Islamischer Imperialismus / Neueste Entwicklungen im Nahen Osten

Von Chaim Noll  – MERKUR 2013

(….) – Die von den Revolten heimgesuchten Länder – die meisten schon zuvor in wirtschaftlichen Schwierigkeiten – haben schweren ökonomischen und strukturellen Schaden genommen. Auch für viele andere Länder, im Nahen Osten und anderswo, ergeben sich spürbare Auswirkungen.

Zu Rebellionen, Volksaufständen oder Massenprotesten kam es in den vergangenen beiden Jahren in Tunesien, Algerien, Marokko, Ägypten, im Jemen, in Oman, Jordanien, Bahrain, im Irak und in Syrien, zu schwächeren Protesten oder Solidaritätsbekundungen im Sudan, in Saudi-Arabien, Mauretanien und im Gazastreifen. Dauer und Schwere der Unruhen waren verschieden, auch die Anlässe variierten, was zunächst die Wahrnehmung von Zusammenhängen erschwerte.

Im Verlauf der Monate lassen sich jedoch einige wesentliche Gemeinsamkeiten feststellen, die auf neue Machtkonstellationen im Hintergrund und eine tiefgreifende Veränderung der politischen Topographie des Nahen Ostens hindeuten.

In allen Ländern mit schwerem, blutigem Verlauf der Unruhen war die Entwicklung ähnlich: zunächst spontane, wie absichtslos ausbrechende Proteste, die in bewaffnete Aufstände übergingen.

Auf die Straßenkundgebungen folgte relativ rasch ein mehr oder weniger organisierter Guerillakampf. Die zu Beginn friedlich scheinenden Akteure verwandelten sich in bewaffnete Kämpfer. Dabei war vor allem die Schnelligkeit überraschend, mit der diese Mobilmachung vonstatten ging. Wie die Revolten gezeigt haben, lassen sich in städtischen Ballungsräumen innerhalb kürzester Zeit Ad-hoc-Armeen von Straßenkämpfern mobilisieren und mit Hilfe neuer Kommunikationsmittel zu gemeinsamen Aktionen koordinieren. Dadurch können politische Regimes, die bislang nach allgemeiner Einschätzung als gut etabliert, militärisch stark, strukturell sicher angesehen wurden, binnen kurzer Zeit in existentielle Schwierigkeiten geraten, bis hin zu ihrem Zusammenbruch.

Offenbar genügen motivierte militante Minderheiten, wenn sie entsprechend vernetzt und versorgt sind, um konventionell organisierte Staatsapparate zu Fall zu bringen. Diese Erfahrung der »Arabischen Revolution« eröffnet ungeahnte Möglichkeiten für fremde Einflussnahme auf die Staaten des Nahen Ostens.

»Der Islam ist die Lösung« lautete die kurze Formel eines neu zu erprobenden Konzepts, das Hassan al-Banna, Gründer der heute in Ägypten regierenden Muslimbruderschaft, seit 1928 propagiert hatte. »Wir glauben, dass der Islam ein allumfassendes Konzept ist, das jeden Aspekt des Lebens regelt und über jedermanns Angelegenheiten urteilt und damit eine solide und rigorose Ordnung festlegt«, heißt es in dem 1936 von der Muslimbruderschaft verfassten Traktat Aufbruch zum Licht. Als Auftritt nach außen empfiehlt die Bruderschaft den bewaffneten Dschihad, da der islamischen Glaubensgemeinschaft durch den Koran geboten sei, »zu herrschen und nicht beherrscht zu werden, seine Gesetze allen Nationen aufzuzwingen und seine Macht über den gesamten Planeten auszuweiten«.

Die Muslimbrüder wurden zum Prototyp einer neuen islamischen Bewegung, die ihren imperialistischen Anspruch, die weltweite muslimische Machtergreifung, von Beginn an offen bekannte. Dieser politisierte Islam oder »Islamismus« wird auch »islamischer Integralismus« (oder in Anlehnung an den französischen Originalbegriff »Integrismus «) genannt, da sein Ziel die Wiedereinführung einer früher bestehenden (zumindest im Früher vermuteten) Ganzheit der Welt und ihres ideellen Modells, eines ungetrübten Glaubens unter Ausschließung aller als störend empfundenen Modernismen, Widersprüche und Herausforderungen ist.

Mit diesem Programm gelangten die Muslimbrüder in Ägypten durch den »Arabischen Frühling« zur Macht. Ihr Kandidat Mohammed Mursi wurde im Juni 2012 zum Staatspräsidenten gewählt, zugleich stellen sie die größte Fraktion – fast fünfzig Prozent der Sitze im Parlament. Bereits 1983 waren sie im benachbarten Sudan als »Nationale Islamische Front« maßgeblich an der Einführung der Scharia beteiligt. In Jordanien führen sie unter dem Namen »Islamische Aktionsfront« als anhängerstärkste politische Partei des Landes den Kampf gegen die derzeitige Regierung und deren prowestliche Politik – nach neuesten Analysen liegen ein baldiger Sturz des Königshauses und eine Machtübernahme  durch die Bruderschaft im Bereich des Möglichen. Auch in Libyen sind die Muslimbrüder seit dem Fall des Gaddafi-Regimes als »Partei für Gerechtigkeit und Aufbau« im Parlament vertreten.

In Tunesien wurde in den Wahlen 2011 ein Ableger der Muslimbrüder, die »Bewegung für Erneuerung«, stärkste Fraktion. Die Hamas in Gaza (mit Filialen in der ganzen Welt) ist eine Tochterorganisation der ägyptischen Muslimbrüder, geriet jedoch zunehmend unter Einfluss des Iran und wurde zum Instrument von dessen Imperialpolitik. Dieser Tage versuchen die Muslimbrüder in Syrien, wo die Bruderschaft gleichfalls Millionen Anhänger hat, auf den Trümmern des Assad-Regimes ihr neues Glaubensreich zu errichten. Die saudische Zeitung Asharq al-Awsat nannte die arabischen Revolten der vergangenen beiden Jahre aufgund dieser Erfolgsbilanz den »Frühling der Muslimbrüder«.

Auf der anderen – der schiitischen – Seite war es der Iran, der seit der »Islamischen Revolution« 1979 dem aus religiösen Quellen politisierten Islam, genannt »Islamismus«, zu einer ungeahnten Renaissance verhalf. In den mehr als dreißig Jahren seines Bestehens hat das iranische Regime Hunderten Millionen frustrierter Muslime einer zurückgebliebenen islamischen Welt das erregende Schauspiel seines weltpolitischen Auftrumpfens geboten, zugleich das jämmerliche Bild westlicher Ratlosigkeit und Appeasementversuche.

Radikales Anklagen und Brüskieren, ein Trommelfeuer populärer Haßstereotype wie Antiamerikanismus und Judenhass, die bewusste verbale Verletzung des Anderen und die offen gezeigte Verachtung des Konsenses, der den diplomatischen Umgang der Völker und Staaten bestimmt – in den Reden und Aktionen des iranischen Regimes finden sich, geschickt angewandt und erneuert, die Muster der großen totalitären Despoten des 20. Jahrhunderts. Auf diese Weise

unterminierte iranische Politik den Stand Europas und Amerikas in der Welt und sorgte zugleich für psychologischen Trost und Erlösungshoffnung unter muslimischen Massen. (Auch religiös versteht sich Ahmadinedschad, Anhänger einer messianischen Richtung des schiitischen Islam, die eine  Rückkehr des »Mahdi«, des verschwundenen zwölften Imam, ersehnt, als Vorbote und Werkzeug einer bevorstehenden Welterlösung.)

In den siebziger Jahren, zur gleichen Zeit wie der schiitische »Islamismus« der iranischen Mullahs, entstand in der Türkei die Millî-Görüs¸-Bewegung, angeführt vom späteren türkischen Premierminister Erbakan, der ein auf strikt islamischer Grundlage beruhendes, umfassendes soziales, ökonomisches und politisches Regelungssystem im Inneren (genannt »Gerechte Ordnung«) und eine auf islamische Dominanz zielende Außenpolitik propagierte. Auch Erbakan war der Ansicht, dass nur der Islam die Menschheit vor weiterer Verderbnis retten könne. Den »falschen« Werten des Westens – der von »einem rassistischen Imperialismus, dem Zionismus«, regiert werde – stellte er eine auf dem Islam begründete »gerechte Weltordnung « gegenüber. Sowohl der türkische Premier Recep Tayyip Erdog˘ an als auch Staatspräsident Abdullah Gül sind aus Erbakans »Nationaler Heilspartei« respektive deren Nachfolgerin, der »Wohlfahrtspartei «, hervorgegangen und in ihrem politischen Impetus von Erbakans islamischer »Weltordnung« inspiriert.

Anders als der »Islamismus« im Iran, der durch eine blutige »Revolution« zur Macht gelangte, war im führenden Land des sunnitisch-arabischen Blocks, Saudi-Arabien, bereits seit der Staatsgründung 1932 eine salafistische Spielart des Islam, der Wahhabismus, offizielle Staatsreligion.

Der Wahhabismus, benannt nach dem im 18. Jahrhundert lehrenden Rechtsgelehrten Muhammad ibn Abd al-Wahhab, ist perfekter »islamischer Integralismus« insofern, als er vorsorglich die Ausübung aller anderen Religionen in seinem Gebiet untersagt. Seine Anhänger, zu denen die saudische Herrscherfamilie seit Generationen gehört, halten sich selbst für die einzigen authentischen Muslime und betrachten andere islamische Glaubensauslegungen als Abirrungen, nicht selten als strafwürdige Häresie.

In Saudi-Arabien herrscht Scharia-Gesetz (das Land gehört, wie der Iran, nach UN-Statistiken zu den führenden Vollstreckern öffentlicher Hinrichtungen und Auspeitschungen). Eine Religionspolizei wacht über das Verbot für weibliche Saudis, sich öffentlich in Gesellschaft anderer Männer als der ihres Ehemannes zu bewegen, das allgemeine Alkoholverbot und ein in der Welt einzigartiges Autofahrverbot für Frauen. In Saudi-Arabien gibt es eine schiitische Minderheit von etwa zehn Prozent der Gesamtbevölkerung (rund drei Millionen Menschen), die – von den wahhabitischen Religionsgelehrten als »rafidah «, Abtrünnige, bezeichnet – ihre Religion nur stark behindert ausüben können: Sie dürfen keine Moscheen bauen, ihre religiösen Feiern nicht offen abhalten, nicht in der Armee, der staatlichen Verwaltung oder den Sicherheitsdiensten arbeiten und sind weiteren Diskriminierungenausgesetzt.

Ähnliche Behinderungen erfahren Schiiten im Inselstaat Bahrain, einem eigenen Königreich. Gegenüber den sunnitischen Muslimbrüdern zeigt sich Saudi-Arabien weniger intolerant, obwohlauch diese islamische Auslegung in entscheidenden Fragen vom Wahhabismus abweicht. Gruppierungen der Muslimbrüder werden geduldet, doch das Verhältnis bleibt von der Rivalität bestimmt, die grundsätzlich zwischen diesen beiden Richtungen des Salafismus besteht.

Im Verlauf des »Arabischen Frühlings « kam es daher in Ägypten zu gewalttätigen Ausschreitungen gegen saudische Einrichtungen, etwa gegen die Botschaft Saudi-Arabiens in Kairo, die – wie zuvor die israelische – vorübergehend geschlossen werden musste. In seinem imperialen Anspruch unterscheidet sich jedoch der saudische Wahhabismus nicht von den religiös motivierten Welteroberungsideen, die in den Grundlagenschriften der Muslimbrüder verankert sind. Die im Koran gebotene Errichtung eines islamischen Weltreiches gilt beiden salafistischen Richtungen als Selbstverständlichkeit.

Trotz der Stringenz in der Anwendung islamischen Rechts und der generell antiwestlichen Tendenz des Wahhabismus ist es dem regierenden Hause Saud durch geschickte Realpolitik gelungen, sich den Vereinigten Staaten als Verbündeter zu empfehlen. Saudi-Arabien und die benachbarten sunnitischen Ölstaaten Katar, Kuwait, Bahrain sowie die Vereinigten Arabischen Emirate beherbergen zahlreiche amerikanische Militärstützpunkte.

Das Verhältnis zwischen den USA und Saudi-Arabien erlebte eine schwere Krise nach den Attentaten des 11. September 2001, da von den 19 beteiligten Terroristen 15 saudische Staatsbürger waren und die saudische Regierung in den Verdacht des Mitwissens, womöglichder Mitvorbereitung der  Anschläge geriet, doch konnte Saudi-Arabien durch aktive Mithilfe im von der Bush-Regierung ausgerufenen »War on Terror« erneut das Vertrauen westlicher Politiker gewinnen.

Dabei war Misstrauen gegenüber der Verlässlichkeit des Hauses Saud als einem westlichen Alliierten seit jeher geboten, da die um Saudi-Arabien gruppierten sunnitischen Ölstaaten nie aufgehört haben, Moscheen, Organisationen und islamistische Schulen überall auf der Welt zu finanzieren, die den islamischen Imperialgedanken und den »heiligen Kampf« gegen westliche Einflüsse predigen. Kein Land ist weltweit so aktiv und spendenfreudig bei der Verbreitung islamistischen Gedankenguts wie Saudi-Arabien – ungehindert von allen Verträgen und Allianzen mit westlichen Partnern. Grundsätzlich regelt Artikel 81 der saudischen Verfassung den Vorrang des islamisch-imperialen Anliegens vor allen Abmachungen mit dem Ausland. In dieser geschickten Doppelstrategie liegt der entscheidende Unterschied des saudischen Imperialismus gegenüber dem offenen, konfrontativen Ansatz des iranischen.

Auf Grund ihrer immensen Erdöl- und Erdgasvorkommen sind diese beidenStaaten, Iran und Saudi-Arabien, zu den Führern der jeweiligen islamischen Machtgruppierungen, der schiitischen und der sunnitischen, aufgestiegen. Der Konflikt war durch das seit anderthalb Jahrtausenden bestehende, theologisch unversöhnliche Schisma zwischen Schiiten und Sunniten vorherbestimmt, hat aber in den letzten Jahren den Charakter eines Kalten Krieges um die Dominanz in der islamischen Sphäre angenommen.

Diese Konfrontation ist der heutige »Nahostkonflikt«. Beide Seiten rüsten in nie gesehenem Ausmaß auf und kämpfen um Ausweitung ihrer Interessenssphären. Durch Einflussname auf die Hamas gelang dem Iran der Zugriff auf den Gazastreifen, allerdings um den Preis einer Spaltung der Palästinenser, da im gleichen Maße, in dem der Iran die Hamas finanziert, die sunnitische Staatengruppe um Saudi-Arabien die Fatah in der Westbank unterstützt, durch jährliche Zuwendung von fast einer halben Milliarde Dollar – eine Entwicklung, die den Traum vom eigenen Palästinenserstaat in weite Ferne rückt (Versuche, die verfeindeten Palästinenserfraktionen zu versöhnen, wie 2007 durch König Abdullah von Saudi-Arabien oder mehrfach durch ägyptische Vermittlung, sind bisher allesamt gescheitert). Zu einem offenen Stellvertreterkrieg zwischen den beiden islamischen Machtblöcken kommt es derzeit in Syrien, wo das vom Iran gestützte Assad-Regime unter den Schlägen der von Saudi-Arabien und den Golfstaaten unterstützten sunnitischenRebellen zu wanken beginnt.

In diesem innerislamischen Konflikt, der im Zuge des »Arabischen Frühlings« mancherorts in offenen Krieg überging, liegt der entscheidende Paradigmenwechsel gegenüber der Situation vor zwanzig Jahren, als die Konfrontation zwischen West und Ost, zwischen Israel und der Arabischen Liga, die Lage im Nahen Osten bestimmte. Dieser war erstmals während der israelischen Militäroperation gegen Gaza im Januar 2009 deutlich zu erkennen, als die Arabische Liga auf ihrem Treffen in Katar nicht – wie stets zuvor – Israel die alleinige Schuld an dem bewaffneten Konflikt zusprach, sondern zugleich den Gaza-Palästinensern, die durch ihr Übergehen zur Iran-dominierten Hamas ihre bedrückende Situation selbst heraufbeschworen hätten. Westlichen Politikern und Medienleuten fällt es dennoch schwer, vom Mythos eines von Israel ausgelösten »Palästinenserkonflikts« als dem Grundübel des Nahen Ostens abzugehen und die neue Konstellation ins Auge zufassen.

Der amerikanische Präsident Obama lieferte in seiner Kairoer Rede vom Juni 2009, die in den vergleichsweise marginalen Schwierigkeiten zwischen Israel und den Palästinensern noch immer das bedeutendste Problem im Nahen Osten sehen wollte, eine für die westliche  Wahrnehmungsschwäche geradezu exemplarische Fehleinschätzung der Lage.

Es ist das Dilemma des politisierten Islam oder »Islamismus«, dass er einerseits dem Islam in der Welt enormen Machtzuwachs eingebracht, ihn andererseits unrettbar gespalten hat. Die Mechanik des »Islamismus« ist die Rekursion des Politischen auf das Religiöse.

Mit der zunehmenden Islamisierung des Nahen Ostens, die jede islamische Fraktion mit dem ihr eigenen Fanatismus vollzieht, werden folglich die seit langem bestehenden Unvereinbarkeiten in der religiösen Auslegung zu politischem Konflikt- und Krisenpotential.

Hinzu kommen traditionelle ethnische Spannungen zwischen Arabern, Persern und Türken. Der Iran – das erste Land, in dem »Islamisten« an die Macht gelangten – hat vor zwanzig Jahren damit begonnen, islamistische, das heißt religiös motivierte Außenpolitik zu betreiben, zunächst in der eigenen Region.

So entstand die Allianz mit dem alawitischen Assad-Regime in Syrien (basierend auf der gewaltsamen Unterdrückung der überwiegend sunnitischen Bevölkerung) und der schiitischen Hisbollah im Libanon, die zum Terrorinstrument gegen Israel und den Westen, vor allem aber gegen sunnitische Muslime und Christen im eigenen Land aufgebaut wurde. In der versuchten Übernahme des Libanon durch Syrien oder der versuchten Einverleibung Kuwaits durch den Irak zeigte sich die neue islamische Kolonialpolitik, die im »Arabischen Frühling« bestimmend wurde.

Durch kluge Politik gelang es westlichen Ländern, das erdölreiche, gleichfalls überwiegend schiitische Aserbaidschan aus der vom Iran dominierten schiitischen Allianz herauszuhalten und als Partner für Europa, die USA und Israel zu bewahren. Allerdings führen die Energiepipelines aus Aserbaidschan, von denen Europa weitgehend abhängig ist, durch das Gebiet der in starker Islamisierung begriffenen Türkei, wodurch – wie einige Zwischenfälle der letzten Jahre gezeigt haben – eine neue Erpressbarkeit entstanden ist. Im Persischen Golf spekuliert das iranische Mullahregime auf die Saudi-Arabien vorgelagerte erdölreiche Insel Bahrain, die zugleich Hauptquartier der fünften USFlotte ist. Im März 2009 erhob der Iran erneut Anspruch auf das Territorium von Bahrain, worauf Ägypten dem bedrohten Kleinstaat militärische Hilfe anbot und Marokko zum Iran die diplomatischen Beziehungen abbrach.

Bahrain ist ein anschauliches Beispiel für die imperialistische Politik der großen islamischen Mächte während des »Arabischen Frühlings«. Die im Februar 2011 ausbrechenden Unruhen der schiitischen Bevölkerungsmehrheit der Insel wurden vom Iran genutzt und in dem Sinne instrumentalisiert, dass Proteste gegen soziale Mängel, Wohnungsnot und Benachteiligung der Schiiten rasch in gewaltsame Versuche übergingen, das sunnitische Herrscherhaus Al Chalifa zu stürzen. Die drohende Machtübernahme durch proiranische Islamisten konnten die sunnitischen Golfstaaten unter Führung Saudi-Arabiens nur durch eine offene militärische Intervention am 14. März 2011 abwenden (an der Truppen Saudi-Arabiens und der Vereinigten Arabischen Emirate teilnahmen und bei der es zu Übergriffen und Todesopfern kam). Die Unruhen in dem kleinen Königreich hatten weltweit spürbare Folgen, da die Furcht, sie könnten auf die benachbarte saudische Provinz Ash Sharqiyah übergreifen (deren Bevölkerung gleichfalls mehrheitlich schiitisch ist und in der die größten Erdölvorkommen Saudi-Arabiens liegen), den Ölpreis hochtrieb. Bis heute bleibt die Lage in dem kleinen Königreich instabil, mit immer wieder erneut ausbrechenden Unruhen des schiitischen Bevölkerungsteils.

Naheliegenderweise gilt das koloniale Interesse der finanzstarken muslimischen Staaten den armen und unterentwickelten Ländern der Region. Wie sich während der letzten drei Jahrzehnte die religiös-politische Kluft zwischen schiitischen und sunnitischen Staaten vertieft hat, kam es andererseits – vor allem durch die ungleiche Verteilung von Ölund Gasvorkommen – zu einer sich vertiefenden Spaltung der islamischen Staaten in sehr arme und sehr reiche. Die relativ rohstoffarmen Staaten Ägypten, Syrien oder Jordanien laborieren am Rande des Staatsbankrotts, während die reichen Öldynastien in Saudi-Arabien,Katar, Abu Dhabi oder Kuwait über Hunderte Milliarden Dollar Liquidität verfügen – Geldmengen, für die sie dringend Investitionsmöglichkeiten suchen.

Die weltweite Kauffreudigkeit dieser Länder ist bekannt, auch in Deutschland wurden große Aktienanteile führender Wirtschaftsunternehmen (Volkswagen, Daimler, Howaldtswerke-Deutsche Werft u.a.) von sunnitischen Ölstaaten (Kuwait, Katar, Abu Dhabi) aufgekauft.

Auf diese Weise findet eine verstohlene Übernahme der verarmten, in einigen Fällen vom wirtschaftlichen Kollaps bedrohten islamischen Länder durch die reichen statt – einer der Vorgänge im Hintergrund des »Arabischen Frühlings «, der in den Medien kaum thematisiert wurde. Ägypten, der früheren Kornkammer am Nil, drohen nach Jahrzehnten der Misswirtschaft und Korruption in naher Zukunft Hungersnöte. Das Land muss heute etwa die Hälfte seiner Lebensmittel, sogar Brotgetreide importieren.

Demnächst, sagen Analysten voraus, wird die ägyptische Führung nicht nur für große Kreditausfälle gegenüber ausländischen Gläubigern geradestehen müssen, sondern – was die innere Situation

Ägyptens erneut zuspitzen könnte –nicht mehr imstande sein, die eigene Bevölkerung

zu ernähren.

In dieser Situation konnte sich Ägypten im Sommer 2011 dennoch leisten, westliche Notkredite (etwa des Internationalen Währungsfonds) auszuschlagen, da Saudi-Arabien und die Golfstaaten mit Milliardensummen einsprangen.

Dadurch ist Ägypten auf dem Weg, eine Kolonie der sunnitischen Ölstaaten zu werden. Wie sehr die sunnitischen Geldgeber bereits jetzt die Politik des verarmten Landes bestimmen, zeigte Präsident Mursis Auftritt auf dem Gipfel der nichtpaktgebundenen Staaten in Teheran Ende August 2012, als er dem syrischen Assad-Regime, dem Verbündeten der iranischen Gastgeber, offen den Kampf ansagte und die vom Iran inszenierte Selbstdarstellung als Regionalmacht und geachtetes Mitglied der Staatengemeinschaft im Sinne saudischer Interessen zum Einsturz brachte.

Von vielen Seiten wurde die Rolle des kleinen, bevölkerungsarmen, dabei extrem reichen Golfemirats Katar als Initiator und lenkende Kraft des »Arabischen Frühlings« festgestellt. Sie war in der Tat schon durch die Dominanz des vom Emir von Katar, Hamad bin Chalifa Al Thani, gegründeten arabischen Fernsehsenders al-Dschasira unübersehbar.

Wegen seiner Rolle bei der mentalen Vorbereitung, der informativen Koordination und weltweiten Propaganda für die Aufstände wurde der Sender von Beobachtern der »geheime Motor des Arabischen Frühlings« genannt.

Der Emir von Katar, 1995 durch einen Putsch gegen seinen Vater zur Macht gelangt, gilt trotz des auch in seinem Land vorherrschenden wahhabitischen Salafismus als einer der modernsten, intelligentesten Herrscher im Nahen Osten. Er konnte sich, aufgrund der in seinem Hoheitsgebiet liegenden größten Erdgasvorkommen der Erde und des in seinem Emirat stationierten größten amerikanischen Truppenstützpunkts außerhalb der Vereinigten Staaten jahrelang sogar angespannte Beziehungen zu Saudi-Arabien leisten. Die Rivalität der beiden Dynastien führte dazu, dass die Saudis im Jahre 2003 einen eigenen weltweit agierenden Fernsehsender gründeten: al-Arabiya.

Die Gründung dieses zweiten, von sunnitischen Kräften beeinflussten Senders weist auf die enorme Bedeutung hin, die islamische Imperialpolitik heute der medialen Beeinflussung der Bevölkerungenanderer Länder beimisst. Entscheidend für den Übergang zunächst friedlich scheinender Protestgruppen in bewaffnete Flashmobs und bürgerkriegsfähige Ad-hoc-Armeen sind die modernen elektronischen Kommunikationsmittel.

Der Emir von Katar war maßgeblich am Sturz des libyschen Gaddafi-Regimes beteiligt, indem er neben der medialen auch zur direkten militärischen Einwirkung beitrug und als einer der ersten islamischen Herrscher Kampfflugzeuge für den gemeinsamen Einsatz von Nato und Arabischer Liga zur Verfügung stellte. Katar brach auch als erstes Land die diplomatischen Beziehungen zum Assad-Regime in Syrien ab und gab damit das Signal zum Sturz dieses entscheidenden Alliierten des regionalen Gegners, des schiitischen Iran. 2011 löste Katar große Überraschung aus, als das Emirat dem durch Sabotage der Erdgasleitungen aus dem Sinai zeitweilig von Energieknappheit bedrohten Israel seine eigenen Erdgasreserven anbot.

Neuerdings wendet der geldschwere Golfstaat sein Interesse der Hamas in Gaza zu, die durch den ökonomischen Verfall des Iran in finanzielle Schwierigkeiten geraten und damit – so das Kalkül – reif für eine sunnitische Übernahme ist. Katar gehört neben Bahrain und den Vereinigten Arabischen Emiraten zu den teils offenen, teils geheimen Befürwortern entschiedener, womöglich militärischer Maßnahmen gegen den Iran, dessen atomare Ambitionen wohl für niemanden auf der Welt so bedrohlich sind wie für die kleinen, reichen, zunehmend mächtigen sunnitischen Ölstaaten am Persischen Golf.

Westliche (vor allem linke) Arroganz hält auch dort noch am Stereotyp von »armen Entwicklungsländern« oder »jungen Nationalstaaten« fest, wo wir es inzwischen mit imperialistisch agierenden, finanzstarken, militärisch hochgerüsteten Mächten zu tun haben. Seit Jahren erleben wir weltweit einen Machtzuwachs des Islam: Staaten wie die Türkei, Saudi-Arabien, die Golfemirate, Kuwait, Katar, auch Malaysia, Singapur, Brunei entwickeln sich zu Wirtschaftsmächten und unter Umständen zu machtpolitisch agierenden Rivalen mit kolonialistischen Interessen. Dabei bietet der »Arabische Frühling« erhellenden Einblick, wie die islamischen Mächte des Nahen Ostens die aus der Not der verschiedenen Bevölkerungen entstandenen Volksaufstände im Sinne ihrer imperialen Politik zu instrumentalisieren wussten.

Die eigentlichen Gewinner der Rebellionen sind nicht die Bevölkerungen, an deren Elend und Unterdrückung sich bisher wenig geändert hat, sondern die sunnitischen Ölstaaten, die ihnen unliebsame Regimes beseitigen und ihren eigenen wirtschaftlichen und politischen Einfluss auf die verarmten Länder ausbauen konnten.

In diesem Sinne ist heutige islamische Außenpolitik zunehmend imperialistisch.

Die schwachen Staaten der Region sind die ersten Objekte einer Übernahme durch entschlossene, wirtschaftlich starke Kräfte, die dem Islam weltweit größeren Einfluss verschaffen wollen. Zugleich vertiefen sich die Konflikte zwischen den in diesem Prozess rivalisierenden Mächten.

Dadurch steigt die Kriegsgefahr in der Region.

Aus MERKUR Nr. 764, 2013