Geopolitische Interessen im Syrien-Konflikt Die Großmacht allein gewinnt keine Kriege

GEGEN DIE AUCH BEI DER TRADITIONSLINKEN IMMER NOCH BELIEBTEN GEOPOLITISCHEN ABLEITUNGEN IM STIL DES FRÜHEN XX. JAHRHUNDERTS

24.08.2012 · Wer das Verhalten Amerikas, Russlands und Chinas gegenüber Syrien verstehen will, dem helfen geopolitische Theorien wenig. Eine Replik.

Von Pia Fuhrhop und Markus Kaim / SWP

Der Historiker Hans-Christof Kraus hat sich in der deutschen Debatte des Konfliktes in Syrien nicht zurückgehalten. Die meisten Kommentatoren, so Kraus, litten bei ihren Analysen an geopolitischer Ahnungslosigkeit, sträflicher Naivität, schlichter Ignoranz und grenzenloser Unkenntnis. Angesichts dieser Situation bietet der Autor „zehn Minuten Nachhilfe aus gegebenem Anlass“ an.

Deutsche Kommentatoren und Politiker wären schlecht beraten, folgten sie seiner knappen Nachhilfeviertelstunde. Dann hätten sie zwar verstanden, dass nicht nur humanitäre Motive das Verhalten der internationalen Staatengemeinschaft in Syrien prägen und dass der Nahe Osten aufgrund seiner Lage und Ressourcen eine strategisch wichtige Region darstellt. Mehr aber nicht. Möchte man die Gründe für das Handeln und Nichthandeln externer Mächte erklären, ist mit einer geopolitischen Analyse des frühen zwanzigsten Jahrhunderts, wie Kraus sie bietet, wenig geholfen. Im 21. Jahrhundert ist die Welt doch komplizierter geworden.

Die Hochzeit geopolitischer Ordnungsvorstellungen, denen zufolge sich das außenpolitische Verhalten eines Staates aus bestimmten geografischen Rahmenbedingungen ableite, liegt vor 1945. Sie ist ideologisch und analytisch untrennbar mit der weltpolitischen Epoche des Imperialismus bzw. Kolonialismus verbunden, gründet auf der Idee einer Balance zwischen Großmächten in der Weltpolitik und ist an den unbestrittenen Vorrang des Staates in der internationalen Politik gekoppelt. Nur wenn diese Grundannahmen erfüllt sind, lässt sich geopolitisch argumentieren.

Es agieren Staaten mit eigenen Interessen

Auf Grund dreier weltpolitischer Veränderungen haben geopolitische Ordnungsvorstellungen spätestens seit 1990 radikal an Bedeutung verloren. Zum einen führen militärische Interventionen der Großmächte nicht mehr zur dauerhaften Kontrolle bestimmter Territorien; zum zweiten begrenzen internationale Normen zwar lückenhaft, bisweilen jedoch recht wirksam Großmachthandeln in der internationalen Politik, und drittens spielen nichtstaatliche Akteure eine immer größere Rolle in der internationalen Politik.

Dazu fünf Thesen. Erstens: Großmächte haben im 21. Jahrhundert nicht länger die Fähigkeit, Territorien vollständig zu kontrollieren. Die Interventionen im Irak, in Afghanistan und in Libyen zeigen, dass nicht Herrschaft das Ergebnis derartiger Militäroperationen ist, sondern bestenfalls Einfluss festzustellen ist. Aber selbst dieser bleibt begrenzt. Wie die Beispiele Indiens und Pakistans in Afghanistan illustrieren, hat das nicht zuletzt damit zu tun, dass regionale Mächte eine immer bedeutendere Rolle für die internationale Konflikteskalation oder -regelung spielen.

Es ist deshalb unseriös, eine geopolitische Analyse des Nahen Ostens allein unter Verweis auf die Rolle der Vereinigten Staaten, Russlands und Chinas vorzulegen. Stattdessen müssen die regionalpolitischen Determinanten miteinbezogen werden. Hier agieren Staaten mit eigenen Interessen, die sich einer reinen Stellvertreterfunktion der Großmächte verweigern. Langfristig entscheiden Saudi-Arabien, Qatar und Iran wahrscheinlich mehr über das Schicksal Syriens als Peking, Moskau oder Washington. Gerade weil jene Staaten mit Blick auf das zukünftige Mächtegleichgewicht in der Region handeln, ist es wesentlich, welche politische Ordnung sich in Syrien nach einem eventuellen Fall des Assad-Regimes etabliert. Sie wird nicht nur externen Mächten, sondern auch regionalen unterschiedliche Möglichkeiten zur Einflussnahme gewähren.

Wem glaubt man Drohungen?

Zweitens: Die beiden Konfliktlinien in Syrien markieren, dass nicht nur Staaten die Hauptakteure bei der Entstehung, aber auch bei der Einhegung des Konfliktes sind. Nach dem „arabischen Frühling“ sind Bürger mit ihren Forderungen nach politischer Partizipation, Schutz vor staatlicher Willkür, einer besseren wirtschaftlichen Situation die treibende Kraft des Transformationsprozesses, der die gesamte regionale Ordnung erfasst hat. Dies gilt auch für den Konflikt zwischen der Regierung und der Oppositionsbewegung in Syrien. Außerdem verweist die zunehmend hervortretende Konfliktlinie zwischen den sunnitischen und schiitischen Bevölkerungsanteilen auf die große Bedeutung transnationaler Gruppierungen für den Nahen und Mittleren Osten. Nur diejenigen Großmächte der internationalen Politik, deren Ordnungsvorstellungen diesen Konfliktebenen Rechnung tragen, werden Einfluss in der Region geltend machen können.

Drittens: Nicht nur aufgrund dieser regionalen Dynamik wird sich der Weltmachtstatus Russlands, Chinas und der Vereinigten Staaten nicht am Ausgang des innersyrischen Konfliktes entscheiden. Weltpolitik dreht sich heute nicht länger um die Etablierung eines Machtgleichgewichts wie im Kalten Krieg. Historisch betrachtet wird diese gut vierzig Jahre andauernde Phase eine Ausnahme bleiben, nicht die Regel. Dies liegt nicht zuletzt daran, dass sich die Quellen politischer Gestaltungsmacht stark diversifiziert haben. Der Begriff der Macht ist wertlos, wenn man ihn nicht analytisch an die Frage koppelt, mit welchen Instrumenten Macht durchgesetzt wird. Es macht eben einen gewaltigen Unterschied, ob wir von einer Zivilmacht, einer Militärmacht oder einer Wirtschaftsmacht sprechen. Mit Blick auf Syrien werden Russland und China vor diesem Hintergrund in Rechnung stellen müssen, welche Mittel ihnen überhaupt zur Verfügung stehen, den Verlauf des syrischen Bürgerkrieges zu beeinflussen.

Viertens: Die amerikanische Haltung zu militärischen Interventionen hat nicht in erster Linie mit Geografie oder Raumordnungen zu tun, sondern vor allem mit innenpolitischen Gegebenheiten. Dies dämmert auch Kraus, wenn er auf die Innenwende der Vereinigten Staaten angesichts der Kriege in Afghanistan und dem Irak verweist. Ob Amerika in Syrien militärisch interveniert oder nicht, hängt weniger von den vermeintlichen Dominanzansprüchen Chinas und Russlands in der Region als von der Dynamik des amerikanischen Präsidentschaftswahlkampfes ab. In Zeiten wirtschaftlicher Rezession und großer Kriegsmüdigkeit ist militärisches Eingreifen selbst dann schwierig, wenn amerikanische Sicherheitsinteressen wie im Falle Syriens berührt sind. Selbst republikanische Kongressabgeordnete, die ein stärkeres amerikanisches Eingreifen fordern, beschränken sich auf eine weitere Bewaffnung der syrischen Rebellen. Die Öffentlichkeit müsste für eine Intervention erst gewonnen werden. Dies ist angesichts der Abwesenheit eines internationalen Konsenses und angesichts des Fehlens eines seriös erscheinenden syrischen Kooperationspartners unwahrscheinlich.

Lasst den Theorie-Hammer stecken

Fünftens: Internationale Normen begrenzen und ermöglichen Großmachthandeln in der Weltpolitik. Die von Kraus postulierte Dichotomie zwischen Interventionsverbot und militärischer Interessendurchsetzung verkürzt unzulässig. Die militärische Intervention in Libyen hat gezeigt, dass auch Russland und China Einmischung im Sinne der Schutzverantwortung der internationalen Gemeinschaft prinzipiell unterstützen. Allerdings nur unter bestimmten Bedingungen. Nur weil die Durchsetzung der Flugverbotszone in Libyen vom Schutz der Zivilbevölkerung zum erzwungenen Regimewechsel ausgeweitet wurde, ist das Vertrauen Moskaus und Pekings gebrochen.

Dies ändert nichts daran, dass die beiden asiatischen Großmächte sich vom Gebot der Nichtintervention schon lange verabschiedet haben. Die russische und chinesische Skepsis gegenüber humanitären Interventionen wird außerdem kaum dazu führen, dass diese Staaten sich (militärisch) einer möglichen westlichen Intervention in Syrien entgegenstellten. Umgekehrt stellt auch die Regierung Obama internationale Normen in Rechnung, wenn sie ihr Engagement in Syrien plant, so z.B. das Bemühen, eine Legalisierung ihres Handelns durch den UN-Sicherheitsrat zu erhalten. Die Krise in Syrien, für deren Beilegung es keine einfachen Rezepte gibt, ist also zu ernst und vielgestaltig, um sich ihr mit Ansätzen wie der Geopolitik zu nähern. Es ist analytisch wertlos, eine Theorie, deren Randbedingungen längst nicht mehr gegeben sind, zur Untersuchung aktueller Krisen heranzuziehen. Aber bekanntlich sieht, wer lediglich einen Hammer hat, überall nur noch Nägel.

Die Autoren arbeiten im Forschungsbereich „Sicherheitspolitik“ der Stiftung Wissenschaft und Politik.