Gastkommentar – Die Kluft zwischen urbanen Eliten und Abgehängten wird zur Gefahr für die Demokratie

MESOPOTAMIA NEWS : DIE KLASSENSELEKTION IN ANTIRASSISTISCHEN LBGTQ-ZEITEN

Das Fundament unserer Gesellschaften ist brüchig geworden. Die wachsende Kluft zwischen Gebildeten und Abgehängten, urbanen Eliten und dem Rest der Bevölkerung wird zur Gefahr für die Demokratie. Thomas A. Becker –  14.6.2019, NZZ

In weiten Teilen Europas und darüber hinaus stehen die Zeichen auf Polarisierung, Unruhe und Konflikt. Es liege ein Wandel in der Luft, auf den niemand vorbereitet sei, meint «Bloomberg Businessweek». Der Kapitalismus sei zu weit gegangen, er funktioniere nur noch für wenige, klagt Larry Fink, CEO des weltgrössten Vermögensverwalters Blackrock. Der Siemens-Chef Joe Kaeser warnt vor einer Spaltung der Gesellschaft. Die Milliardäre Jamie Dimon (JP Morgan Chase), Howard Marks (Oaktree) und Ray Dalio (Bridgewater) malen eine Revolution an die Wand und fordern eine Reform des Kapitalismus.

Laut OECD reichen mittlere Qualifikationen nicht mehr aus, um mittlere Einkommen zu erzielen. In Deutschland treiben wachsende Lohnungleichheit, Überforderung am Arbeitsplatz und der Mangel an bezahlbarem Wohnraum immer mehr Menschen um, während Vorschläge zur Kollektivierung von Konzernen und zur Enteignung grosser Immobilienfirmen auf unerwartetes Verständnis treffen.

Kein gemeinsames Bewusstsein

Der Berliner Politikwissenschafter Wolfgang Merkel meint, die Verschärfung sozioökonomischer Ungleichheit habe den alten Klassenkonflikt zurückgebracht, werde aber von einer kulturell-identitären Konfliktlinie zwischen Kosmopoliten und Kommunitaristen überlagert. In der «neuen Konfliktlandschaft» driften die Weltsichten der Globalisierungsgewinner und -verlierer immer weiter auseinander.

Gemäss einer Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung rangiert die Angst vor einer weiteren Spaltung der Gesellschaft (81 Prozent) höher als diejenige vor einer Zunahme von Kriminalität und Terror durch unkontrollierte Zuwanderung (73 Prozent). Eine grosse Mehrheit beklagt den Verlust des Zusammengehörigkeitsgefühls. Die wachsende Kluft zwischen Gebildeten und Abgehängten, urbanen Eliten und dem Rest der Bevölkerung wird zu einer realen Gefahr für die Demokratie.

Vorbei sind die Zeiten, als in Gestalt der europäischen Arbeiterbewegung eine der historisch bedeutsamsten Formen kollektiver Identität geschaffen werden sollte. Die Kommunistische Partei rief den internationalen Klassenkampf aus und verkörperte damit zum ersten Mal in der Geschichte den Typus einer Parteinahme für das «vernünftige Allgemeine», das noch keineswegs, wie Friedrich Hegel glaubte, in der sittlichen Totalität des Staates verwirklicht war, sondern erst erschaffen werden musste – durch die revolutionäre Praxis jener Partei, die durch ihr Wirken diejenigen Zustände herbeiführen würde, die sie am Ende überflüssig machen sollten.

Es kam bekanntlich anders. Seit der Oktoberrevolution haben sich jene kommunistischen Parteien, die an die Macht gelangten, als vollständig bürokratisierte Staatsparteien auf Dauer eingerichtet, während diejenigen, die nicht an die Macht kamen, ihren revolutionären Elan verloren und sich ins Mehrparteiensystem schlecht und recht eingeordnet haben.

Niklas Luhmann erteilte der Idee, ein gemeinsames Bewusstsein der Gesellschaftsmitglieder könne zu einem kollektiv verbindlichen Selbstverständnis des Gesamtsystems führen, eine klare Absage. Der Steuerungsbedarf hochkomplexer Teilsysteme sei viel zu hoch, als dass intersubjektiv gültige Erkenntnis-, Erlebens- und Handlungsweisen jene differenzierten Teilsysteme aufeinander abstimmen könnten. Was in den Hochkulturen noch über Religion, Recht und politische Institutionen geformt und zusammengehalten wurde, werde von den wachsenden Systemproblemen der Moderne geradezu aufgesprengt.

Heutige Risiken lassen sich daher nicht durch neue normative Regelungen bewältigen, sondern nur durch Lernprozesse, die ohne irgendwelche Identitäten auskommen.

Identität als Kampfbegriff

Was steckt hinter der Konjunktur des Identitätsbegriffs? Angst, nicht etwa Stolz, meint der Politologe Herfried Münkler in der NZZ (26. 1. 19). Als Interpret des Merkelschen «Wir schaffen das» setzt er alle Hoffnungen auf sinnstiftende Narrative, die aus der Vergangenheit in die Zukunft weisen. Die Deutschen hätten ja schon einmal in die Hände gespuckt und ein «Wirtschaftswunder» geschaffen. Nun müsse eben ein neuer Mythos her, an dem wir uns orientieren können. Identität sei ein Fetisch, der von jenen beschworen werde, die ihr Heil in der Vergangenheit suchen, weil sie sich die Zukunft nicht zutrauen. Gefragt seien hingegen «haltende Narrative», um die Folgen der Globalisierung auszubalancieren und die Verlierer aufzufangen. Auf Identität würden sich nur diejenigen berufen, so Münkler, die den Begriff als Schutzschild im Kampf gegen Wandel und Veränderung, Innovation und Zukunftsvertrauen missbrauchten. An den Begriff Identität klammere sich nur, wer kein Selbstbewusstsein habe. Der Bezug auf nationale, abendländische oder christliche Identitäten bedeute Flucht vor der Gegenwart und führe in die soziale Regression. Um die Zukunft zu gewinnen, fordert Münkler einen «grossen Verständigungszusammenhang» von Elite und Zivilgesellschaft.

Dessen Chancen werden vom britischen Entwicklungsökonomen Paul Collier allerdings gering eingeschätzt. In seinem neuen Buch «Sozialer Kapitalismus! Mein Manifest gegen den Zerfall unserer Gesellschaft» beklagt er die Polarisierung zwischen qualifikations- und nationalitätsorientierten Identitäten. Demnach ist in der «regressiven Moderne» (O. Nachtwey) das Vertrauen in die Eliten weitgehend erodiert. Je mehr Menschen eine höhere Ausbildung durchlaufen, einen entsprechend anspruchsvollen Beruf ergreifen und ein ihrer hohen Produktivität entsprechendes Gehalt erzielen, desto mehr setzen sie statt auf Nationalität auf Qualifikation, weil sie so ihre Wertschätzung maximieren.

Ein tiefer Riss gehe durch das Fundament unserer Gesellschaften, meint Collier, weil der gebildete Teil der Bevölkerung als Kern seiner Identität nicht mehr die Nationalität betrachte – anders als die geringer Qualifizierten. Dabei schwinde bei den Bessergestellten das Gefühl der Verpflichtung gegenüber den ärmeren Schichten. Das nach Kriegsende 1945 erschaffene Narrativ, wonach die Wohlhabenden bereit sein sollten, hohe umverteilende Steuern zu zahlen, habe ausgedient.

Die Wissensgesellschaft hat eine neue Klasse von Hochqualifizierten hervorgebracht, deren Mitglieder sich aufgrund gleichwertiger Qualifikation wertschätzen und unter sich bleiben. Selbst kaum von Existenzangst geplagt, pflegen die neuen Erfolgreichen eine besondere Ethik, die ethnischen Minderheiten und Randgruppen pauschal Opferstatus zuschreibt. Ihr emphatisch-abstraktes Mitgefühl mit den Mühseligen und Beladenen dieser Welt vermittelt ihnen das wohlige Gefühl moralischer Überlegenheit gegenüber den weniger Gebildeten und Abgehängten im eigenen Land, welche versunkenen Gemeinsamkeiten nachtrauern und nationalistisch gesinnten Rattenfängern auf den Leim gehen.

Niemand weiss, wie diese Diskrepanzen zu überwinden sind und ob wir die für die Fortentwicklung der Gesellschaft notwendigen psychischen Mentalitäten, Motive und Fähigkeiten noch erzeugen können, wenn die laufenden Konflikte sich verschärfen und der Sozialkitt weiter bröckelt. Klar ist nur, dass von einem «weiter so» niemand profitieren wird.

Thomas A. Becker ist ehemaliger Forschungsleiter des Gottlieb-Duttweiler-Instituts, Berater und Autor von «Kreativität. Letzte Hoffnung der blockierten Gesellschaft?», Konstanz 2007.

NEUE ZÜRCHER ZEITUNG  14 Juni 2019