Fethullah Gülen : Erdogans mächtigster Gegner

30.12.2013 ·  Von Michael Martens, Istanbul – FAZ – Fethullah Gülen ist der stärkste Opponent des türkischen Regierungschefs aus dem islamischen Lager. Er ist mehr als ein Prediger. Er weiß nicht nur, wie das politische Spiel funktioniert – er kann es auch spielen.

Hakan Sükür spielt schon seit Jahren nicht mehr, aber er ist unvergessen bei seinen Landsleuten. Mehr als 200 Tore erzielte Sükür für seinen Stammverein Galatasaray Istanbul, und in 112 Einsätzen für die türkische Nationalmannschaft traf er 51 Mal – so häufig wie kein anderer Spieler. Nach nur 11 Sekunden gelang ihm bei der WM 2002 im Spiel um Platz drei gegen die südkoreanischen Gastgeber der Führungstreffer. Auch dank des schnellsten Treffers in der WM-Geschichte gewann die Türkei das Spiel, und die WM in Asien wurde zum bis heute erfolgreichsten Turnier des türkischen Verbands. Als Hakan Sükür 2008 seine sportliche Karriere beendete, begann er eine zweite Laufbahn als Politiker. Er ließ sich als Kandidat für die „Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung“ (AKP) nominieren, die Machtmaschine des türkischen Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan. Aus dem Stürmer in Istanbul wurde ein Parlamentsabgeordneter in Ankara. Einige Jahre lang war Sükür ein treuer Parlamentarier Erdogans. Doch nie machte er ein Geheimnis daraus, dass seine eigentliche Loyalität einem anderen galt: Fethullah Gülen, dem seit 1999 im toleranten Pennsylvania lebenden Führer der islamischen Bewegung „Hizmet“ (Dienst).

Auf Youtube ist ein Video aus alten Zeiten zu sehen, das Sükür, Erdogan und Gülen noch in trauter Gemeinsamkeit zeigt. Es wurde auf Sükürs Hochzeit aufgenommen, bei der Gülen und Erdogan, damals Bürgermeister Istanbuls, als Trauzeugen anwesend waren. Wer sich damals in wessen Glanz sonnte, ist kaum zu sagen. Die drei Männer profitierten wohl alle voneinander. Als es nun im Dezember zum Bruch zwischen dem Prediger Erdogan und dem Prediger Gülen kam – beziehungsweise als der seit längerem schwelende Konflikt zwischen ihnen offen ausbrach –, schlug sich Sükür umgehend und eindeutig auf die Seite Gülens. Er trat aus der AKP aus und veröffentlichte dazu eine Stellungnahme, die sich in dieser Deutlichkeit in der Türkei heute nur erlauben kann, wer finanziell unabhängig oder sehr mutig ist: „Seit mehr als 20 Jahren kenne und liebe ich die Hizmet-Bewegung“, bekannte Sükür. Dass die AKP Gülens Bewegung, die über Jahre hinweg „in jeder Angelegenheit“ eng an der Seite der Regierung gestanden habe, jetzt als Feind behandele, sei „bestenfalls undankbar“, schimpfte der nun wieder parteilose Star.

Für den ehemaligen Fußballspieler und bekennenden Fußballfan Erdogan war Sükürs Rücktritt ein unangenehmer Schlag – zumal er nicht direkt zurückschlagen konnte. Erdogan kämpft in diesem Konflikt zwar mit aller Härte, doch offene Kritik an Fethullah Gülen, gar unter Nennung von dessen Namen, vermied er bisher. Zu hell strahlt das Charisma des bei Millionen Muslimen beliebten islamischen Predigers, als dass Erdogan ihn direkt angreifen könnte. So verlegt sich der Regierungschef auf die schon nach den Gezi-Protesten im Frühsommer von ihm verbreiteten Verschwörungstheorien. Er spricht von einer „ausländischen Verschwörung“ und einer „schmutzigen Allianz“ gegen die Türkei, ohne deutlicher zu werden. Den Rest erledigen die von der Regierung beziehungsweise von regierungsnahen Konzernen kontrollierten Massenmedien. Sie sprechen von einer „Bande“ und „illegalen Organisationen“, die es zu bekämpfen gelte – dass damit die Hizmet-Bewegung gemeint ist, machen sie sehr deutlich.

Allianzen und Feindseligkeiten

Gülen selbst hält sich ebenfalls nicht zurück. In einer Videobotschaft verdammte er jene, „die den Dieb nicht sehen und stattdessen jenen nachsetzen, die den Dieb jagen … Möge Allah Feuer über ihre Häuser bringen.“ Das ist ziemlich direkt formuliert für einen als gemäßigt geltenden Glaubenspatron. Und doch ist es harmlos, verglichen mit einigen der Aussagen, die Gülen, der nach offiziellen Angaben am 27. April 1941 in einem ostanatolischen Dorf der Provinz Erzurum als Sohn eines Imams geboren wurde, früher von sich gegeben hat. Der deutsche Politikwissenschaftler Günter Seufert hat sich die Mühe gemacht, Gülens frühe Schriften und Äußerungen näher zu untersuchen. Aus dem, was er aus vorwikipedianischen Zeiten zutage gefördert hat, ergibt sich nicht das Bild eines liberalen und weltoffenen Glaubensführers. So schlug sich Gülen sowohl nach dem Militärputsch von 1971 als auch nach dem Coup vom 1980 – in realistischer Einschätzung der Machtverhältnisse – auf die Seite der Generäle. Hätte er das nicht getan, wüsste die Welt heute vielleicht nichts von ihm. Wenige Tage nach dem Putsch von 1980, als Tausende verhaftet wurden und viele auf Nimmerwiedersehen verschwanden, schrieb Gülen in einem Artikel, Anatolien sei „die letzte Wacht“ gegen „Kreuzfahrer“, „Jesuiten“ oder „das Gift der Wollust, des Alkohols sowie der westlichen Philosophien und Ideologien“, und lobte das Eingreifen der Militärs. Noch Ende der neunziger Jahre sagte Gülen rückblickend: „Viele Anführer der Linken fanden damals ihre wohlverdiente Strafe. Muslime wurden meist nur festgenommen, um eine Art Balance zu halten.“

Da die Hizmet-Bewegung in den vergangenen Jahren eine Speerspitze im Kampf gegen die Vorherrschaft des Militärs war, mögen Gülens Anhänger heute nicht mehr gern an die frühe militaristische Jubelpublizistik ihres Idols erinnert werden. „Es ist bezeichnend für das Bild, das heute von Gülen vermittelt werden soll, dass die offizielle Website Gülens seine Rechtfertigung des Putsches unter den Teppich kehrt und Gülen ausschließlich als Leidtragenden des Staatsstreichs präsentiert“, stellt Seufert in seiner durchaus wohlwollenden Studie zu Leben und Werk des Führers der Hizmet-Bewegung fest. In Wirklichkeit habe Gülen sich jedoch nicht nur als Verklärer des Osmanischen Reiches als türkisch-muslimischer Großmacht und Avantgarde der islamischen Welt hervorgetan, sondern auch durch „Ressentiment gegen Nichtmuslime, besonders Christen“. In seinen frühen Schriften äußerte Gülen sich zudem auch feindselig gegen Kurden und Aleviten. In manchen von der Hizmet-Bewegung herausgegebenen Schriften war daher auch nicht von „Kurden“ und „Kurdistan“, sondern nur von „Ostlern“, und „östliche Provinzen“ die Rede. Dies ist indes Vergangenheit. Heute sind zur Gülen-Gruppe gehörende Medien die eifrigsten Verfechter von mehr Minderheitenrechten für die Kurden. Dort, wo die türkischen Kurden Unabhängigkeit und einen eigenen Staat fordern, ist es freilich auch mit der Toleranz der Bewegung meist vorbei.

Solidarität ist unerwünscht

Von den radikalen Muslimen unterschied sich Gülen schon früh durch die Ansicht, dass es nicht darum gehen könne, die Türkei als „laizistischen“ Staat mit Gewalt zu bekämpfen. In der Tageszeitung „Sabah“, die sich heute zu 100 Prozent auf der Linie Erdogans befindet, fragte Gülen im Januar 1998: „Habt ihr denn einen anderen Staat? Zerstört den Staat nicht, bevor ihr nicht seine Alternative vorbereitet habt.“ Gülen, der seine Anhänger als „Soldaten, nicht der Form, aber dem Geiste nach“, bezeichnet, mahnte stattdessen immer wieder, „dass es unerlässlich sei, eine Elite heranzubilden, die intellektuell in der Lage ist, den Staat zu leiten und in der Konkurrenz mit dem Westen zu bestehen“, so Günter Seufert.

Es wäre allzu billig, Gülens Weltsicht mit einigen alten Zitaten auf den Punkt bringen zu wollen. Wie er heute zu seinen alten Aussagen steht, kann allerdings niemand wissen, denn er äußert sich nicht dazu. Die Gülen oft zugeschriebene Berufsbezeichnung „Prediger“ insinuiert zwar, Gülen sei ein genügsamer Mann des Geistes. Ein Mann, der unter sich keinen Sklaven und über sich keinen Herrn sehen will, wie es der verstorbene deutsche Prediger Bertolt Brecht einst formulierte. Doch selbstverständlich weiß Gülen nicht nur, wie das politische Spiel funktioniert – er kann es auch spielen.

Bezeichnend für die Reaktion, die jene zu spüren bekommen, die sich mit Gülen oder seiner Bewegung überwerfen, ist der Fall des britischen Publizisten Andrew Finkel. Finkel lebt seit mehr als 20 Jahren in Istanbul. Seine Frau, eine Schottin, ist eine bekannte Historikerin, spezialisiert auf osmanische Geschichte. Finkel hat ebenfalls Bücher über die Türkei geschrieben, und er war Kolumnist in der zur Gülen-Gruppe gehörenden englischsprachigen Tageszeitung „Todays Zaman“ – bis er 2011 entlassen wurde. „Ich dachte, es sei eine Verpflichtung einer Zeitung, andere Journalisten nicht im Gefängnis sehen zu wollen. Einer von ihnen, Ahmet Sik, wurde aber beschuldigt, ein Buch gegen die Gülen-Bewegung geschrieben zu haben, und verhaftet. Als eine Gülen-Zeitung hatten wir die besondere Verpflichtung, unsere Kritiker zu verteidigen“, sagt Finkel.

Dem Recht des Stärkeren verpflichtet

So sah er es, aber so sah die Zeitung es nicht und entließ ihn. Tatsächlich drückte Finkel seine Kritik in seinem letzten Artikel für „Todays Zaman“ (der von dem Blatt freilich nie gedruckt wurde) durchaus vorsichtig aus. Er schrieb über die „aggressive Verfolgung von Menschen, die Bücher schreiben“, und meinte vor allen den Fall Ahmet Sik. Sik hatte ein Buch geschrieben, in dem er behauptete, die Gülen-Bewegung – damals noch eng an der Seite Erdogans – habe die Polizei und den Justizapparat des Landes unterwandert. Obwohl er seine Behauptungen vielfach nur mit schwachen Belegen oder gar nicht untermauern kann, rief das Buch offenbar in mächtigen Kreisen großen Unmut hervor. Sik wurde festgenommen, saß über Monate in Untersuchungshaft, ohne dass es eine Anklage gegeben hätte. Am Ende einer bizarren Justizposse wurde er zwar freigelassen, doch die Warnung stand im Raum: So wie Sik kann es allen gehen, die sich zu weit vorwagen.

Finkel hatte, als Sik noch im Gefängnis saß und der Ausgang seines Falls nicht absehbar war, in aller Vorsicht für seinen Kollegen und andere Gülen-Kritiker Partei ergreifen wollen: „Es mögen schlechte Bücher sein, es mögen Bücher sein, die aus niederen Motiven verfasst wurden, es mögen Bücher sein, die unwahre Behauptungen erhalten. Aber letztlich sind es Bücher.“ Um sich gegen solche Bücher zu wehren, gebe es die Möglichkeit, Verleumdungsklagen einzureichen, schrieb Finkel. „Ein Buch zu verfassen, das die Gülen-Bewegung beleidigt, ist kein Verbrechen“, stellte Finkel fest und erinnerte daran, dass das Buch noch nicht einmal veröffentlicht worden war, dass außer einigen Staatsanwälten also niemand seinen Inhalt kennen konnte. Man könne über die Motive jener, „die nicht wollen, dass wir dieses Buch lesen, nur spekulieren“, schrieb Finkel – und war seinen Job los.

Wie groß die Macht Gülens oder seiner Bewegung über das Justizsystem aber wirklich ist, lässt sich kaum abschätzen. Ermittler, Staatsanwälte oder Richter, die Anhänger der Hizmet-Bewegung sind, tragen schließlich keine Namensschilder am Revers. Der türkische Geheimdienst, der Erdogans Kontrolle untersteht, hält sich bisher offenbar zurück. Zwar heißt es immer wieder, bestimmte Staatsanwälte stünden Gülen und seinem Umfeld nahe, doch handfeste Nachweise dieser unterstellten Nähe – Korrespondenzen, abgehörte Telefonate oder Treffen – wurden bisher nicht bekannt. Die Beweislage ist dürftig, allenfalls die Indizien sprechen für sich. Denn dass ein Teil der Justiz in Erdogans Reich ganz offen gegen dessen Interessen gearbeitet hat in der jüngsten Zeit, ist offenkundig. Die eigentliche Misere der Türkei liegt denn auch in einer Justiz, die sich nicht der Herrschaft des Rechts, sondern dem Recht des Stärkeren verpflichtet sieht und auf Zuruf Ermittlungen beginnt oder einstellt.