Kurden Vier Kriege und ein Traum

DIE ZEIT 11.10.2012 – Die Kurden sehnen sich nach einem eigenen Staat. Inmitten der Krisen in Syrien, Irak und Iran könnte ihr Wunsch in Erfüllung gehen.

Es gibt für jedes Volk mythische Orte. Sie stiften Identität, sie bieten Schutz – manchmal im wörtlichen Sinn. Für die Kurden ist es das Kandil-Gebirge, eine ebenso schöne wie schroffe Landschaft im Dreiländereck Iran, Irak Türkei. Hierher haben sich kurdische Kämpfer immer wieder zurückgezogen, wenn sie in Bedrängnis gerieten. Hier ruhen sie sich aus und rüsten für eine neue Runde in einem scheinbar endlosen Kampf.

Feinde gab und gibt es viele. Die irakische Armee des Diktators Saddam Hussein, die Soldaten der Islamischen Republik Iran, die Generäle des türkischen Präsidenten Tayyip Erdoğan – sie alle wollten kurdischen Kämpfern in Kandil den Garaus machen. Sie versuchte es mit Soldaten, mit Kampfbombern, mit Artilleriebeschuss. Vergeblich. Das Gebirge bleibt bis heute in der Hand kurdischer Guerillagruppen. Die wenigsten von ihnen erfüllen auch nur annähernd das Bild der progressiven Freiheitsbewegung, das sie selbst gern von sich zeichnen. Und in der Vergangenheit haben sie sich oft genug in Bruderkämpfen zerfleischt. Doch das ändert nichts daran, dass Kandil Symbol geworden ist für den zähen Freiheitswillen eines Volkes ohne Staat.

In dieser Region ist alles ins Rutschen gekommen. Syrien zerfällt, der Irak ist de facto geteilt, der Iran steht unter harten Sanktionen und muss mit einem Angriff seitens Israels und der USA rechnen. Grenzen, die seit 1919 bestehen, könnten sich auflösen. Die kurdischen Puzzleteile, die jahrzehntelang in die Staatskörper Syriens, der Türkei, des Iraks und des Irans eingeschweißt waren, lockern sich und geraten in Bewegung. Sie könnten sich zusammenfügen zu einem vereinten kurdischen Staat. Das ist der uralte Traum der Kurden, gleichzeitig ist es der Alptraum für die betroffenen Staaten, besonders für die Türkei mit ihren rund 20 Millionen Kurden.

Im Kandil-Gebirge wehen zurzeit die Flaggen der kurdischen Arbeiterpartei PKK, aufgepflanzt auf einem weithin sichtbaren Hügel. Ihr Führer Abdullah Öcalan wurde 1999 von einem türkischen Gericht zu lebenslanger Haft verurteilt wurde. Öcalan war über viele Jahre Ankaras Staatsfeind Nummer eins. Am Eingang zum Gebirge steht sein Abbild, in frischen Farben gemalt. Es ist ein der Türkei trotzig hingeworfener Fehdehandschuh: Ihr könnt ihn wegsperren, für uns bleibt er unser Führer! Ein bewaffneter Wachposten der PKK kontrolliert die Papiere, notiert Namen und Autokennzeichen von Reisenden so penibel wie ein offizieller Grenzbeamter. Weiter oben, am Fuße eines Berges, der sich jäh in die Höhe schwingt, empfängt Schersad Kanandschak in einem Unterstand, umgeben von einem Dutzend Kämpfern, Männern wie Frauen. Jenseits der Grenze schießt die iranische Artillerie ein paar Salven ab, und über die Gebirgskette schwappt ein Grollen wie von einem nahenden Gewitter. Kanandschak bleibt ungerührt, nur sein riesiger Schnäuzer zuckt kurz. Er ist iranischer Kurde und ein Kommandant der Partei für ein freies Leben in Kurdistan, kurz PJAK. Sie ist der iranische Ableger der PKK. Kanandschak sagt, er kämpfe seit Studententagen für eine Autonomie der zwölf Millionen Kurden im Iran. Autonomie, sagt er ausdrücklich, nicht Sezession – doch das muss in diesen Tagen nicht viel heißen.

 

Kanandschak ist zwar iranischer Kurde, der vorgibt, für die Autonomie seines Volkes im Iran zu kämpfen, doch angesichts der sich auflösenden Grenzen baut auch er an einem kurdischen Staat mit. Das Kandil-Gebirge ist dabei ein kleiner, aber wichtiger Stein in einem komplexen, nur in Umrissen bestehenden Gebäude. Es ist in der Diktion der PKK eine befreite kurdische Zone.

Zonen wie diese vermehren sich, seit der Aufstand in Syrien begonnen hat und der syrische Präsident Baschar al-Assad sich mit allen Mitteln an die Macht klammert. Assad hat seine Truppen aus den kurdischen Gebieten im Norden Syriens zurückgezogen, teils aus purer Not, denn er braucht seine Soldaten anderswo; teils aus Kalkül. Als die Soldaten Assads abzogen, übernahmen die Kämpfer der Partei der Demokratischen Union (PYD) die Kontrolle. Die syrische PYD ist wie die iranische PJAK ein Zweig der PKK – und diese wiederum pflegt von jeher enge Beziehungen zum syrischen Regime. In den Jahrzehnten kurdischer Kämpfe waren die verschiedenen Befreiungskämpfer nie zimperlich bei der Wahl von Bündnispartnern. Der Feind meines Feindes ist mein Freund – so lautete die Devise. PKK-Chef Öcalan hatte jahrelang Zuflucht in Syrien gefunden, wo Baschars Vater, Hafez al-Assad, lange seine schützende Hand über ihn hielt. Erst als die Türkei 1998 Damaskus mit Krieg drohte, wurde Öcalan ausgeliefert. Doch noch heute verrichtet die PYD das Geschäft Assads. Ihre Kämpfer verhinderten, dass nach dem Abzug der syrischen Soldaten die Aufständischen der Freien Syrischen Armee in dieser Region Fuß fassen konnten. Assad benutzt die »befreiten« syrischen Kurden als Drohkulisse gegen Tayyip Erdoğan, einen seiner schärfsten Gegner. »Sieh her, was entsteht, wenn ich gestürzt werde: ein unabhängiges Kurdistan!« So lautet die unausgesprochene, aber unmissverständliche Botschaft Assads an Erdoğan. Dieser antwortet mit Drohungen. Er werde ein autonomes Kurdengebiet in Syrien mit militärischen Mitteln verhindern. Im Südosten der Türkei kommt es immer häufiger zu Gefechten zwischen der türkischen Armee und der PKK. Die kurdische Guerilla fühlt sich stark genug, um in die Offensive zu gehen.

In diesem Drama, das die ganze Region erfasst hat, tritt ein Akteur auf den Plan, der zwar noch jung ist, aber bereits über beträchtliches Gewicht verfügt. Die Rede ist von der Autonomen Region Kurdistan im Irak.

Die Fahrt vom Unterstand des kurdischen Kommandanten Kanandschak in die Hauptstadt des Autonomen Kurdistans, Erbil, dauert nur ein par Stunden. Es ist eine Zeitreise in eine mögliche Zukunft der Kurden. Im Kandil-Gebirge herrschen die Kargheit, Härte und Düsternis eines Guerillakrieges mit Schulungen, militärischen Drills und den Bildern gefallener Kämpfer an den Wänden der Unterkünfte. Die Straßen Erbils hingegen vibrieren vor Lebens- und Konsumlust. Dicke Geländewagen schieben sich durch die Stadt, vorbei an Baustellen, in denen immer prächtigere Häuser entstehen. Vor etwas mehr als zwanzig Jahren mussten viele der Bewohner, verfolgt vom Saddam Hussein, hungernd und frierend in die Berge flüchten. Heute gehen sie – sofern sie es sich leisten können – in die Family Mall, um zu shoppen, den neuesten Hollywood Blockbuster zu sehen oder eine Runde auf dem hauseigenen Eislaufplatz zu drehen. Die Einnahmen aus Ölquellen und Gasfeldern füllen die Kassen Kurdistans und die Geldbeutel seiner Bürger.

Erbil ist gleichzeitig Boomtown und Modell. Welcher syrische, iranische oder türkische Kurde möchte nicht so leben wie seine Brüder und Schwestern im Norden des Iraks, frei von Armut und Verfolgung? Dieses Gebilde der Autonomen Region, hervorgegangen aus dem amerikanischen Krieg gegen Saddam Hussein und heute Teil der föderalen Republik Irak, kommt der Idee eines unabhängigen friedlichen Kurdistans am nächsten. Und paradoxerweise haben ausgerechnet Kurden, die immerzu als Quelle der Instabilität gelten, damit in einer von Krisen und Kriegen gebeutelten Region eine Insel der Stabilität geschaffen. In der Autonomen Region herrscht nicht nur Wohlstand, es herrschen auch Sicherheit und politische Stabilität. Das letzte Attentat gab es im Jahr 2005. Das ist ein Standortvorteil, der ihnen ökonomische und politische Perspektiven eröffnet. Kurdistan ist Brückenkopf für eine internationale Business-Community. Über tausend türkische Unternehmen haben nach Auskunft der kurdischen Regierung in der Autonomen Region Kurdistan Niederlassungen eröffnet. Das ist von besonderer Bedeutung, denn vor allem die türkische Regierung blickt mit Argwohn auf den Nordirak.

Der Erfolg Kurdistans ist Ergebnis von kluger Politik und einer historischen Zufälligkeit. Die beiden zentralen Führungsfiguren, Dschalal Talabani und Massud Barsani, haben die Chance entschlossen genutzt, die sich ihnen durch den Sturz Saddam Husseins 2003 eröffnet hat. Noch in den neunziger Jahren hatten sie einen Krieg gegeneinander geführt. Heute teilen sie sich einträchtig die Macht. Talabani vertritt die Interessen seines Volkes in Bagdad, wo die verfeindeten Sunniten und Schiiten ihm, dem Kurden, das Amt des Präsidenten überlassen haben. Barsani ist Präsident Kurdistans. Beide haben begriffen, dass nur Einheit die kurdische Sache voranbringt. Worin diese Sache besteht, ist klar: einem selbstständigen kurdischen Staat. Die Frage ist nur: in welchen Grenzen?

Die Regierung in Erbil weiß, welche kalte Angstschauer dieser kurdische Traum bei den Nachbarstaaten auslöst. »Wir sind Realisten«, sagt Fuad Hossein, der Kabinettschef des Präsidenten der Autonomen Region Kurdistan: »Wir wissen, in welchem Umfeld wir leben!« Keine voreiligen Schritte, keine unnötigen Provokationen und gleichzeitig unbeirrbar und geschlossen seinen Weg gehen. Das ist die Politik Kurdistans – und sie trägt Früchte.

Wenn Hossein von dem liberalen Investitionsgesetz schwärmt, das seine Regierung verabschiedet hat, von den besten Aussichten, gute Geschäfte zu machen, bietet er Kurdistan geschickt als zuverlässigen Partner an. Seine Botschaft richtet sich vor allem Richtung Ankara. Das irakische Kurdistan soll für die türkische Wirtschaft ein verlässlicher Rohstofflieferant werden. Ankara verhandelte bisher immer mit der irakischen Zentralregierung in Bagdad. Es will damit bedeuten: Für uns bleibt Kurdistan Teil des Iraks. Doch die Positionen weichen sich auf. Es gibt in der Türkei eine mächtige Lobby, die auf die beträchtlichen ökonomischen Vorteile einer Zusammenarbeit mit Erbil hinweist. Immerhin kann Kurdistan die Türkei stabil mit Öl und Gas beliefern. Bisher wurde das gesamte Netz irakischer Pipelines zentral aus Bagdad gesteuert. Die kurdische Regierung will nun eine eigene Pipeline bauen, die Türken haben nach langem Zögern beschlossen, sich an dem Projekt zu beteiligen.

Der fortschreitende Zerfall Syriens nun bringt die Autonome Region Kurdistan auch als politischen Partner für Ankara ins Spiel. Angesichts der um sich greifenden Gewalt im Südosten der Türkei sowie der sich herausbildenden »freien« kurdischen Zone in Syrien braucht der türkische Ministerpräsident Tayyip Erdoğan Ansprechpartner, die vor allem auf die PKK Einfluss nehmen können. Er setzt dabei auch auf Erbil. Zu seinem Parteitag hatte er als Gast Kurdistans Präsidenten Massud Barsani eingeladen. Sein Außenminister war bereits zweimal in Erbil zu Besuch. Gern macht das Erdoğan sicher nicht, doch er hat nicht viele Optionen – und die PKK ist für ihn das schlimmere Übel als Barsani.

Ob Barsani auf die PKK Einfluss ausüben kann, bleibt abzuwarten, denn die Macht der PKK ist derzeit groß, und sie kann auf die Unterstützung aus Damaskus zählen. An Erbil führt trotzdem kein Weg vorbei. Barsani und Talabani könnten zu einer Art Schutzpatron der knapp zwei Millionen syrischen Kurden für die Zeit nach Assads Sturz werden. Das wäre dann ein weiterer Stein im großen kurdischen Puzzle.

Wie man kurdische Rebellengruppen für eigene Zwecke einsetzen kann, wissen Barsani und Talabani durchaus. Es gibt neben der PKK und ihren Ablegern noch andere Organisationen, die für die Freiheit der Kurden kämpfen. Sie sind schwächer als die PKK und abhängig vom Wohlwollen Barsanis. Zwei dieser Gruppierungen haben auf Barsanis »Staatsgebiet« ihr Quartier aufgeschlagen: die Demokratische Partei Kurdistan–Iran und die Komala, eine Gruppe marxistisch-leninistischer Provenienz, die sich sozialdemokratisch gewendet hat. Beide Organisationen kämpfen seit Jahrzehnten gegen das Regime in Teheran, doch der Erfolg der PKK hat sie an den Rand gedrängt. Militärisch sind sie zurzeit nicht aktiv, sie bilden jedoch in ihren Lagern Kämpfer aus, unterrichten sie in kurdischer Geschichte und bereiten sie damit auf eine Rückkehr in den Iran vor. Die Ausbildungsstätten liegen weit weg von den Grenzen, im Abseits der großen Geschichte, die sich gerade vollzieht. Doch irgendwann könnte auch ihre Zeit kommen, vielleicht, wenn es zum Krieg Israels und der USA mit dem Iran kommt. Barsani und Talabani hätten dann auf diesem Feld ein schon ein paar Figuren aufgestellt. Und so könnte sich das kurdische Puzzle irgendwann zu einem großen Ganzen fügen.

http://www.zeit.de/2012/41/Kurdistan-Reportage/seite-2