KRITISCHES KURDWATCH INTERVIEW MIT SALIH MUSLIM MUHAMMAD (PYD)

Salih Muslim Muhammad, Vorsitzender der PYD:  »Wir sind frei und unabhängig, und wir verfolgen eine eigene Strategie«

KURDWATCH, 4. Juni 2013 – Salih Muslim Muhammad (geb. 1951, Chemieingenieur, verheiratet, fünf Kinder) ist seit 2010 Vorsitzender der Partei der Demokratischen Union (PYD), der syrischen Zweigstelle der PKK. Im Gespräch mit KurdWatch äußert er sich unter anderem zum Verhältnis zwischen PYD und syrischem Regime.

KurdWatch: KurdWatch liegt ein Protokoll des Luftwaffengeheimdienstes vom 3. November 2011 vor, in dem es heißt, dass Sie und der Nationale Zusammenschluss der Kräfte des Demokratischen Wandels erklärt haben, nicht den Sturz, sondern eine Reformierung des Regimes zu wollen. Außerdem werden sie mit den Worten zitiert, sie würden Baschar al‑Assad im Falle seines Rücktritts und einer erneuten Kandidatur wählen.
Salih Muslim Muhammad: Das ist nicht richtig. Seit dem 17. September 2011 fordert die PYD den Sturz des Regimes und aller seiner Symbole.

KurdWatch: Also stimmt es auch nicht, dass Sie gesagt haben, sie würden bei einer erneuten Kandidatur des Präsidenten die Kurden dazu aufrufen, ihn zu wählen?
Salih Muslim Muhammad: Nein, das stimmt nicht, ich habe nichts dergleichen gesagt.

KurdWatch: An anderer Stelle werden sie mit den Worten zitiert, dass sie nicht die Schabbiha des Regimes und kein Werkzeug gegen die Türkei seien, dass sie aber strategische Beziehung mit dem Regime unterhalten.
Salih Muslim Muhammad: Nein, ich habe nicht gesagt, dass wir strategische Beziehungen zum Regime unterhalten. Wir haben jedoch immer gesagt, dass wir keine Schabbiha sind, und kein Werkzeug in der Hand von irgendjemandem gegen irgendjemand anderen. Wir sind frei und unabhängig, und wir verfolgen eine eigene Strategie. Wir waren 2011 nur Teil des Zusammenschlusses der Kräfte des Demokratischen Wandels. Wir waren in Damaskus, aber wir haben damals zu niemandem Beziehungen gepflegt, außer zu den kurdischen Parteien.

KurdWatch: Haben Sie zu einem anderen Zeitpunkt Beziehungen zur Regierung aufrechterhalten?
Salih Muslim Muhammad: Nein, vor 2011 wurde ich gesucht. Mit dem Regime hatten wir keinerlei Kontakt. Der Zusammenschluss der Kräfte des Demokratischen Wandels hat ein Treffen mit dem Präsidenten wegen der Militäroffensive abgelehnt.

KurdWatch: Sie vertrauen vielen der bewaffneten Gruppen nicht, die gegen das Regime kämpfen, insbesondere dann nicht, wenn sie Ambitionen in den kurdischen Gebieten haben. Gleichzeitig sind die PKK und ihr Chef Abdullah Öcalan lange vom Assad-Regime unterstützt worden. Sind Ihre Interessen und die Interessen des Regimes nicht auch jetzt identisch?
Salih Muslim Muhammad: Der Ausgangspunkt Ihrer Argumentation ist falsch. Die PKK war nie aufseiten des Regimes. Ich war ein PKK‑Sympathisant, ich traf Präsident Öcalan viele Male. Der Präsident hat immer gesagt, dass unsere Beziehung zum Regime dem Ritt auf einem Löwen gleicht. Wenn du hinunterfällst, wenn du einen Fehler machst, gehst du unter. Er sagte, dass wir auf diese Weise mit Syrien umgehen. Deshalb stimmt die Theorie von der Unterstützung des Regimes nicht. Ich kann weitere Beispiele nennen, zum Beispiel die Mahsum-Korkmaz-Akademie in der Bekaa-Ebene im Libanon. Die PKK hat das Lager ganz alleine erobert, niemand hat es ihr geschenkt. Das Regime hat der PKK ein einziges Zugeständnis gemacht: Die Syrer sagten, es gibt hier zweiundsiebzig Büros der PLO, euch können wir ein Büro geben, unter der Bedingung, dass ihr in Syrien nicht tätig werdet. Es blieb bei dieser Bedingung, trotzdem sind PKK‑Mitglieder unter die Bevölkerung gegangen, sie waren aktiv und sie kamen ins Gefängnis. Ich war selbst einer dieser Gefangenen. Ich war in allen Gefängnissen der syrischen Geheimdienste, meine Nachrichten finden sich an den Gefängniswänden. Tausende von uns waren inhaftiert. Da ist es doch ungerecht, wenn man von syrischer Unterstützung redet. Vorurteile sind die eine Sache, aber die Realität ist etwas anderes. Dennoch, es gab eine Beziehung zwischen Syrien und der PKK, von der beide Seiten profitierten. All das wurde 1998 durch das Adana-Abkommen [zwischen Syrien und der Türkei] zunichtegemacht. Nach dem Abkommen wurde jeder Kämpfer, der verletzt aus den Bergen [in der Türkei] zurückkommen wollte, verhaftet und an die Türkei ausgeliefert. Zweihundert PKK‑Mitglieder wurden der Türkei übergeben. Es blieb kein einziges PKK‑Mitglied in Syrien. Die Freundschaft Assads mit der Türkei vollzog sich auf Kosten der Kurden. Später sagten sie uns, sie würden die Fehler der 1990er Jahre [die Zusammenarbeit mit der PKK] nicht wiederholen. Nachdem wir 2003 die PYD gegründet haben, waren wir bis 2011 in den Gefängnissen, in den Kellern. Wir haben Märtyrer an das Regime verloren. Du kannst natürlich all das vergessen und sagen, wir haben mit unseren Henkern zusammengearbeitet.

KurdWatch: Was ist mit den letzten zwei Jahren? Gab es da keine Beziehungen und gemeinsamen Interessen zwischen der PKK und dem Regime? Was ist zum Beispiel mit den angeblichen Kämpfen in Tall ʿAdas (Gir Zîro)]. Etwa dreihundert syrische Soldaten wurden von YPG‑Kämpfern umzingelt, es gab Kämpfe, am Ende haben die Soldaten aufgegeben und Sie haben das Ölfeld unter ihre Kontrolle bekommen. Erstaunlicherweise gab es auf keiner Seite Tote. Die syrische Luftwaffe hat nichts unternommen, um Ihre Truppen zu unterstützen. Was war da wirklich los?
Salih Muslim Muhammad: Lass mich die wahre Geschichte von Gir Zîro erzählen. Gir Zîro ist ein strategisch wichtiges Gebiet, wir wollten, dass die Einheit von dreihundert Soldaten es verlässt. Deshalb haben wir ein Embargo gegen sie verhängt. Ich war selbst dort, ich saß mit den Arabern, mit den Stammesführern zusammen. Wir sagten ihnen, dass wir keinen Krieg gegen sie führen, wir wollten nur, dass die Soldaten verschwinden. Wir haben die Araber überzeugt und deshalb haben wir gewonnen. Und wenn es heißt, dass niemand ums Leben kam, dann stimmt das nicht. Ein Offizier wurde getötet. Die anderen Soldaten standen unter Embargo, und die Stämme, die ihnen helfen wollten, haben verloren. Wenn Sie sagen, es gab keine Schlacht, keiner ist getötet worden und das Regime hat nicht angegriffen, das stimmt nicht.

KurdWatch: Warum hat die syrische Regierung, vor allem die syrische Luftwaffe, ihre Soldaten in einem strategisch so wichtigen Gebiet nicht unterstützt? Warum wurden Ihre Kämpfer nicht aus der Luft bombardiert?
Salih Muslim Muhammad: Das Regime hat nicht aus der Luft angegriffen, weil das nicht möglich war. Wir waren mit den Arabern der Gegend eins. Was sollten sie aus der Luft bombardieren? Das Regime wollte die kurdischen Gebiete von Anfang an nicht bombardieren. Das Regime hat 2004 gesehen, zu was die Kurden fähig sind. Warum soll das Regime eine neue Front eröffnen?

KurdWatch: Im Februar 2012 gab es einen Angriff der PYD auf einen Stützpunkt der syrischen Luftwaffe in ʿAin al‑ʿArab (Kobanî), damals kam ein Offizier ums Leben. Das Regime hat weder militärisch noch mit Festnahmen geantwortet, obwohl die Stadt damals noch unter seiner Kontrolle stand. Warum?
Salih Muslim Muhammad: Wie ich bereits gesagt habe, das Regime will nicht gegen die Kurden kämpfen und eine neue Front eröffnen. Das Regime weiß, mit wem es zu tun hat. Die Kurden kämpfen mit demokratischen und friedlichen Mitteln. Das Regime weiß, dass es unter den Kurden keine Mitglieder der Muslimbruderschaft oder der Dschabhat an‑Nusra gibt. Die Kurden unterhalten keine Kontakte zur Türkei, und die Kurden wollen die ʿAlawiten nicht vernichten.

KurdWatch: Kommen wir zu den Problemen zwischen Ihnen und der YPG auf der einen und dem Kurdischen Nationalrat auf der anderen Seite. Viele Aktivitäten der YPG deuten darauf hin, dass sie ihre Anweisungen nicht vom Hohen Kurdischen Gremium erhält. Viele Erklärungen der Mitgliedsparteien des Kurdischen Nationalrats deuten ebenfalls in diese Richtung. Ist die YPG unabhängig oder dem Hohen Kurdischen Gremium unterstellt?
Salih Muslim Muhammad: Es gibt einige Entscheidungen, die in die Zuständigkeit der YPG fallen, andere Entscheidungen obliegen dem Hohen Kurdischen Gremium. Wenn es etwa einen Angriff gegen die YPG gibt, ist sie gezwungen, sich zu verteidigen. Außerdem gibt es einige Angelegenheiten, für die gesonderte Komitees zuständig sind.

KurdWatch: Nehmen wir den Angriff auf Basuta, Burdsch ʿAbdullah und Kimar als Beispiel [weitere Informationen zum Fall]. Ist die YPG für so einen weitreichenden Angriff auf kurdische Dörfer zuständig?
Salih Muslim Muhammad: Dieser Angriff lag in der Zuständigkeit der YPG, genauer gesagt, des Asayiş. Damals wurden zwei Mitglieder des Asayiş entführt. Die Entführer wurden verfolgt, der Asayiş wollte seine Leute retten. Die Angreifer haben geschossen, einige Personen wurden verletzt. Der Asayiş war gezwungen, die Entführer zu umzingeln und diejenigen zu verhaften, die geschossen hatten.

KurdWatch: Wurden die Verhafteten wieder freigelassen?
Salih Muslim Muhammad: Als die Türkei unsere beiden Mitglieder freigelassen hat, wurden alle anderen auch freigelassen.

KurdWatch: Vergessen wir für den Moment die Details, und kommen zu grundsätzlichen Fragen: Hat das Hohe Kurdische Gremium das Recht, Ihrem Asayiş oder der YPG Befehle zu erteilen?
Salih Muslim Muhammad: Ja, natürlich. Das Hohe Kurdische Gremium hat Entscheidungsgewalt über die YPG und den Asayiş.

KurdWatch: Es gab in der Vergangenheit zahlreiche Anlässe, bei denen die YPG oder der Asayiş bei Demonstrationen in die Luft geschossen haben. In einigen Fällen gab es Tote und Verletzte. Ein solches Vorgehen gehört fast schon zum Alltag. Ist das eine gute Erscheinung?
Salih Muslim Muhammad: Es tut mir leid, aber die Art und Weise, wie Sie die Dinge hier darstellen, ist nicht in Ordnung. Jedes Ereignis hatte eigene Ursachen. Wenn sie ʿAmuda meinen [weitere Informationen zum Fall]: Es ist klar, dass dort Mitglieder des Asayiş verletzt worden sind. Haben diese etwa auf sich selbst geschossen? Oder sprechen Sie von Kobanî [weitere Informationen zum Fall]? Nirgendwo sind Demonstranten angegriffen worden, aber die Demonstrationen sind bewaffnet. Bewaffnete führen die Demonstrationen und wollen Probleme machen. Was willst du da machen? Sie geben den Leuten Waffen. Was ist denn vor ein paar Tagen in ʿAmuda passiert? Einige sagen, wir hätten zuerst Waffen in der Hand gehabt, aber die Demonstranten haben auf uns geschossen. Der Asayiş wollte die Menschenmenge zerstreuen.

KurdWatch: Also hat der Asayiş sich nur verteidigt?
Salih Muslim Muhammad: Es ist nicht unser Ziel, die Demonstrationen aufzulösen. Wenn die Demonstrationen unbewaffnet sind, dann sollen tausend Demonstrationen stattfinden. Außerdem: Wer ist der Asayiş? Ihr sagt »die YPG oder der Asayiş der PYD«, aber der Asayiş ist nicht von der PYD abhängig. Der Asayiş, das sind hunderte, die in Akademien aufgenommen wurden, das ist nicht die PYD.

KurdWatch: Der Asayiş ist also unabhängig?
Salih Muslim Muhammad: Er ist nicht unabhängig. Es gibt Seiten, von denen die YPG und der Asayiş abhängig sind, sie sind mit dem Hohen Kurdischen Gremium verbunden. Es kann sein, dass die PYD sie zu Anfang unterstützt hat, aber dann wurden Fachausschüsse gebildet und es gibt keine Abhängigkeit mehr von der PYD.

KurdWatch: Kommen wir zu einem anderen Thema, zu den gegenseitigen medialen Angriffen zwischen Ihnen und den Parteien der Kurdischen Demokratischen Politischen Union – Syrien.
Salih Muslim Muhammad: Wir haben gegen niemanden mediale Angriffe geführt. Es sind zwei, drei, viele Vorfälle zusammengekommen, dann erst haben wir eine Erklärung herausgegeben. Es gab keine Medienkampagne. Wir haben unsere Probleme, aber wir werden sie im Hohen Kurdischen Gremium lösen. Wir möchten keine Unterschiede machen zwischen uns und den Parteien des Kurdischen Nationalrats.

KurdWatch: Gibt es Hoffnung auf eine Annäherung? Gemäß dem Abkommen von Erbil sollen alle bewaffneten Einheiten vereinigt werden.
Salih Muslim Muhammad: Das möchten wir auch und wir arbeiten rund um die Uhr für dieses Ziel. Aber es gibt einige, die möchten diese Einheit zunichte machen. Ich sage es offen, es gibt einige Personen, keine Parteien, die Parteien verlangen nichts, aber einige Personen. Wir wissen genau, mit wem sie verbunden sind.

KurdWatch: Sie haben gegen die bewaffneten Gruppen gekämpft, die in Raʾs al‑ʿAin (Serê Kaniyê) einmarschiert sind. Und bis vor kurzem haben Sie jede Person, ob Kurde oder nicht, die Kontakte zu diesen Gruppen unterhielt, einen Verräter genannt. Sie haben die bewaffneten Gruppen als Terroristen und als al‑Qaʿida nahestehend bezeichnet. Jetzt aber haben sie selbst ein Abkommen mit ihnen geschlossen und gemeinsame Kontrollpunkte in der Stadt errichtet.
Salih Muslim Muhammad: Ihre Frage ist hinterhältig, sie basiert nicht auf Tatsachen. Es tut mir leid, aber Ihr Ausgangspunkt ist falsch. Was ist in Serê Kaniyê passiert? Es kamen einige Kräfte von außerhalb und haben angegriffen: Dschabhat an‑Nusra und andere, einige Kurden waren auch dabei. Das Abkommen [weitere Informationen zum Abkommen] hat Hasan Abdullah abgeschlossen. Wer ist dieser Mann? Er ist Mitglied im Revolutionären Komitee der Freien Syrischen Armee der Provinz al‑Hasaka. Das Abkommen, das wir geschlossen haben, wurde mit der Freien Syrischen Armee geschlossen. Die Dschabhat an‑Nusra und solche Gruppen haben verloren und sind geflohen. Sie werden auch nicht wieder zurückkehren. Wir haben mit diesen Leuten nichts unterschrieben.

KurdWatch: Das Abkommen ist nicht mit der Dschabhat an‑Nusra geschlossen worden? Es wurde doch mit denjenigen Gruppen geschlossen, die gegen euch gekämpft haben. Und das waren die Dschabhat an‑Nusra und andere islamistische Gruppen.
Salih Muslim Muhammad: Ein Teil [der Freien Syrischen Armee] hat mit ihnen [Dschabhat an‑Nusra] gekämpft. Ein Teil des Militärischen Komitees von al‑Hasaka war auf ihrer Seite. Sie sagen, dass sie das bereuen, sie haben die Dschabhat an‑Nusra verlassen. Wir haben mit dieser Gruppe das Abkommen unterschrieben, und auch mit einem Vertreter der Nationalen Allianz.

KurdWatch: Das heißt, die Dschabhat an‑Nusra ist aktuell nicht in Raʾs al‑ʿAin vertreten? Es gibt Informationen, dass sie dort mit euch zusammenarbeitet.
Salih Muslim Muhammad: Die Dschabhat an‑Nusra? Nein, sie ist keine Seite des Abkommens. Aber weil die USA die Dschabhat an‑Nusra auf ihre Terrorliste gesetzt haben, sagen manche, dass die PYD Verbindungen mit ihr unterhält. Wenn sie irgendwo Terroristen finden, dann sagen sie, die PYD ist ein Freund dieser Terroristen. Das ist Propaganda der Türkei. Zuerst wollte die Türkei unser Blut vergießen [indem sie die Dschabhat an‑Nusra nach Raʾs al‑ʿAin geschickt haben]. Jetzt, da die Gruppe auf der Terrorliste steht, sagen die Türken, dass wir mit ihr kooperieren.

KurdWatch: Vielen Dank, dass Sie sich Zeit für uns genommen haben.
Salih Muslim Muhammad: Es tut mir leid, aber Ihre Fragen waren alle provokant.

30. März 2013