FETULLAH GÜLEN – Das mächtige Netzwerk der frommen Muslime

Neue Zürcher Zeitung – 9.10.2012 – Dieser Mann spaltet die Türkei: Fethullah Gülen. Prediger und Friedensapostel für die einen, Sektenführer für die anderen – auf jeden Fall aber der Begründer der mächtigsten Bewegung der Türkei und eines der grössten religiösen Netzwerke weltweit. Seine Anhänger sind die Vertreter der neuen Wirtschafts-Elite. Sie besitzen Firmen und Schulen, und sie besetzen wichtige Posten im Staat. Gülen hat Macht in der Türkei, zu viel Macht für viele.

Seine Bewegung ist eine religiöse Bewegung. Fethullah Gülen predigt einen konservativen Islam, versetzt mit liberalen Ideen. Zentral sind die Vereinbarkeit der Religion mit dem modernen Leben und die Toleranz gegenüber anderen Religionen. Sein Islam ist der Islam strenggläubiger, aber dem Westen freundlich gesinnter Muslime. In einem Artikel in der «Financial Times» kritisierte der in den USA lebende Gülen letzte Woche etwa die Angriffe von Muslimen auf westliche Botschaften. «Er ist die Integrationsfigur des modernen Islam», sagt Hans-Lukas Kieser, Geschichtsprofessor an der Universität Zürich.

Mit der Idee einer modernen muslimischen Gesellschaft liegt Gülen auf der Linie der gegenwärtigen Reislamisierung unter Staatschef Erdogan. Wie nahe Gülen Erdogan steht, ist unklar, doch für Kieser steht fest: «Gülen-Anhänger sind heute auf allen staatlichen Ebenen anzutreffen. Die Bewegung hat ihre Leute systematisch in den Staat eingebaut.» Die Justiz, die Polizei, die Lehrerschaft und die Universitäten würden mehr und mehr durch Kreise bestimmt, die der Regierungspartei AKP nahestehen. «Das sind weitgehend Gülen-Kreise.» Auch in der Wirtschaft ist die Macht der frommen Elite unübersehbar. Sie besitzt Banken, Versicherungen, Radio- und TV-Sender sowie Zeitungen, darunter die grösste türkische Zeitung «Zaman». Organisiert ist sie im Wirtschaftsverband Tuskom. Was sie eint, ist der Glaube und ein calvinistisches Arbeitsethos.

Die Unternehmer sind das Rückgrat der Bewegung. Die Anhänger werden vom Oberhaupt dazu angehalten, in aller Welt Schulen zu errichten. Stark sind die Bemühungen in Zentralasien und Afrika. «Die Bewegung erinnert an die protestantischen Missionare des frühen 20. Jahrhunderts», sagt Kieser. Laut Gülen sollen die Schulen einen Beitrag zum Weltfrieden leisten. Sie dienen aber wohl auch dazu, die nächste Generation der Bewegung nachzuziehen. Seit den achtziger Jahren entstanden so rund 1000 Schulen in über 120 Ländern. Daneben unterhält das Netzwerk Jugend-Wohnheime. Auch in der Schweiz ist die Bewegung aktiv. Sie steht etwa hinter den «Ekol Bildungszentren» und der privaten Sekundarschule Sera in Zürich. Letztere unterrichtet nach dem kantonalen Lehrplan und steht auch Nicht-Muslimen offen.

Die Bewegung hat gewaltige Dimensionen erreicht. Die Soziologin Helen Rose Ebaugh vermutet, dass bis 15 Prozent der türkischen Bevölkerung eine Nähe zur Bewegung empfinden, weltweit geht man von acht und zehn Millionen Sympathisanten aus. Was die Kritiker misstrauisch macht, ist die fehlende Transparenz. Es gibt keine Adresse, kein Sekretariat und offenbar keine offizielle Mitgliedschaft. Für Aussenstehende bleibt verborgen, was das Netz zusammenhält.

Ist die Gülen-Bewegung eine verschwörerische Bruderschaft, die nach der Macht im Staat strebt? Historiker Kieser glaubt es nicht. «Die Bewegung ist keine streng geführte Organisation, sondern ein Netzwerk.» Zwar habe dieses den türkischen Staat durchdrungen, er sehe aber keine Merkmale einer Verschwörung. Das türkische System erlaube, dass die regierende Partei staatliche Stellen monopolisiere. Kritiker, darunter ehemalige hohe Beamte und Intellektuelle, sehen das anders. Sie verweisen etwa auf die Affäre um die Journalisten Nedim Sener und Ahmet Sik. Die beiden haben ein Buch geschrieben, das belegen sollte, dass die Polizei von Gülen-Leuten unterwandert sei. Im März 2010 wurden sie verhaftet, die Buchveröffentlichung wurde verboten.

Michael Furger

http://www.nzz.ch/aktuell/startseite/das-maechtige-netzwerk-derfrommen-muslime-1.17668219