Kurdische Freiheit, kurdische Knute

Der Aufstand in Syrien bewegt auch die Kurden im Nordirak. Sie beherbergen Flüchtlinge, Kämpfer und Aktivisten. Auch die autoritäre PKK nutzt das Gebiet.

Von Markus Bickel, Arbil – FAZ – 9.11.2012 – Ahmed Ali wollte nicht kämpfen. Als die Soldaten des Assad-Regimes im September in seine Straße kamen, um ihn einzuziehen, riefen Nachbarn gerade noch rechtzeitig an, um ihn zu warnen. Schnell sprang er über die Mauer des Hauses seiner Familie und lief zum vereinbarten Treffpunkt am Rande der nordsyrischen Kleinstadt Amuda. Dort stand schon der Pritschenwagen bereit, der ihn in den Irak bringen sollte – gemeinsam mit 25 anderen jungen Männern, die ebenfalls nicht kämpfen wollen in diesem Krieg, der nicht der ihre ist.

Nachdem der Schleuser Ali und seine Gefährten abgeladen hatte, standen ihnen noch drei Stunden Fußmarsch bevor, ehe Soldaten der Autonomen Region Kurdistans sie freundlich in Empfang nahmen. Die Flucht war gelungen, die Schrecken von Verfolgung und Gängelung durch die Geheimdienste des syrischen Machthabers Baschar al Assads waren vorbei. Einen Monat später steht der 24 Jahre alte syrische Kurde auf einer Anhöhe des Flüchtlingslagers Domiz, rund 250 Kilometer östlich seiner Heimatstadt. Braune und weiße Zelte, so weit das Auge reicht, ärmlich gekleidete Frauen und Kinder unterwegs auf matschigen Wegen, die Hilfsorganisationen mit Kieselsteinen notdürftig auszubessern versuchen. Ein Plastikschild hängt um Alis Hals, Gesundheitsvermittler steht darauf. „Ich muss meinen Leuten helfen, das ist meine Pflicht“, sagt er. Die Seuchengefahr wächst, je mehr Flüchtlinge eintreffen.

Mit dem Aufstand wächst die Hoffnung auf größere Autonomie

Mehr als eine Million Menschen sind innerhalb Syriens auf der Flucht, in den Nachbarländern haben rund eine halbe Million Unterschlupf gefunden. Etwa 15.000 davon, fast alle Kurden, sind nach Domiz geflohen, zehn Minuten von der Provinzhauptstadt Dohuk entfernt. Es ist eine Flucht zu Brüdern. UN-Mitarbeiter sind begeistert über das Engagement der Regionalregierung für die syrischen Kurden. Aber das Flüchtlingslager kann den Andrang nicht bewältigen. Der Transitbereich für nichtregistrierte Neuankömmlinge am Lagerrand wächst Tag für Tag.

An diesem Vormittag hat die Schule begonnen, lachend rennen die Kinder über den frisch asphaltierten Hof zwischen den zwölf Containern, in denen der Unterricht stattfindet. Bedarf aber besteht an mehr als doppelt so vielen Klassenzimmern, sagt Joyce Gachiri vom Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen Unicef, das die Schule gemeinsam mit der kurdischen Nationalregierung errichtet hat. „Hier kann ich richtig gut Kurdisch lernen“, sagt ein 14 Jahre alter Junge, umringt von Klassenkameraden, die aus allen Teilen Syriens nach Domiz geflohen sind. „In Qamishli ging das nicht.“

Mit dem Aufstand gegen Assad wächst bei den syrischen Kurden die Hoffnung auf größere Autonomie. Zu den arabischen Aufständischen halten sie aber Distanz. Mit einer Ausnahme der Kurdischen Zukunftsbewegung des 2011 ermordeten Mischal al Tammu haben sich kurdische Parteien nicht dem Dachverband der Opposition, dem Syrischen Nationalrat, angeschlossen. Anders als viele Demonstranten in Homs, Hama, Deir al Zour oder Daraa unterstützen die kurdischen Revolutionäre auch nicht die Freie Syrische Armee (FSA), den losen Zusammenschluss der bewaffneten Aufständischen. „Die FSA beschützt die Bevölkerung innerhalb Syriens, wir Kurden kümmern uns um die kurdischen Gebiete“, sagt der Helfer Ali.

Fünf Jahre liegt der letzte Anschlag zurück

Drei Autostunden südöstlich von Domiz ist der kurdische Traum von der Hoheit über die eigenen Gebiete längst Realität. Wie ein Staatsmann schreitet Regionalpräsident Massud Barzani die Treppen des „Saad Palace“ in Arbil, der Hauptstadt von Irakisch-Kurdistan, herab, ein Dutzend Männer aus seiner Entourage hinterher. Die Teilnehmer des „Kurdischen Weltkongresses“ haben sich erhoben, aus Sicherheitsgründen durfte keiner sein Mobiltelefon mit in das Tagungszentrum bringen, penibel wurde jede Tasche nach Waffen und Sprengstoff durchsucht. Zackig hebt der Präsident der Autonomen Region Kurdistan die Hand zum Gruß, ehe er in der ersten Reihe Platz nimmt.

Angezogen in der traditionellen Kleidung der kurdischen Peschmerga-Kämpfer, wirkt er wie ein Fremdkörper in dieser Runde smarter Forscher, Ärzte und Geschäftsleute. Sie haben sich unter dem Slogan „Wissenschaft und Kultur für Fortschritt in Kurdistan“ zusammengefunden, Vorträgen mit Titeln wie „Kurdisch online: Konstruktion nationaler Identität im Cyberspace“ werden gehalten oder „Die Machbarkeit eines unabhängigen kurdischen Staates im Irak“ und „Hat Arbil das Potential, bis 2020 eine Megacity zu werden?“. Zum ersten Mal findet der Kongress in Arbil statt, das mit dem von Bombenterror und Stromengpässen gebeutelten Rest des Iraks kaum etwas zu tun hat.

Fünf Jahre liegt der letzte Anschlag zurück. Die Stadt boomt, Häusergerippe mit hohen Gerüsten an den unfertigen Fassaden prägen das vom Wildwuchs zerklüftete Stadtbild. Von der Tausende Jahre alten Zitadelle im Zentrum ist das neue Kurdistan am Stadtrand Arbils nicht nur optisch weit entfernt. Den Blick nach vorne richten, nicht in die Vergangenheit, lautet die Botschaft, die die Hauptstadt des Quasistaates im Norden Iraks ausstrahlt – auch an die 20 bis 30 Millionen Kurden, die verstreut in Iran, der Türkei und im Kaukasus leben, und natürlich in Syrien. „Der Kampf kann nicht mehr allein mit Waffen und militärisch geführt werden“, sagt Regionalpräsident Barzani, nachdem die Nationalhymne verklungen ist.

Eine Katastrophe für Ankara

In den achtziger Jahren lieferte sich seine Demokratische Partei Kurdistans (KDP) noch einen Bruderkrieg mit der Patriotischen Union Kurdistans (PUK) Dschalal Talabanis. Doch die Jahre der Unterdrückung unter Saddam Hussein liegen lange zurück. Den Sturz des Diktators 2003 nutzten die beiden zum Schulterschluss. Während Talabani die kurdischen Interessen als irakischer Präsident in Bagdad vertritt, forciert Barzani den Aufbau eines eigenen Staates: „Heute müssen wir mit demokratischen Mitteln daran arbeiten, die Unabhängigkeit zu erlangen“, ruft Barzani den Teilnehmern zu. Ihr Knowhow sei es, was Kurdistan beim Aufbau eines Staates brauche.

Mit keinem Wort erwähnt der einstige Kriegsfürst das Land, dessen Teil Kurdistan weiterhin ist. Der Irak kommt in Gesprächen in Arbil allenfalls als Fußnote vor. Die Zentralregierung in Bagdad sei ein korrupter Haufen, der die Hilfsgelder aus dem Westens verpulvere, ohne etwas aufzubauen, sagt der kurdische Außenminister Falah Bakir beim festlichen Dinner am Eröffnungsabend des Kongresses. Mehr als zwanzig Auslandsvertretungen sind in den vergangenen Jahren in Arbil eröffnet worden, darunter allein vier von Mitgliedstaaten des UN-Sicherheitsrats. Seitdem der Aufstand in Syrien die kurdische Frage ins Rampenlicht der Weltpolitik gestoßen hat, gefällt sich Barzani in der Rolle ihres Patrons. Hunderte syrisch-kurdische Kämpfer habe er ausbilden und mit Waffen ausstatten lassen, gab er im Juli bekannt. So wie der amerikanische Einmarsch 2003 den irakischen Kurden die Freiheit schenkte, könnte der Sturz Assads die seit Jahrzehnten unterdrückte Volksgruppe von Verlierern zu Gewinnern der Geschichte machen – mit freundlicher Unterstützung aus Arbil.

Für die Kurden in Iran und der Türkei wäre ein zweites selbstverwaltetes Gebiet in der Region ein Aufbruchssignal, für Ankara wäre es eine Katastrophe. Knapp neunzig Jahre nach der Konferenz von Lausanne, auf der die europäischen Großmächte die Kurden 1923 zugunsten der Türkei fallen ließen, obwohl sie ihnen drei Jahre zuvor im Frieden von Sèvres noch die Unabhängigkeit in Aussicht gestellt hatten, wittern sie nun Morgenluft. Und Barzani mischt kräftig mit: Vor einem Jahr verkündete er den Zusammenschluss von Syriens Kurdischem Nationalrat und der Partei der Demokratischen Union (PYD) unter dem Dach des Hohen Kurdischen Rats.

Ein Staat im Staat im Staat

Es ist eine Zwangsehe, die vielen Aufständischen nicht passt, gilt die PYD doch als syrischer Arm der autoritären kurdischen Arbeiterpartei (PKK). Nach dem Rückzug der syrischen Armee aus den kurdischen Gebieten im Sommer haben die Kader der von Salih Muslim Muhammad geführten PYD in vielen Gemeinden die Kontrolle übernommen, oft in Absprache mit Assads Funktionären. Nur drei Autostunden östlich von Arbil, mehrere Checkpoints und einen an Bergbächen und Obstplantagen vorbeiführenden Fußmarsch entfernt, unterhalten die mächtigen türkisch-kurdischen Verbündeten der PYD ihr Exilquartier. Drei Fahnen mit rotem Stern auf gelbem Grund und ein Porträt ihres seit 1999 inhaftierten Führers Abdullah Öcalan markieren den Übergang in die von der PKK kontrollierte Zone.

Zwei zerstörte Häuser stehen am Straßenrand, ein Milizionär grüßt auf Deutsch und winkt den Wagen durch. Hierher, ins Kandil-Gebirge, hat sich die PKK-Führung zurückgezogen, um den Angriffen der türkischen Luftwaffe zu entgehen. Erst am Donnerstag flogen Kampfflugzeuge wieder über die kurdischen Stellungen hinweg. Die türkische Armee schickte mehr als hundert Spezialsoldaten in den Norden Iraks, um die Einrichtung von PKK-Winterlagern zu verhindern.

Es ist ein Staat im Staat im Staat, den die verbotene Arbeiterpartei in den Kandil-Bergen eingerichtet hat – außerhalb der Kontrolle der kurdisch-irakischen Führung; die Zentralregierung in Bagdad hat hier ohnehin nichts zu sagen. Benannt sind die Medya-Verteidigungsgebiete nach dem kurdischen Siedlungsraum im Mittelalter. Das Gebilde ist so groß wie Belgien; bis zur iranischen Grenze sind es nur ein paar Kilometer. Von hier aus soll PKK-Chef Murat Karayilan die Operationen seiner Guerrilla in der Türkei planen. Zugleich dirigiert er die der PKK unterstellte Union der Gemeinschaften Kurdistans (KCK).

Staatszerfall als Aufstiegschance

Wegen der regelmäßigen Angriffe der türkischen Luftwaffe ist Zeki Sengali aus den Unterschlupfen der KCK-Führung oben in den Kandil-Bergen ins Tal hinabgekommen. Der Mann mit dem grauem Haar trägt einen kräftigen Schnauzbart und einen Button mit dem Bild von PKK-Führer Öcalan auf der braungrauen Uniform, ein junger Kämpfer mit Kalaschnikow und Funkgerät hat ihn begleitet. Im Schneidersitz sitzt das Mitglied im KCK-Exekutivrat im schlichten Wohnzimmer des Hauses seiner Familie und zeichnet ein Bild der „neuen Kurden“, das sich bestens einfügt in die veränderte geopolitische Gemengelage in Nahost und Nordafrika: Niemand könne die durch den Arabischen Frühling in Gang gesetzten Veränderungen kontrollieren, und niemand könne die Kurden jetzt noch aufhalten in ihrem Streben nach Freiheit und Selbstbestimmung, sagt er. „Ohne Lösung der kurdischen Frage wird es keine Demokratie im Nahen Osten geben.“

Er spricht einfache Sätze, die sich gut einpassen in die Vorstellungen der Aufständischen in den syrischen Kurdenregionen. Die Dinge in eigene Hände nehmen, sich der staatlichen Strukturen entledigen, lautet die Devise. Staatszerfall als Aufstiegschance, Zwergstaaten mit bestenfalls regionaler Führung als Zukunftsmodell. „Je mehr der autoritäre Staat geschwächt wird, desto stärker wird die Demokratie“, sagt Sengali und unterschlägt dabei, dass die syrische Schwesterorganisation der PKK gerade dabei ist, ein neues autoritäres Regime in den freien Gebieten zu errichten. Dass PKK-Kämpfer nach Syrien eingesickert seien, um die PYD dabei zu unterstützen, das Machtvakuum nach dem Rückzug von Assads Truppen zu füllen, tut er als türkische Propaganda ab.

Die vier jungen syrischen Kurden, die sich in einem der Dutzenden aus dem Boden gestampften Billighotels im Nordwesten Arbils zusammengefunden haben, haben andere Erfahrungen gemacht. Einschüchterungen, Todesdrohungen und Entführungen gehören demnach zur Tagesordnung unter der PYD-Herrschaft. Drei Tage brauchten sie, ehe die nordirakischen Behörden ihnen die Einreise in die Provinz Arbil endlich erlaubten – zuvor saßen sie in Dohuk nahe der syrischen Grenze fest. Aber die Aktivisten sind nicht aus Syrien geflohen, sondern nach Arbil zu einem Treffen zum Aufbau lokaler Jugendzentren gekommen. Woche um Woche organisieren sie in ihren Heimatgemeinden den Widerstand. Es sind Rechtsanwälte, Übersetzer und Studenten, die beim Gang in die Ämter der umkämpften Städte das Schicksal von Verhafteten herauszukriegen versuchen, den Verwundeten helfen oder mit Flugblättern und im Internet Demonstrationen organisieren.

„Waffen haben Syrien zerstört“

Schlechte Erfahrungen mit den repressiven Methoden der PYD hätten sie alle gemacht, berichten die Aktivisten in der mit Plüschsofas vollgestellten Hotellobby. Leere Zigarettenschachteln und Mobiltelefone liegen neben dem überfüllten Aschenbecher auf dem Glastisch. „Ich habe nichts davon, wenn meine Folterer künftig Kurdisch statt Arabisch mit mir sprechen“, sagt Mahmud aus Ras al Ain. Die erkämpfte Freiheit wollen sie nicht an eine neue Diktatur unter kurdischer Knute verlieren. „Mir juckt es jetzt schon in den Fingern, die nächste Freitagsdemonstration zu organisieren“, sagt Burhan aus Qamischli.

Vom Westen erhoffen sie sich eben so wenig Hilfe wie von ihren kurdischen Brüdern im Quasistaat Nordirak. Auch von einer Bewaffnung von außen, wie sie die Freie Syrische Armee fordert, versprechen sie sich nichts. Im Gegenteil: „Waffen haben Syrien zerstört“, sagt Rodi aus Aleppo. Hätte der Westen sich für die Revolution und gegen das Regime entschieden, wäre es islamistischen Milizen nie gelungen, zur treibenden Kraft innerhalb des bewaffneten Aufstands in der nordsyrischen Stadt zu werden, fügt er entschieden hinzu. „Mit unserer Revolution haben diese Leute nichts zu tun.“

http://www.faz.net/aktuell/politik/arabische-welt/kurden-im-nordirak-kurdische-freiheit-kurdische-knute-11954636.html