Kurden in Syrien : «Diese Freiheit will ich nicht»

NEUE ZÜRCHER ZEITUNG 4.9.2012 – Inga Rogg – In einigen Kurdengebieten im Nordwesten Syriens hat ein Ableger der türkischen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) die Macht übernommen. Die Lage versetzt Kritiker des Asad-Regimes in Angst und Schrecken.

Schmucke Häuser schmiegen sich eng an die Hügel in der bukolischen Landschaft. Bauern sind mit ihren Traktoren unterwegs. In Olivenhainen leuchten die gelbroten Früchte von Granatapfelbäumen. Auf einem Feld ernten Frauen Zwiebeln, auf einem anderen laden Männer Säcke mit frischen Tabakblättern auf einen Eselskarren. Afrin, ein Landkreis im Norden der Provinz Aleppo, ist eine mehrheitlich kurdische Region. Asads Regime hat hier wie in den meisten kurdischen Gebieten entlang der Grenze zur Türkei seine Leute in den letzten Monaten abgezogen. Wenige Kilometer westlich von Afrin, der gleichnamigen, rund 44 000 Einwohner zählenden Hauptstadt des Landkreises, gibt es noch eine Militärbasis, auf der rund 400 Soldaten stationiert sein sollen. Doch Angriffe müssen die Bewohner von ihnen derzeit nicht befürchten. Zum ersten Mal in ihrer Geschichte stehen die syrischen Kurden davor, ihre langersehnte Autonomie zu verwirklichen. Doch der Schein trügt.

Kooperation mit dem Regime?

Comerd Hamdosh ist ein Aktivist der ersten Stunde. Vor drei Jahren gründete er die erste kurdische Menschenrechtsorganisation in Afrin. Als im Vorjahr die Revolution ausbrach, organisierte er Demonstrationen. Mehrere tausend seien damals dem Aufruf gefolgt, sagt er. Soldaten schossen auf die Demonstranten, er wurde gejagt. Hamdosh liess sich nicht einschüchtern. Eineinhalb Jahre später, ausgerechnet jetzt, da das Regime weg ist, hat der 22-Jährige erstmals Angst. «Ich fürchte niemanden, aber vor der PKK habe ich Angst.»

Die PKK, die türkisch-kurdische Arbeiterpartei Kurdistans, gibt es in Afrin offiziell nicht. Das Sagen hat hier die Parti Yekiti Demokrat (Partei der Demokratischen Union – PYD). Seit dem Rückzug des Regimes regiert in den kurdischen Gebieten eine sogenannte Hochkommission, der neben der PYD auch die im Kurdischen Nationalrat vereinten 16 Parteien angehören, die eher der Regierung des kurdischen Teilstaats im Nordirak nahestehen. Zumindest in Afrin ist das reine Theorie. Auf den öffentlichen Gebäuden wehen die grün-rot-gelben Kurdistan-Fahnen der PKK. Obwohl die PYD ihre Eigenständigkeit betont, ist ihre Nähe zur PKK kein Geheimnis. «Der Sieg von West-Kurdistan ist ein Sieg des politischen Weges unseres Führers Apo», dröhnen die Worte der Co-Vorsitzenden Asia Abdulla aus einem Lautsprecher. Sie ist nach Afrin gekommen, um der Öffentlichkeit die Politik ihrer Partei zu erklären. Rund fünfhundert Einwohnerinnen sitzen auf weissen Plasticstühlen auf einer Strasse, um der Frau in schwarzer Hose, kariertem Hemd und Rossschwanz zu lauschen. Hinter ihr hängt ein Porträt des inhaftierten PKK-Chefs Abdullah Öcalan alias Apo. Bis 1998 hatte das syrische Regime die PKK gegen die Türkei unterstützt. In der Türkei heisst es, Asad habe nun als Rache für die türkische Unterstützung der Rebellen der PYD und damit der PKK das Feld überlassen. Angeblich soll es ein geheimes Abkommen zwischen Asad und der PYD geben. Abdulla bestreitet das. «Es gibt keine Vereinbarung mit dem Regime», sagt die Chefin im Gespräch. «Weder das Regime noch die Opposition haben die Kurden anerkannt. Deshalb stehen wir auf keiner Seite. Wir verfolgen eine unabhängige Politik.» Als dritten Weg bezeichnet Abdulla diese Politik. Ihre Partei habe gegen das Regime gekämpft und in den letzten eineinhalb Jahren alles getan, um Blutvergiessen in den kurdischen Gebieten zu verhindern.

Offensive der Arbeiterpartei Kurdistans in der Türkei

Bei einem Angriff von Rebellen der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) auf einen Sicherheitskomplex im Südosten der Türkei und anschliessenden Gefechten sind rund 30 Personen umgekommen. Laut dem Gouverneur der an der Grenze zum Irak gelegenen Provinz Sirnak, Özkan, hatten die Rebellen der PKK am späten Sonntagabend mehrere Militärstellungen und einen Polizeiposten in Beytüssebap angegriffen.

Die Kleinstadt Beytüssebap liegt nur rund 15 Kilometer von der irakischen Grenze entfernt. Das Hauptquartier der PKK befindet sich auf der anderen Seite der Grenze in den Kandil-Bergen. Von dort sind in den letzten Wochen offenbar Hunderte von Kämpfern in die Türkei eingesickert. Sie starteten eine Offensive, in deren Rahmen es bereits in den letzten Wochen zu schweren Kämpfen kam. Die Rebellen brachten zeitweise einige Dörfer unter ihre Kontrolle. Die Kämpfe forderten Dutzende von Toten sowohl auf der Seite der angreifenden PKK wie auch auf der Seite der türkischen Streitkräfte.

Am Montag habe ein Selbstmordattentäter versucht, von Syrien aus in die Türkei einzudringen, berichteten türkische Medien. Nach einem Schusswechsel habe sich der Täter in die Luft gesprengt, fünf Personen seien verletzt worden.

Die mit der PKK verbündete Parti Yekiti Demokrat (Partei der Demokratischen Union – PYD) hat in den letzten Wochen mehrere von den Kurden bewohnte Gebiete in Syrien unter ihre Kontrolle gebracht. Ankara machte klar, dass es PKK-Basen in Syrien nicht hinnehmen will. Derzeit ist die PYD vor allem damit beschäftigt, ihre Kontrolle in Syrien auszubauen. Mit einem Einmarsch würde die Türkei der PKK indirekt einen Dienst erweisen. So gespalten die syrischen Kurden sind, in einem Punkt sind sie sich einig. Für sie ist die Türkei ein genauso schlimmer Feind wie das Regime Asad.

Vorgehen gegen Kritiker

Tatsächlich könnte es auch andere Gründe für den Rückzug der Truppen des Regimes geben. Asad braucht die Truppen anderswo und will die Brücken zu den Kurden, die rund zehn Prozent der Bevölkerung bilden, nicht völlig abbrechen. Zudem spielt ihm die Spaltung der Kurden in die Hand. Die PYD setzt derzeit alles daran, ihre Macht zu zementieren. Ihre Anhängerschaft ist beträchtlich. Tausende von syrischen Kurden kämpften aufseiten der PKK. Heute setzt die PYD mit totalitären Mitteln ihren Machtanspruch durch.

«Unsere Meinung können wir nicht frei äussern», sagt der Student Sipan Ahmed. Auch er hat gegen das Regime demonstriert. Heute trauen sich die Aktivisten nicht mehr auf die Strasse. Mehrfach haben PYD-Schlägertrupps Demonstrationen von Aktivisten zur Unterstützung der syrischen Revolution angegriffen, wie Vertreter von anderen Parteien bestätigen. Vor zwei Monaten tauchten vor dem Krankenhaus der Stadt die von Folterspuren gezeichneten Leichen von drei bekannten Kritikern der PYD auf, die nach einer Schiesserei von PYD-Anhängern festgenommen worden waren. Als wir eine Verwandte der Familie befragen wollen, tauchen mehrere Männer auf, die in Afrin als PYD-Sympathisanten bekannt sind. Ein junger Aktivist, der die erste kurdische Zeitung von Afrin herausgab, wurde nach eigenen Angaben bedroht. Aus Sorge um seine Familie schweigt er. Er habe Angst, sagt Kameran Hassan von der kurdischen Fortschrittspartei.

Dabei wollen alle Kurden von Afrin im Grunde genommen das Gleiche: die Anerkennung als Kurden, Unterricht in eigener Sprache und eine möglichst grosse Autonomie. Stattdessen fürchten inzwischen viele einen kurdisch-kurdischen Krieg. «Für die PYD geht es nur um Apo», sagt Comerd Hamdosh. «Wenn das alle Freiheit sein soll, dann will ich diese Freiheit nicht.»

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