HILFE VOR ZWANGSEHEN IN NRW (Deutschland) – 11. OKTOBER “WELTMÄDCHENTAG”

Weltmädchentag blickt auf Zwangsehen: “Angst vor dem Urlaub im Heimatland”

Wenn Mädchen zur Ehe gezwungen werden, ist das nicht nur ein Problem von Entwicklungsländern. Birgit Hoffmann, Leiterin der Fachberatungsstelle gegen Zwangsheirat in NRW, kennt viele solcher Fälle. WDR.de sprach mit ihr über junge Frauen und ihre Ängste.

 Auch in Deutschland werden junge Mädchen zur Ehe gezwungen

Am 11.Oktober 2012 findet zum ersten Mal der von den Vereinten Nationen anerkannte Weltmädchentag statt. Dieser Tag soll auf die Benachteiligung und Probleme von Mädchen in der ganzen Welt hinweisen. Ein Ziel des Internationalen Mädchentags ist die Bekämpfung von Zwangsehen. Nach Angaben des Kinderhilfswerks Plan werden weltweit pro Jahr zehn Millionen Mädchen zwangsverheiratet. In Deutschland wird Zwangsheirat seit 2011 als eigenständiger Straftatbestand im Gesetz aufgeführt und es droht eine Freiheitsstrafe von bis zu fünf Jahren. Dennoch werden zahlreiche Frauen und Mädchen hierzulande zur Ehe gezwungen.

Birgit Hoffmann

    Porträt Birgit Hoffmann, Geschäftsführerin Fachberatungsstelle gegen Zwangsheirat

    Die Psychologin Birgit Hoffmann ist Geschäftsführerin der Fachberatungsstelle gegen Zwangsheirat in NRW. Dort bietet sie mit ihren Mitarbeitern kostenlose Gespräche für Betroffene an und geht in die Schulen, um Jugendliche für das Thema zu sensibilisieren. Pro Jahr wenden sich zwischen 170 und 200 Betroffene an sie. Zwei Drittel sind Mädchen oder junge Frauen aus NRW. Die anderen kommen aus anderen Bundesländern. Sie berät Mädchen und Angehörige anonym am Telefon und online.

WDR.de: Zu welchem Zeitpunkt wenden sich die Mädchen an die Beratungsstelle?

Hoffmann: Die einen Mädchen melden sich, wenn sie die ersten Anzeichen zu Hause wahrnehmen und in den Mittelpunkt des Interesses rücken. Die Eltern laden beispielsweise die Verwandtschaft zum Kaffee ein und es gibt Gespräche zur Anbahnung. Das ist noch ein sehr früher Zeitpunkt. Fast alle Mädchen wollen selbstbestimmt leben, aber die Familie nicht verlassen. Gemeinsam mit den jungen Frauen schauen wir, ob eine Chance besteht, die Zwangsheirat abzuwenden. Es gibt aber auch Mädchen, die sich ein paar Tage oder einen Tag vor der Zwangsheirat bei uns melden. Dann ist es in der Regel sehr viel dramatischer und die Hilfsmöglichkeiten sind sehr eingeschränkt. Wir helfen dann, die Mädchen an einem sicheren Ort unterzubringen.

WDR.de: Welche Mädchen sind betroffen?

Hoffmann: Wir bieten die Beratungen in sechs Sprachen an und es ist ganz interessant, zu knapp 95 Prozent ist die Beratungssprache Deutsch. Das zeigt uns, dass viele hier aufgewachsen sind und die deutsche Sprache gut beherrschen. Insofern: Die Mädchen und jungen Frauen, die wir erreichen, sind nicht gerade erst zugewandert, sondern sie sind hier zu Schule gegangen und in Deutschland schon ein Stück sozialisiert. Wir führen pro Jahr 40 Präventionsveranstaltungen an Schulen in NRW durch. Es zeigt sich jedes Mal, dass danach die Anfragen aus dieser Region zunehmen. Viele der Betroffenen kommen aus größeren Städten, aber Zwangsehen passieren auch auf dem Land.

WDR.de: Welche Schwierigkeiten gibt es in den Familien?

Hoffmann: Häufig haben die Mädchen einen Freund aus einem anderen Kulturkreis und mit einer anderen Religion, den die Eltern nicht akzeptieren wollen. Den Betroffenen wird der Umgang mit ihm untersagt und ihr Leben stark eingeschränkt. Sie dürfen sich beispielsweise nicht mehr mit Freunden verabreden, nicht mehr schwimmen oder einkaufen gehen. Die Eltern haben Angst vor dem Verlust des Ansehens und der Ehre. Durch eine Zwangsheirat wollen sie Einfluss darauf nehmen, in welchen Kulturkreis das Mädchen heiratet. Familienbande sollen gestärkt werden und es wird Macht ausgeübt. In einzelnen Fällen wird auch Brautgeld bezahlt.

WDR.de: Mit welchen Mittel wird die Zwangsehe durchgesetzt?

Hoffmann: Es gibt unterschiedliche Strategien der Familien. Das geht von Überredung und moralischer Erpressung über psychische und körperliche Gewalt. Aber auch über die Vortäuschung falscher Tatsachen. Das erleben wir immer wieder vor den Ferien. Da haben viele Mädchen Angst, dass sie im Heimatland verheiratet werden sollen.

WDR.de: Welche Folgen hat eine Zwangsehe für die Mädchen?

Hoffmann: Im Grunde erübrigt sich alles, was bis dahin auf den Weg gebracht wurde, nach der Ehe. Viele Mädchen gehen nicht mehr in die Schule oder brechen die Ausbildung ab. Sie tauchen einfach unter und werden abgemeldet. Durch die erlebte Bedrohung und Gewalt kommt es zu psychischen Problemen. Sie haben Depressionen, Ess- und Angststörungen und sind selbstmordgefährdet. Zum Teil erleben sie in der Ehe auch sexuelle Gewalt.

WDR.de: Besteht bei den Familien ein Unrechtsbewusstsein? In Deutschland ist die Zwangsehe ja ein eigenständiger Straftatbestand.

Hoffmann: Viele sagen: Das sind Gesetze, an die wir uns nicht halten müssen. Bei uns in der Kultur ist das etwas anderes. Ganz egal, welchen Beweggrund Eltern oder Familie für eine Zwangsheirat haben, es geht immer darum, dass jedes Mädchen ein Recht darauf hat, selbstbestimmt und frei zu entscheiden, ob und wen sie heiratet.