Ideologie des Datenkonsums & Der Preis der Heuchelei / Von Evgeny Morozov

Wir müssen wissen, wo wir stehen, und darüber nachdenken, was uns schon bald erwartet, wenn wir uns nicht mit den Verlockungen des Datenkonsums auseinandersetzen. – Abhängigkeit schadet der Souveränität

Erstens: Vielen Europäern wird zu ihrer großen Verblüffung klar, dass das Wort „Cloud“ in „Cloud Computing“ nur ein Euphemismus für einen „verborgenen Bunker in Idaho oder Utah“ ist.

Wenn Borges heute noch lebte, würden seine phantastischen Erzählungen zweifellos in einem Datenspeicher und nicht in einer Bibliothek spielen. Eine Datenbank, größer als die Welt, die sie repräsentieren soll – eine Geschichte von Borges oder ein Bild aus einer Powerpoint-Präsentation der NSA? Man weiß es nicht genau.

Zweitens: Überlegungen, die früher töricht schienen, sind plötzlich ziemlich plausibel. Noch vor wenigen Monaten war es üblich, sich über die Iraner, Russen und Chinesen lustig zu machen, die, mit ihrem reflexartigen Misstrauen gegenüber allem Amerikanischen, bizarrerweise von „Informationssouveränität“ sprachen. Wie bitte, die Iraner wollen ihr eigenes nationales E-Mail-System einrichten, um unabhängig von Silicon Valley zu sein? Das erschien vielen Europäern abwegig und aussichtslos. Was für eine törichte Verschwendung von Ressourcen! Mit Gmail konkurrieren, mit den tollen Videochats und dem schicken Design? Haben die Europäer nicht erfolglos versucht, ihre eigene Suchmaschine zu entwickeln? Flugzeuge bauen, die mit Boeing konkurrieren können, ist eine Sache – aber ein E-Mail-System? Also, das wird Europa nie schaffen, erst recht nicht Iran!

Und wer lacht heute? Vor wenigen Wochen nahm das nationale iranische E-Mail-System seinen Betrieb auf. Zugegeben, die Iraner wollen auch deswegen ein eigenes System haben, damit sie es bei Protestkundgebungen abschalten und ansonsten die Bevölkerung ausspionieren können. Aber ihre geopolitische Lektion haben sie gelernt: Allzu große Abhängigkeit von ausländischen Kommunikationsinfrastrukturen schadet der eigenen Souveränität. Wenn man seine Post nicht in die Hände einer fremden Macht legen will, warum sollte man dann die Kontrolle über die elektronische Kommunikation abgeben?

Das Amerika von heute in seiner ganzen Pracht

Drittens: Die grenzenlose Erleichterung in Europa und Amerika über die Einstellung des „Total Information Awareness“-Programms (eines älteren Versuchs, umfassende Überwachung zu etablieren) war vorschnell. Das Programm war zu gigantisch, zu auffällig, zu bürokratisch. Stattdessen haben wir, ein Jahrzehnt später, ein sehr viel schlankeres, flexibleres und dezentralisiertes System privatwirtschaftlich organisiert und ermöglicht durch einen Vertrag zwischen Silicon Valley und Washington: Silicon Valley betreibt, aktualisiert und monetarisiert die Infrastruktur, während die NSA nach Belieben zugreifen kann. Jede Seite spezialisiert sich, und beide Seiten profitieren.

Das ist das Amerika von heute in seiner ganzen Pracht: Was nicht durch kontroverse Gesetze zu erreichen ist, wird durch Privatisierung erreicht, allerdings mit deutlich weniger Regulierung und staatlicher Kontrolle. Von privatisierten medizinischen Einrichtungen über privatisierte Gefängnisse bis hin zu privatisierten Milizen, die in Kriegsgebiete entsandt werden – dies ist das Modell der Public-Private-Partnership, an dem sich große Teile der amerikanischen Infrastruktur orientieren, auch der Kommunikationssektor. Dezentralisierung ist aber nur dann positiv, solange es keinen mächtigen Akteur gibt, der den Profit einstreicht. Wenn es solche Akteure gibt, wie in diesem Fall die NSA, ist Dezentralisierung bloß ein Schlagwort. Die Mächtigen bekommen mehr von dem, was sie haben wollen, es geht schneller, und sie müssen weniger dafür bezahlen.

Noble Mission, suboptimale Reiseplanung

Viertens: Die Vorstellung, die Digitalisierung habe zu einer neuen Welt geführt, in der die guten alten Regeln der Realpolitik nicht mehr gelten, hat sich als unzutreffend erwiesen. Es gibt keine separate Welt, in der eine neue „digitale“ Macht entstanden ist. Wir haben eine Welt, eine Macht, und Amerika gibt die Kommandos.

Google-Boss Eric Schmidt und Jared Cohen, vormaliger Mitarbeiter im Außenministerium, inzwischen zu Google übergelaufen, haben ihr Buch „Die Vernetzung der Welt“, in dem sie uns versichern, dass alles ganz anders sei, dummerweise nur wenige Monate vor Edward Snowdens Enthüllungen geschrieben. Kaum ein Buch ist so schnell gealtert wie das ihre. Man muss nur im Register unter „Internet-Asylsuchende“ nachschlagen: „Ein Dissident, der in einem autokratischen Internet nicht frei leben kann und dem der Zugang zum Internet anderer Staaten verwehrt wird, wird versuchen, physisches Asyl in einem anderen Land zu beantragen, um in dem dortigen Internet virtuelle Freiheit zu genießen“, schreiben die Autoren. „Die Gewährung von virtuellem Asyl könnte ein wichtiger erster Schritt in Richtung physisches Asyl sein, ein Zeichen von Vertrauen ohne verpflichtende Zusage.“

Die Naivität solcher Aussagen – also die Annahme, dass man online quasi genauso leben könne wie in der realen Welt und virtuelle Politik anders funktioniere als reale Politik – beweist der beklagenswerte Fall Snowden, eines Mannes mit nobler Mission und suboptimaler Reiseplanung. Wenn Snowden „virtuelles Asyl“ sucht, kann er seine Dosis „virtueller Freiheit“ auf dem Moskauer Flughafen Scheremetjewo bekommen. Dummerweise reicht „virtuelle Freiheit“ nicht aus, und er ist auch noch nicht auf die Idee gekommen, „virtuelles Asyl“ zu beantragen (aber vielleicht hat er das Buch noch nicht gelesen). Evo Morales, der bolivianische Staatspräsident, dessen Flugzeug in Wien zwischenlanden musste, weil Snowden an Bord vermutet worden war, hätte sich vermutlich köstlich amüsiert, wenn er in einer Flughafenbuchhandlung auf „Die Vernetzung der Welt“ von Eric Schmidt und Jared Cohen gestoßen wäre. Vielleicht hätte er einfach mehr twittern müssen, dann wäre ihm das Malheur erspart geblieben.

Sicherheit und Privatsphäre auf Telefonnetzniveau

Fünftens: Der einst mächtige Mythos von der separaten virtuellen Welt, in der es mehr Privatheit und größere Unabhängigkeit von gesellschaftlichen und politischen Einrichtungen gibt, ist geplatzt. Man muss sich nur die Erklärung von Microsoft ansehen, die herausgegeben wurde, nachdem der „Guardian“ berichtet hatte, dass die NSA möglicherweise Skype-Telefongespräche überwacht hat (Skype gehört heute zu Microsoft). In Microsofts Nicht-Dementi versteckt sich eine sehr merkwürdige Aussage. Zur Begründung, warum die digitalen Produkte an die Bedürfnisse der Sicherheitsdienste angepasst würden, schrieb der Hausjurist: „Es ist klar, dass Regierungen ein Interesse daran haben werden, gesetzliche Befugnisse zu nutzen (oder herbeizuführen), um zur Bekämpfung von Verbrechen und Terrorismus Zugang zu diesen Kommunikationsinhalten zu bekommen. Wir nehmen daher an, dass in sämtlichen Telefongesprächen, ob per Internet oder Festnetz oder Mobiltelefon, Privatsphäre und Sicherheit in ähnlichem Umfang gewährleistet werden.“ Sie haben richtig gelesen: Hier erklärt ein Topmanager von Microsoft, dass neue Kommunikationsformen zwangsläufig weniger sicher sein werden – und dass das auch gar nicht so schlecht ist.

In den neunziger Jahren glaubten alle, dass die Digitalisierung zur sogenannten Medienkonvergenz führen werde – unter Sicherheitsaspekten gewiss eine gute Sache. Mit der fortschreitenden Entwicklung des Internets, so die Überlegung, würden alte Kommunikationsformen (das gute alte Telefon und so weiter) letztlich genauso sicher sein wie verschlüsselte E-Mails. Tatsächlich ist genau das Gegenteil eingetreten. Wir haben ein einziges Internet (diese These stimmt jedenfalls), aber eines, in dem Sicherheit und Privatsphäre wieder auf Telefonnetzniveau sind. In Sachen Überwachungspotential ist der gemeinsame Nenner das Telefon, nicht die verschlüsselte E-Mail. Zur Medienkonvergenz ist es tatsächlich gekommen – so weit, so gut; aber wie durch ein Wunder sind die Technologien auf dem denkbar unsichersten und überwachungsfreundlichsten Niveau zusammengewachsen.

Am meisten wird die Bevölkerung in autoritären Staaten leiden

Das hat katastrophale Auswirkungen für die Menschen in Diktaturen. Wenn Microsoft und andere Firmen gewollt unsichere Software auf den Markt bringen, beflügelt das die ohnehin allgegenwärtigen Überwachungsapparate in autoritären Staaten. Weder die NSA noch unsere Volksvertreter begreifen, dass, jedenfalls in Fragen digitaler Infrastruktur, Innenpolitik auch Außenpolitik ist. Es ist sinnlos, diese Dinge isoliert zu betrachten. Wir wollen sämtliche Terroristen erwischen, noch bevor sie geboren sind? Ausgezeichnet, mit Big Data und den entsprechenden Wanzen in unserer Software und Hardware müsste das klappen. Aber vergessen wir nicht, dass diese Instrumente auch den chinesischen und iranischen Behörden helfen, künftige Dissidenten zu identifizieren und auszuschalten. Wir können nicht unsichere Kommunikationsinfrastruktur aufbauen und dann erwarten, nur der Westen werde davon profitieren.

Das führt uns zu der problematischsten Konsequenz von Snowdens Enthüllungen: So schwierig die Situation für die Europäer ist, am meisten wird die Bevölkerung in autoritären Staaten leiden – nicht unter amerikanischer Überwachung, sondern unter den eigenen Zensoren. Wie das? Das bereits erwähnte Streben nach „Informationssouveränität“ in Russland, China und Iran bedeutet mehr als nur Schutz vor amerikanischer Überwachung. Die öffentliche Kommunikation wird massiv von Facebook und Twitter auf einheimische Dienste umgelenkt.

Autoritäre Regierungen haben allen Grund, sich vor Twitter und Facebook zu fürchten, auf die sie viel weniger Einfluss haben. Es dürfte kein Zufall sein, dass LiveJournal, in Russland besonders populär, ausgerechnet in dem Moment plötzlich technische Probleme hatte (mithin für den allgemeinen Gebrauch nicht zur Verfügung stand), als das Urteil im Fall des Blogger-Aktivisten Aleksej Nawalnyi verkündet wurde.

Trotz aller Bedenken hinsichtlich Amerikanisierung und Überwachung bieten amerikanische Dienste wie Facebook oder Twitter noch immer besseren Schutz als ihre russischen, chinesischen oder iranischen Varianten. Letztere üben mehr Zensur aus und können, wie der Fall LiveJournal zeigt, das einem russischen Oligarchen gehört, zu jedem politisch erforderlichen Zeitpunkt abgeschaltet werden. Wenn man als Dissident wählen müsste, ob man seinen Protest lieber auf Facebook oder auf VKontakte (dem russischen Facebook) publik macht, wäre man bei Facebook entschieden besser aufgehoben. Undemokratische Regime werden die antiamerikanische Stimmung im Zusammenhang mit der Snowden-Affäre gewiss dahin gehend instrumentalisieren, dass Oppositionellen nur noch übrigbleibt, einheimische Dienste zu nutzen.

Washington wird einen völlig neuen Kurs einschlagen müssen

Das ist die eigentliche Tragödie des amerikanischen Projekts namens „Internetfreiheit“: Den Preis für die Heuchelei, mit der die ganze Sache vorangetrieben wurde, müssen die Dissidenten in China und Iran bezahlen. Amerika hat seine Kommunikationstechnologien verbreiten können, weil es moralische Autorität beansprucht und mit schwammigen Begriffen wie „Internetfreiheit“ erhebliche Widersprüche in seiner Politik kaschiert. In Sachen „Internetfreiheit“ – ein neuer, attraktiverer Name für die Verbreitung von Demokratie – konnte Amerika mit einer gewissen Legitimation auftreten, weil man darauf hinwies, dass man keine Überwachung betreibe wie die Regime in China oder Iran. Und in Sachen Cyberkrieg konnte man chinesische Cyberspionage oder iranische Cyberangriffe verurteilen, weil man der Welt versicherte, dass man derlei nicht tue.

Beide Erklärungen waren offensichtlich unzutreffend, aber mangels konkreter Beweise konnte Amerika Zeit und Einfluss gewinnen. Das alles ist Schnee von gestern. Das Gerede von der „Internetfreiheit“ klingt heute ebenso glaubwürdig wie George W. Bushs „Freedom Agenda“ im Gefolge von Abu Ghraib. Washington wird einen völlig neuen Kurs einschlagen müssen. Statt Snowden zu beschuldigen, muss Amerika ihm dankbar sein: Er hat nur die wackeligen Fundamente einer ohnehin unhaltbaren Politik offengelegt. Diese Politik, gestützt auf so schwammige und unscharfe Begriffe wie „Internetfreiheit“ und „Cyberkrieg“, wird der Komplexität unserer globalisierten Welt ohnehin nicht gerecht.

Wenn alle Apparate „intelligent“ und miteinander verbunden sind

Wie kann es weitergehen? Fangen wir beim Thema Überwachung an. Bislang haben die meisten europäischen Politiker nach den niedrig hängenden Trauben gegriffen, in der Annahme, das Problem werde schon verschwinden, wenn man die amerikanischen Unternehmen schärfer kontrolliert, sie beispielsweise offenlegen müssen, welche Daten sie wann an die NSA weitergegeben haben. Das ist eine ausgesprochen kurzsichtige, naive Auffassung, die ein ernsthaftes Problem, nämlich die Zukunft des privaten Raums, auf vermeintlich praktikable Vorschriften zur Vorratsdatenspeicherung reduziert. Wenn es nur so einfach wäre!

Unsere gegenwärtigen Probleme beginnen auf der ideologischen Ebene, nicht bei untauglichen Gesetzen oder unzureichender Kontrolle. Das spricht nicht gegen eine schärfere Kontrolle der IT-Unternehmen (die Europa schon vor zehn Jahren hätte einführen sollen, statt sich in die phantastische Debatte über „Cloud Computing“ hineinziehen zu lassen). Es bedeutet einfach, dass die Aufgabe, die wir in Angriff nehmen müssen, intellektuell sehr viel anspruchsvoller ist.

Angenommen, Europa zwingt den amerikanischen IT-Unternehmen alle Gesetze auf, die man sich nur wünscht. Angesichts der wachsenden Macht dieser Unternehmen in Brüssel ist das eine sehr hypothetische Annahme, aber lassen wir das einmal beiseite. Was wird in fünf Jahren sein, wenn alle Dinge und Apparate „intelligent“ sind und untereinander und mit dem Internet verbunden sind? Viele solcher Dinge sind bereits auf dem Markt, und bald werden es sehr viel mehr sein: intelligente Gabeln, die beobachten, wie schnell wir essen, intelligente Zahnbürsten, die sich merken, wie oft wir uns die Zähne putzen, intelligente Schuhe, die uns signalisieren, wann wir sie zum Schuster bringen müssen, intelligente Regenschirme, die uns sagen, wann es regnen wird, und uns auffordern, sie beim Verlassen des Hauses mitzunehmen. Nicht zu vergessen das Smartphone, und bald wird auch die Google-Brille Ihr Gesicht schmücken.

Alle diese Objekte hinterlassen Datenspuren. Man sammle und verknüpfe Daten von mehreren solcher Objekte, dann sind, zumindest technisch, die gleichen Querverbindungen und Voraussagen möglich, wie sie die NSA generiert, indem sie Ihre Telefongespräche und E-Mails überwacht.

Mit anderen Worten: Die NSA kann Ihren Aufenthaltsort ermitteln, indem sie Ihr Handy scannt oder Daten von Ihren intelligenten Schuhen oder Ihrem intelligenten Regenschirm abschöpft. Es braucht auch keine Überwachungskamera in Ihrer Küche, um zu wissen, was Sie gegessen haben; das kann man auch anhand der intelligenten Zahnbürste in Ihrem Badezimmer oder anhand des intelligenten Mülleimers in Ihrer Küche herausfinden. Wenn wir diese neuen Überwachungsmöglichkeiten nicht in unser Kalkül einbeziehen, ist es sinnlos, das sicherste E-Mail-System der Welt oder ein mobiles Internet zu entwickeln. Die NSA wird sich Daten verschaffen, mit deren Hilfe sie ihre Tätigkeit auf andere, kreativere Weise fortführen kann, vielleicht wird sie die Daten sogar auf dem freien Markt kaufen.

Manche Leute tun diese Befürchtungen mit dem Hinweis ab, dass unsere E-Mails viel zu privat sind, als dass sie wie eine Ware verkauft werden könnten. Durchaus. Wir finden aber nichts dabei, dass ein Google-Algorithmus unsere E-Mails scannt und wir daraufhin eine Werbeanzeige erhalten. Personalisierte Werbung ermöglicht es Google, sein aufwendiges (und kostspieliges) E-Mail-System gratis anzubieten. Es ist diese stillschweigende Vereinbarung – Google analysiert unsere E-Mails und verkauft uns die entsprechende Werbung -, die dafür sorgt, dass unsere E-Mail-Kommunikation kostenlos und für die NSA einsehbar ist. Google könnte unsere E-Mails mühelos in einer Weise verschlüsseln, dass seine Algorithmen sie nicht mehr lesen können, so dass weder das Unternehmen selbst noch die NSA Zugriff auf begehrte Daten hätten. Aber dann könnte Google uns auch nicht einen kostenlosen Dienst anbieten. Wer fände das schon gut?

Die Dienste könnten die Daten auch kaufen – von uns, den Bürgern

In dem Maße, wie unsere Geräte und bislang analogen Objekte „intelligent“ werden, wird dieses Gmail-Modell überall Anwendung finden. Unternehmen werden uns Geräte und Objekte anbieten, die entweder gratis oder für einen Bruchteil ihrer realen Kosten zu kaufen sind. Sie bekommen beispielsweise eine kostenlose intelligente Zahnbürste, erklären sich im Gegenzug aber damit einverstanden, dass Sie Daten über ihre Verwendung sammelt. Und mit diesen Daten werden letztendlich die Produktionskosten finanziert. Und bei Geräten mit Bildschirm oder Lautsprecher werden Sie, je nach Nutzung, personenbezogene Werbung sehen oder hören, und auch in dem Fall werden die Produktionskosten über Werbeanzeigen finanziert. Dieses Geschäftsmodell praktiziert Amazon bereits bei seinem Kindle: Wenn Sie ein billigeres Gerät haben wollen, müssen Sie lediglich einwilligen, dass auf Ihrem Bildschirm Werbung erscheint. Amazons ultimativer Teufelspakt dürfte so aussehen: Der Kunde bekommt einen kostenlosen E-Reader mit kostenfreiem, sofortigem Zugang zu allen Büchern der Welt, unter einer Bedingung – er stimmt zu, dass alle seine Lektüren analysiert und ihm entsprechende Werbeanzeigen zugeschickt werden. Ein geringfügig modifiziertes Modell (das bei diversen Start-ups unter dem Namen „Personal Data Lockers“ bereits zur Verfügung steht) bietet die Möglichkeit, mit dem Verkauf von Daten an sich selbst Geld zu verdienen, und zwar nicht nur mit Daten der Zahnbürste, sondern aller intelligenten Objekte, mit denen man interagiert, ob Auto, Schreibtisch oder Mülltonne. Bei dem Start-up Miinome kann man sogar Geld verdienen, indem man seinen genetischen Code online stellt. Jedes Mal, wenn ein drittes Unternehmen diese Informationen nutzt (etwa zu Werbezwecken oder für einen Big-Data-Versuch), wird Ihnen ein kleiner Betrag überwiesen. Der Umstand, dass alles, selbst unser Körper, mit einem Sensor plus Internetanschluss ausgestattet werden kann, führt letztlich dazu, dass alles kommerzialisiert wird und die beim Gebrauch generierten Daten verkauft werden können. Sensoren und umfassende Konnektivität schaffen neue, flexible Datenmärkte, so dass Selbstüberwachung zu Geld gemacht werden kann.

Wenn das tatsächlich die Zukunft ist, vor der wir stehen, dann ist es offensichtlich, dass Gesetze nicht viel nützen. Die Menschen entscheiden sich ja freiwillig für derartige Transaktionen – so, wie wir uns bereits für kostenlose (aber überwachbare) E-Mails und billigere (aber werbefinanzierte) E-Reader entschieden haben. Der NSA bleiben zwei Möglichkeiten: Entweder sie bittet die Unternehmen, die diese ganzen intelligenten Apparate entwickeln, um Bereitstellung von Daten, oder sie kauft sie auf dem freien Markt (wo sie letztlich landen), also von uns, den Bürgern. Was heute per richterliche Anordnung abgeschöpft wird, könnte man sich also ganz allein durch kommerzielle Transaktionen beschaffen.

Gegen die Ideologie des Datenkonsums

Politiker irren, wenn sie glauben, die Kommerzialisierung von Daten durch Gesetze verhindern zu können. Kommerzialisierung geschieht ja nicht gegen die Wünsche der Bürger, sondern, weil sie es so haben wollen. Niemand wird gezwungen, Googles E-Mail und Amazons Kindle zu nutzen. Die Leute tun es freiwillig. Gesetze können wir vergessen. Nur durch politische Kampagnen und entschiedene Kritik an der Ideologie des Datenkonsums werden wir die unausweichliche Katastrophe verhindern können.

Wo könnte eine solche Kritik ansetzen? Es mag wie eine bizarre Parallele aussehen, aber nehmen wir nur den Klimawandel: Lange Zeit glaubten wir, der Preis unseres Energieverbrauchs wäre korrekt berechnet, was sich in der Aussage niederschlug: „Ich kann so viel Energie verwenden, wie ich bezahlen kann.“ Dementsprechend war unser Energieverbrauch an keine Ethik gekoppelt – Marktlogik statt Moral, und genau deshalb konnte es zu raschem Wirtschaftswachstum kommen mitsamt der Verbreitung all der elektronischen Geräte, die uns die mühselige Hausarbeit abnehmen. Doch im vergangenen Jahrzehnt wurde uns klar, dass diese Denkweise auf einer großen Illusion beruht: dass nämlich der Energieverbrauch korrekt berechnet sei. (Der Emissionshandel sollte dieses Problem lösen helfen, erwies sich aber als untauglich.)

Aber natürlich hatten wir den Preis unseres Energieverbrauchs ohnehin nicht korrekt berechnet, weil wir nicht einkalkuliert hatten, dass das Leben auf Erden enden könnte, selbst wenn wir alle unsere Rechnungen bezahlen. Die Entscheidung, welches Auto wir fahren oder wie viel Licht wir im Wohnzimmer haben wollen, hängt also nicht mehr ausschließlich davon ab, ob wir die Rechnung bezahlen können. Es ist auch eine ethische Entscheidung, die jeder für sich trifft – offenbar ohne große Wirkung. Nicht zuletzt dank erfolgreicher Kampagnen der Umweltbewegung haben vollkommen rationale, marktwirtschaftliche Entscheidungen plötzlich eine politische Qualität gewonnen, weshalb wir inzwischen andere Autos haben, Lampen, die sich automatisch abschalten, wenn niemand im Zimmer ist, und so weiter. Viele Verbraucher denken heute an Auswirkungen, die weit darüber hinausgehen, ob sie die Stromrechnung bezahlen können.

Was hat das mit unserem Datenverbrauch zu tun, mögen Sie fragen, aber die Parallele ist nicht so abwegig. Die Entscheidung, sich eine intelligente Zahnbürste zuzulegen und die von ihr generierten Daten zu verkaufen, wird uns schlicht als kommerzielle Entscheidung präsentiert, die uns ganz allein betrifft. Das funktioniert aber nur, weil wir uns eine Datenkatastrophe nicht so leicht vorstellen können wie eine Umweltkatastrophe. Wir sind sehr kurzsichtig geworden – und unsere technikbegeisterten Intellektuellen, die von Silicon Valley und der allerneuesten „Innovation“ schwärmen, sind daran nicht ganz unschuldig. Nur weil die Katastrophe ganz langsam näherrückt und sich nicht für lebhafte Schreckensbilder eignet, ist sie aber nicht weniger gefährlich!

Daten sind keine Ware

Wir brauchen ein schärferes, eindringlicheres Bild von der Datenapokalypse, die uns in einer Welt erwartet, in der persönliche Daten wie Kaffee oder jede andere Ware gehandelt werden. Betrachten wir nur das beliebte Argument, dass dieses Geschäft nur Vorteile biete. Angenommen, Sie installieren einen Sensor in Ihrem Auto, um Ihrer Versicherung zu beweisen, dass Sie umsichtiger fahren als der durchschnittliche Fahrer, auf den sich die Prämienkalkulationen beziehen. Wenn Sie besser als der Durchschnitt sind, müssen Sie weniger bezahlen. So weit, so gut. Aber das Problem bei Durchschnittszahlen ist, dass eine Hälfte der Bevölkerung immer darunterliegt und die andere Hälfte also zwangsläufig mehr bezahlen muss – ob sie sich selbst überwachen will oder nicht. Denn wenn die „Besseren“ mit Self-Tracking einverstanden sind, werden die meisten sozialen Institutionen natürlich annehmen, dass diejenigen, die nicht damit einverstanden sind, etwas zu verbergen haben. Die Folgen meiner Entscheidung, meine persönlichen Daten zu verkaufen, liegen also nicht mehr nur im Bereich von Markt und Ökonomie, sie berühren auch ethische Aspekte. Wenn durch meine Entscheidung, meine Daten zu verkaufen, jemand anderes schlechter dasteht und ihm Möglichkeiten verwehrt werden, kommt zwangsläufig ein ethischer Faktor hinzu, den ich bedenken muss. Der Blick auf die Ökonomie allein reicht nicht mehr.

Damit will ich nur sagen, dass der Datenkonsum enorme politische und moralische Konsequenzen hat, die in Umfang und Bedeutung mit dem Energieverbrauch zu vergleichen sind. Intellektuelle und politische Parteien sollten versuchen, uns diese Auswirkungen möglichst deutlich vor Augen zu führen. Der übliche Informationsaustausch kann nicht mehr als Normalität gelten. Zu sagen, es sei einfach ein Geschäft, reicht nicht mehr. Der Informationsaustausch mag in einem lebhaften Markt vor sich gehen, aber er hat kein ethisches Fundament. Vor mehr als drei Jahrzehnten sprach Michel Foucault von dem „unternehmerischen Selbst“, in das wir uns dank Neoliberalismus alle verwandeln würden. Unternehmertum hat aber auch Kehrseiten – es kann mit negativen Begleiterscheinungen einhergehen, von Umweltverschmutzung bis hin zu Lärm. Datenunternehmer sind da keine Ausnahme.

Europäische Politiker können so viele Gesetze erlassen, wie sie wollen, aber solange Konsum alles ist und die Leute nicht sehen, warum sie aus ethischen Gründen auf den Verkauf ihrer persönlichen Daten verzichten sollten, wird das Problem weiterbestehen. NSA, Big Brother, Big Data – das ist alles wichtig. Aber genauso wichtig ist es, den Blick auf das große Ganze zu richten. Das heißt, wir müssen unseren Datenkonsum kritisch betrachten, nicht nur die für Überwachung zuständigen Teile des militärisch-industriellen Komplexes. Solange wir nicht plausibel begründen, dass Daten keine Ware sind, brauchen wir uns gar nicht erst darum zu bemühen, sie vor der NSA zu schützen. Denn selbst bei schärferen Gesetzen würden Geheimdienste sich diese Daten einfach auf dem freien Markt beschaffen.

Eine Illusion, der hinterherzulaufen sich nicht lohnt

Manche mögen sagen: Wenn wir nur eine Partei nach Art der Grünen hätten, die sich um alles kümmert, was mit der digitalen Welt zu tun hat! Ein größeres Missverständnis ist kaum denkbar. Es wäre eine Illusion, zu glauben, man könne die Auseinandersetzung mit digitalen Themen aufgeweckten jungen Leuten überlassen, die Ahnung von Computertechnik haben. Diese Dinge betreffen uns alle, nicht nur die Piraten. Dieser ganze „digitale Kram“ ist von entscheidender Bedeutung für die Zukunft von Privatsphäre, Autonomie, Freiheit und letztlich der Demokratie selbst. Jede Partei muss diese Dinge ernst nehmen. Wenn Parteien heute sagen, sie seien nicht für Probleme der digitalen Welt zuständig, heißt das im Grunde nichts anderes, als dass sie sich ihrer Verantwortung für die Zukunft der Demokratie entziehen.

Digitale Themen müssen Sache der Mainstreampolitik werden, wir dürfen sie nicht allein den Piratenparteien oder ihren Nachfolgern überlassen. Wir können das Internet nicht mehr in der Art eines Ressorts wie etwa „Wirtschaft“ oder „Umwelt“ behandeln und hoffen, dass sich dort Sachkompetenz herausbildet. Konkrete Themen wie „Privatsphäre“ oder „Subjektivität“ müssen diskutiert werden. Ein so hehres Ziel wie „Internetfreiheit“ können wir vergessen – es ist eine Illusion, der hinterherzulaufen sich nicht lohnt. Wir müssen vielmehr Umgebungen schaffen, in denen die reale Freiheit weiterhin gehegt und gepflegt wird.

Eine viel größere Bedrohung für die Demokratie als die NSA

 

Es ist der Tragik der Piraten, dass sie zu viel wollten. Sie wollten den politischen Prozess und zugleich die Inhalte verändern. Ihr Projekt war so ehrgeizig, dass es von vornherein scheitern musste. Ohnehin stellt sich die Frage, ob es politisch sinnvoll ist, den Prozess verändern zu wollen: ob man nun mehr Teilhabe fordert oder mehr parlamentarische Transparenz. Die Reformpläne der Piraten sind nicht das Ergebnis kritischer Reflexionen über die Schwächen des gegenwärtigen politischen Systems. Sie wollen das politische System vielmehr umbauen, weil es mit den erfolgreichsten digitalen Plattformen (Wikipedia, Facebook) nicht kompatibel ist. Das ist Unsinn. Parlamente sind etwas anderes als Wikipedia, aber dessen Erfolg sagt absolut nichts darüber, ob es als Modell für unsere politischen Institutionen taugt (und natürlich sind unsere Parlamente alles andere als vollkommen, wie sich in der Finanzkrise gezeigt hat). Für die Piraten spricht, dass sie Anstoß dazu gaben, über digitale Themen und deren Einfluss auf die Zukunft der Demokratie nachzudenken. Das ist der inhaltliche Teil. Dieses Projekt muss weitergehen, aber vielleicht in eine andere Richtung, weg vom Thema „Internetfreiheit“ und hin zu einem Nachdenken darüber, wie die reale Freiheit bewahrt werden kann.

Sofern die Affäre Snowden uns zwingt, uns mit diesen Problemen auseinanderzusetzen, ist das gut für die Demokratie. Es ist doch so: Die meisten von uns würden lieber nicht über die ethischen Implikationen von intelligenten Zahnbürsten nachdenken oder über die heuchlerische Rhetorik des Westens gegenüber Iran oder über die Tatsache, dass sich immer mehr europäische Politiker vor Silicon Valley und seiner grauenhaften, gehirnschädigenden Sprache verbeugen. Immerhin sollten wir anerkennen, dass die Krise viel tiefer ist und dass es dabei nicht nur um juristische, sondern auch um intellektuelle Fragen geht. Der Datenkonsum ist, genau wie der Energieverbrauch, eine sehr viel größere Bedrohung für die Demokratie als die NSA.

Seit langem warnt Evgeny Morozov vor der Annahme, das Internet wäre per se demokratisch. Der 1984 in Weißrussland geborene, inzwischen in Amerika lebende Publizist, der unter anderem an der Stanford University tätig ist, beschäftigt sich mit den politischen und sozialen Auswirkungen von Technik und schreibt für die F.A.Z. die regelmäßige Kolumne „Silicon Demokratie“. Am 8. Oktober erscheint sein jüngstes Buch in deutscher Übersetzung: „Smarte neue Welt – Digitale Technik und die Freiheit des Menschen“

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