgenommen an einem geheimen Ort.

 

Am späten Abend des 25. Februar erhält Professor Klaus Kinzler eine E-Mail seines Kollegen Vincent Tournier. «Wahrscheinlich hast du die Dokumente auf Facebook gesehen. Mein Sohn hat mir sie gerade geschickt, du kannst dich geehrt fühlen.» Dokumente auf Facebook? Kinzler ist verwirrt. Er hat keinen Facebook-Account, bekommt nicht mit, was in den sozialen Netzwerken läuft.

Mit einer unangenehmen Vorahnung schaltet er den Computer ein und liest: Ein Professor am politologischen Institut der Universität Grenoble vertrete reaktionäres, rechtsextremes und islamophobes Gedankengut. Er verhöhne Millionen von Opfern, weshalb er nach Ansicht «bestimmter Student.innen» sein Recht verwirkt habe, an Diskussionen teilzunehmen. Die Universität müsse Massnahmen gegen diesen Professor ergreifen. Unterzeichnet ist der Aufruf von einer Gruppe namens Sciences Po Grenoble en lutte.

Leben unter Polizeischutz

Obwohl er einiges gewohnt ist, ist Kinzler schockiert. Er, der wegen seiner wirtschaftsliberalen Haltung bisher «nur» als Neoliberaler beschimpft wurde, soll ein Rechtsextremer sein. Für ihn, den gebürtigen Deutschen, der 1983 als junger Mann nach Frankreich auswanderte, ist dieses Wort gleichbedeutend mit Nazi. Er assoziiert es mit kahlrasierten Männern in Springerstiefeln, die Asylbewerber zusammenschlagen.

Fast noch schlimmer ist das Etikett «islamophob»: Wer es öffentlich angehängt bekommt, lebt in Frankreich gefährlich. Der Tschetschene, der am 16. Oktober 2020 den Lehrer Samuel Paty enthauptete, sah sich als Rächer aller Islamophobie-Opfer. Gleiches gilt für die Terroristen, die 2015 in der «Charlie Hebdo»-Redaktion zwölf Menschen erschossen.

Für Kinzler ist der 25. Februar der Auftakt eines Dramas, das er bis heute zu verarbeiten versucht. Die NZZ empfängt er an einem abgelegenen Ort in den französischen Alpen, er trägt eine geflickte Windjacke, Sonnenbrille und einen Sechstagebart. Die Universität ist weit weg. «Wo ich lebe, muss die Öffentlichkeit nicht erfahren», sagt er. In der Küche seiner einfachen Unterkunft stehen gebrauchte Pfannen und Teller, es riecht nach Holz und Kaffee.

Sechs Wochen lebte er unter Polizeischutz, die Beamten nahm er mit auf Ski- und Bergtouren. «Die sind hier richtig fit geworden.» Jetzt arbeitet er jeden Tag rund zehn Stunden, liest Bücher über die chinesische Kulturrevolution und schreibt selber an einem Buch. Das Manuskript trägt den Titel «L’affaire de Grenoble», im Untertitel kündigt der Autor «Reflexionen über unsere Universitäten, unser Land und unsere Zeit» an.

«Propagandawaffe der Extremisten»

Die «Affäre von Grenoble» hat nicht nur in Frankreich, sondern auch in den internationalen Medien hohe Wellen geschlagen. Zumal es hier um Themen und Phänomene geht, die die meisten westlichen Gesellschaften beschäftigen – und spalten.

Es geht um den Konflikt zwischen Aktivisten und kritischer Wissenschaft, um politisch motivierte Rassismusvorwürfe und um die Missachtung rechtsstaatlicher Prinzipien. Es geht um die Macht, die kleine, aber radikale Gruppen in einem von Angst und Opportunismus geprägten Umfeld entfalten können.

Im Herbst 2020 wird Frankreich von der zweiten Corona-Welle lahmgelegt. Das soziale Leben ist stark eingeschränkt, Begegnungen finden meist nur via Mail und Zoom statt. Die politische Stimmung ist angespannt, neben Corona sorgt der islamistische Terror für Ohnmachtsgefühle und gehässige Kontroversen. Denn das Entsetzen über den Mord an Samuel Paty hat sich noch nicht gelegt, als ein tunesischer Islamist in Nizza drei Menschen ersticht.

Die Regierung von Emmanuel Macron kündigt an, islamistische Organisationen zu bekämpfen und zu verbieten, in rechten Kreisen werden Rufe nach Guantánamo-Methoden laut, Islamisten im In- und Ausland wie Recep Erdogan decken Macron mit Islamophobie-Vorwürfen und Beleidigungen ein.

Nicht der islamistische Terror ist das Problem, sondern die Islamophobie: Demonstration in Paris, November 2020.

Just in jenen Wochen machen sich Arbeitsgruppen des politologischen Instituts der Universität Grenoble daran, eine für Januar geplante Aktionswoche «für Gleichheit und den Kampf gegen Diskriminierung» zu planen. Unter anderem sollen sich acht Studenten und zwei Professoren in virtuellen Konferenzen mit dem Komplex «Rassismus, Antisemitismus und Islamophobie» beschäftigen. Doch zwischen den beiden Professoren – Klaus Kinzler und Claire Marynower – entbrennt ein Streit.

Der Begriff «Islamophobie», so schreibt Klaus Kinzler am 30. November an alle Beteiligten, habe in diesem Aktionsprogramm nichts zu suchen. Sein Sinn sei fragwürdig, man könne sich gar fragen, ob es bloss «um eine Propagandawaffe von Extremisten geht, die intelligenter sind als wir». Seine Kollegin Marynower antwortet tags darauf, der Begriff «Islamophobie» sei in der Politik tatsächlich umstritten, aber: «In den Wissenschaften ist er es nicht.»

Debatte beendet

Klaus Kinzler, so wird eine staatliche Untersuchungskommission später feststellen, gilt unter den Studenten als guter Professor, der die Debatte liebt und manchmal die Provokation sucht, um Leute zum Nachdenken zu bewegen. Was er gar nicht mag: wenn er das Gefühl hat, jemand wolle ihm das Wort abschneiden. Empört über die apodiktische Antwort seiner Kollegin, schreibt er eine lange E-Mail, in der er sie der intellektuellen Anmassung bezichtigt und betont, die Debatte sei mitnichten geschlossen.

Tatsächlich ist der Begriff «Islamophobie» auch in den Wissenschaften umstritten. Kritiker verhehlen nicht, dass es in allen Gesellschaften Ressentiments gegen Muslime gibt. Sie warnen indes davor, den Unterschied zwischen Fremdenfeindlichkeit – die sich in Frankreich schon vor den gegenwärtigen Debatten oft gegen Araber richtete – und aufklärerischer Kritik am Islam und an einzelnen muslimischen Personen und Organisationen zu verwischen.

Denn damit legitimiere man die Versuche der Islamisten, sich mit Rassismusvorwürfen gegen jegliche Kritik zu immunisieren. «Der Begriff der Islamophobie», so schreibt etwa der niederländische Soziologe Ruud Koopmans, «unterstellt, berechtigte Sorgen und Ängste hinsichtlich des real existierenden Islam seien irrationale Formen des Hasses, und macht so Opfer zu Tätern.»

Dass diese Warnungen berechtigt sind, zeigt sich in Frankreich besonders deutlich. Hier haben Islamisten seit 2015 mehr als 200 Menschen ermordet, darunter Frauen und jüdische Schüler. Der von den Islamisten geschürte Hass hat zudem dazu beigetragen, dass Tausende Juden das Land verlassen haben. Was Islamisten nicht daran hindert, sich als Opfer und «neue Juden» zu inszenieren.

Mit Erfolg, denn nach Terrorakten ist oft zu hören, man müsse jetzt nicht über Islamismus, sondern über die Ausgrenzung der Täter und über Islamophobie reden, denn diese sei der Ursprung allen Übels. Geschürt wird dieser Diskurs von islamischen, oft islamistisch beeinflussten Gruppen wie dem inzwischen verbotenen Kollektiv gegen die Islamophobie in Frankreich, aber auch von linken Politikern, Aktivisten und Wissenschaftern.

In Grenoble eskaliert die Islamophobie-Diskussion ebenso rasch wie endgültig, als sich Anfang Dezember weitere Wissenschafter einmischen – und den Fall öffentlich machen. So publiziert die Direktion des sozialwissenschaftlichen Labors Pacte ein Communiqué. Darin wirft sie dem nicht namentlich genannten Klaus Kinzler vor, er greife die Wissenschaft und seine Kollegin Claire Marynower in ungehöriger Weise an, weshalb er sich des Mobbings schuldig gemacht habe. Der offene Brief endet mit dem Aufruf, den Begriff «Islamophobie» in den Wissenschaften zu forcieren, wegen der «Zunahme rassistischer Meinungen in unserer Gesellschaft».

Aufruf zur Denunziation

Kinzler erhält einzig Sukkurs von einer Ökonomin und von seinem Kollegen Vincent Tournier. Dieser ist bei manchen Studenten und Lehrern ebenfalls eine Reizfigur, weil er sich in seinen Vorlesungen kritisch mit islamistischen Strömungen auseinandersetzt. Die Direktorin des politologischen Instituts, Sabine Saurugger, ruft die Beteiligten wiederholt zur Mässigung auf.

Aber da linksradikale Studentengruppen wie Sciences Po Grenoble en lutte und die umtriebige Union Syndicale Sciences Po Grenoble den Fall für sich entdeckt haben, ist das zwecklos. Die Studenten fordern die Direktion ultimativ auf, den Islamophobie-Begriff als wissenschaftlich einzustufen und gegen das Duo Kinzler/Tournier vorzugehen. Tourniers Vorlesung soll gestrichen werden. Um dieser Forderung Nachdruck zu verleihen, veröffentlicht die Union Syndicale am 23. Februar einen Aufruf: Wer islamophobe Äusserungen von ihm bezeugen könne, solle diese anonym melden.

In den sozialen Netzwerken entlädt sich derweil ein wochenlanger Hasssturm gegen die beiden Professoren, von dem zumindest Klaus Kinzler lange gar nichts mitbekommt. Erst am 25. Februar sieht er dank dem Hinweis seines Kollegen Tournier, was anonyme Schreiber und Anhänger von linksradikalen Studentengruppen über ihn verbreiten. Einen Tag danach wird er in seiner Vorlesung gefragt, weshalb er Hass gegen Muslime verbreite.

Nochmals sechs Tage später hängen vor dem Eingang des politologischen Instituts Plakate. «Faschisten in unseren Vorlesungssälen», steht darauf, «Tournier und Kinzler: Rücktritt! Islamophobie tötet.» Die Bilder der Plakate gehen um die Welt, Journalisten aus dem ganzen Land reisen nach Grenoble, die Regierung kündigt eine Untersuchung an. Doch da hat sich Klaus Kinzler bereits krankschreiben lassen.

Jetzt, fast genau sechs Monate später, blickt der Professor mit einer Mischung aus Schmerz, Verwunderung und Humor auf die damaligen Ereignisse zurück, obwohl sie ihn fast umgebracht hätten. Als das französische Erziehungsministerium am 8. Mai einen 55-seitigen Untersuchungsbericht veröffentlicht, ist er derart aufgeregt, dass er die ganze Nacht liest und nachdenkt. Am nächsten Tag schläft er während einer Fahrt auf dem Velo ein und stürzt. Sechs Wochen liegt er mit einem zerfetzten Lungenflügel im Krankenhaus. «Immerhin», so sagt er, «hatte ich viel Zeit zum Lesen.»

Perverse Lust am Machtrausch

In seinem Buch, das er in Anspielung auf Klaus Kafka zuerst «Le procès de Klaus K.» nennen wollte, stellt der 62-Jährige die Ereignisse von Grenoble in einen internationalen Zusammenhang. Er verweist auf den «identitären Linksradikalismus à l’américaine», der mittlerweile innerhalb der französischen Linken dominant ist. Und den heute auch linksliberale Intellektuelle in Frankreich, den USA und anderen Ländern für ein zunehmend intolerantes, letztlich antiintellektuelles Klima in den Universitäten verantwortlich machen.

«Das politologische Institut von Grenoble war schon immer links, aber man konnte über alles reden», sagt er. «Der heutige Forscher dagegen ist im permanenten Kampf gegen Unterdrückung, abweichende Meinungen duldet er nicht.» Ermuntert von linken Professoren, gehe es jungen Sozialwissenschaftern oft nur noch darum, strukturellen Rassismus, Sexismus und Islamophobie zu beweisen. Dies mittels Zirkelschlüssen, Leugnung von widersprechenden Tatsachen und Fakten, die oft nur auf Gesprächen und Gefühlen beruhten.

Als Zeugen zitiert Kinzler den Politologen Pierre-André Taguieff. Dieser betrachtet die modischen Strömungen an den Universitäten als «senile Krankheit der heutigen Linksintellektuellen». Die Anhänger dieser Richtung charakterisiert Taguieff so: gravierende Defizite in der intellektuellen Neugier, bornierter Radikalismus, persönliche Feigheit, kombiniert mit perverser Lust am Machtrausch in der Gruppe.

Man könnte das alles als Wahnvorstellung alter weisser Männer abtun, die um ihre Deutungshoheit fürchten. Allerdings gibt es im Ausland ähnliche Fälle, in Deutschland etwa verleumdeten linksradikale Gruppen die Professoren Herfried Münkler und Jörg Baberowski. In den USA hat der Philosoph Peter Boghossian gerade seinen Rücktritt aus der Universität Portland bekannt gegeben. Den Studenten, so erklärte er, werde nicht mehr beigebracht, zu denken. Es gehe nur noch darum, die moralische Gewissheit von Ideologen nachzuahmen.

Im Fall Kinzler bestätigt der im Mai publizierte Untersuchungsbericht des französischen Erziehungsministeriums ebenfalls, dass Taguieffs Analyse der Realität manchmal ziemlich nahe kommt. Für die Untersuchung der «Affäre von Grenoble» reisen eine Generalinspektorin und ein Generalinspektor im März für mehrere Tage in die Stadt. Sie befragen Dutzende Zeugen, darunter Studenten, Professoren und Klaus Kinzler, den man an einem geheimen Ort drei Stunden vernimmt. Das Fazit der Inspektoren ist klar: Die Islamophobie- und Rassismusvorwürfe gegen Vincent Tournier und Klaus Kinzler waren haltlos und politisch motiviert.

Die Unschuldsvermutung? Ein Werkzeug der Klassenjustiz

Den Studentengruppen ging es laut dem Bericht einzig darum , zwei Professoren zu verjagen, «weil sie die einzigen ‹rechten› Professoren am politologischen Institut sind». Sie hätten mit Diffamierungen, Verdächtigungen und Denunziationsaufrufen ein Klima der Angst verbreitet. Ihre Methoden erinnerten an «dunkelste Kapitel der Geschichte».

Besonders irritiert zeigen sich die Autoren über den mangelnden Respekt für elementare Grundrechte, den manche Studenten während der Befragung offenbarten. So erklärten Vertreter der Union Syndicale, die Unschuldsvermutung sei ein Werkzeug der Klassenjustiz. Nur die Stimme der Opfer dürfe zählen, und wer Opfer angreife, müsse sofort bestraft werden.

Dieses Dogma erklärt auch, weshalb es zwischen linksidentitären Ideologen und Islamisten eine geistige Komplizenschaft gibt, die man in Frankreich «islamogauchisme» nennt. Wenn das Opfer immer recht hat und sämtliche Muslime als Unterdrückte eingestuft werden, sind auch Islamisten Opfer. Ganz egal, ob sie selber Rassisten, Sexisten, Antisemiten, Gewalttäter oder alles zusammen sind.

Die Macht, die derartige Ideologien und Denkmuster an den Universitäten und in der Gesellschaft entfaltet haben, hat in Frankreich schon in den Wochen vor der «affaire de Grenoble» für Diskussionen gesorgt. Die Ministerin Frédérique Vidal kündigte Massnahmen gegen den «Islamogauchismus» an und provozierte damit wütende Proteste. Exponenten des Nationalen Zentrums für wissenschaftliche Forschung (CNRS) behaupteten, «Islamogauchismus» existiere überhaupt nicht. Die Regierung attackiere die Freiheit der Wissenschaften.

Selbst die französische Küche ist rassistisch

Dabei trägt das CNRS zusammen mit anderen Bildungsakteuren selber zu einem Klima bei, das aktivistische und radikale Studenten in ihrem Eifer bestärkt. So sollte eine CNRS-Studie unlängst beweisen, dass die französische Küche von «kulinarischem Weisssein» («blanchité alimentaire») geprägt, also rassistisch sei. Zudem können Aktivisten darauf zählen, dass Bildungsbeamte, Professoren, Vorgesetzte und Studentenorganisationen bei Mobbing-Aktionen gegen politisch unerwünschte Personen wegschauen oder gar ermunternde Zeichen geben.

Die Unef, die grösste Studentengewerkschaft des Landes, solidarisierte sich nach der hetzerischen Plakataktion vor der Universität Grenoble öffentlich mit den Verleumdern. Das CNRS war indirekt ebenfalls in die Kampagne gegen Klaus Kinzler involviert, weil das Labor Pacte zum CNRS gehört – und dieses hat mit seinem parteiischen Communiqué massgeblich zur Eskalation beigetragen.

Radikale Studenten, das zeigt auch der Untersuchungsbericht des Bildungsministeriums, profitieren von einer Kultur der Duldung, der Angst und der Protektion. So kritisieren die Generalinspektoren, dass die Institutsdirektorin Sabine Saurugger schon früh über die Diffamierungen gegen ihren Mitarbeiter Klaus Kinzler in den sozialen Netzwerken im Bild war, ihn aber weder informierte noch die Staatsanwaltschaft einschaltete, trotz justiziablen Verleumdungen. Weiter halten sie fest, das Communiqué von Pacte hätte gar nie veröffentlicht werden dürfen.

Während sie gegen sämtliche Delegierte der Union Syndicale Disziplinar- und Strafverfahren anregen, soll Klaus Kinzler nur verwarnt werden. Er habe zwar mangelnden Respekt für einzelne Kolleginnen gezeigt und das Neutralitätsgebot in religiösen Fragen verletzt. Sein Verhalten sei jedoch durch den enormen Druck zu relativieren: Er sei in der Geschichte eindeutig das Opfer gewesen.

«Cancel Culture» wirkt, aber noch nicht wie gewünscht

In den Medien ist Klaus Kinzler oft als Märtyrer beschrieben worden, als Opfer der «Cancel-Culture», also einer Kultur der sozialen Vernichtung. Seine Gegner – unter ihnen Kollegen am politologischen Institut – weisen derweil süffisant darauf hin, dass der Begriff «Cancel-Culture» angesichts von Kinzlers Medienpräsenz einmal mehr seine Absurdität offenbare. Tatsächlich sagt Kinzler selber, er habe dank der Affäre «eine Medienmacht, die andere nicht haben». Es gibt Hunderte mehrheitlich wohlwollende Artikel, er war am Fernsehen zu sehen und im Radio zu hören. Dazu hat er rund 4000 E-Mails und 150 Briefe erhalten, fast alle davon positiv.

Statt «Gelöschte» schaffen die Anhänger der «Cancel-Culture» Medienstars. Nur: Beweist das, dass dieses Phänomen harmlos ist? Wer in der «Affäre von Grenoble» gewonnen hat, ist offen. Das zeigt sich bei einem Besuch auf dem Campus der Universität. Das politologische Institut ist ein rostbrauner Bau, vor den Büros der Professoren hängen Aufrufe der postkommunistischen Gewerkschaft CGT, ein Flyer an der Wand wirbt für eine «feministische Aktion gegen europäische Grenzen».

An diesem Spätsommertag werden gerade die Erstsemestrigen begrüsst, an einem Stand verteilen Studentengewerkschafter Traktate gegen Sexismus und Emmanuel Macron. Ihrer Meinung nach ist alles ganz anders, als es die Medien und der Untersuchungsbericht behaupten. «Es gibt Professoren, die sich sexistisch, rassistisch, homophob und antisemitisch geäussert haben», sagt ein junger Mann mit Bart und runder Brille. «Sie haben Sachen gesagt, die strafbar sind.» Warum gab es dann keine Anklage? «Weil die Direktion nichts gemacht hat.»

Dem Erziehungsministerium, so sind die Studenten überzeugt, geht es bloss um einen Schlag gegen die Gewerkschaften. «Hoffentlich kommen sie nicht durch damit.» Zwei andere Studenten, Théophile Martinet und sein Kollege, der lieber anonym bleiben will, sind dagegen erleichtert über das Eingreifen der Regierung. Martinet hat Klaus Kinzler öffentlich unterstützt, daneben war er Mitglied der liberalen Studentengruppe Agora. In den sozialen Netzwerken wurde er deswegen beschimpft, beleidigt und verleumdet.

Was, wenn die einmal Richter und Minister sind?

«Es gibt keinen Filter, keinen Dialog mehr», sagt er. Mit Corona sei alles vollends eskaliert. Martinet zeigt Screenshots von virtuellen Diskussionen, in denen zwei Agora-Mitglieder von Aktivisten beschuldigt werden, Vergewaltiger zu sein. Juristisch gab es nie ein Verfahren. Einer der Beschuldigten sah sich aufgrund der Verleumdungen jedoch gezwungen, die Uni zu verlassen.

Für Martinet und seinen Kommilitonen ist klar: Was in Grenoble passiert, ist das Symptom einer «kranken Gesellschaft», in der nicht mehr debattiert wird, weil aggressive Gruppen bestimmen. Deren Ideologie «Alle sind gut, nur die Rechten sind böse. Und rechts von François Hollande ist rechtsextrem» werde von vielen Professoren geteilt. Ihre Macht basiere aber vor allem auf dem Schweigen der Mehrheit, die ihre Ruhe haben wolle. Martinets grösste Sorge ist die: Was, wenn diese Leute einmal Richter und Minister sind?

Sabine Saurugger, die Direktorin des politologischen Instituts, will sich nicht weiter zu den Vorfällen an der Universität äussern. Thomas Mandroux, der Wortführer der Union Syndicale, wünscht sich eine «Beruhigung» und will sich derzeit ebenfalls nicht äussern, um den «von Rechtsextremen unterstützten» Klaus Kinzler und Vincent Tournier nicht noch mehr mediale Aufmerksamkeit zu schenken.

Simon Persico, ein Institutskollege Kinzlers, wirft seinem ehemaligen Freund vor, den Ruf des Instituts mit seinen Medienauftritten beschädigt zu haben. Er habe Kollegen öffentlich angegriffen und sich zunehmend rechtsextremen Positionen angenähert. Persico will aber weiter mit ihm zusammenarbeiten.

Der Staatsanwalt von Grenoble hat eine Untersuchung gegen mehrere Personen eingeleitet. Wer die Plakate vor der Uni gemalt hat, ist bis heute unbekannt. Vincent Tournier fürchtet seit den öffentlichen Verleumdungen um sein Leben, er lebt derzeit auf Französisch-Polynesien. Klaus Kinzler weiss noch nicht, ob er an die Universität zurückkehren soll. Sein Buch erscheint im Januar.