EU fällt hartes Urteil über die Türkei

9.10.2012 – DIE WELT  – In der Türkei gibt es bei Grundrechten keinen Fortschritt. Der EU-Bericht bemängelt, dass gewalttätige Polizisten geschützt werden, Gerichte parteiisch urteilen und die Meinungsfreiheit verletzt wird.

Die EU-Kommission fällt in ihrem Jahresbericht zur Türkei ein hartes Urteil: “In Hinsicht auf die Grundrechte gibt es keinerlei Fortschritt. Die zunehmende Verletzung der Meinungsfreiheit gibt Grund zur Sorge, und auch die Freiheit der Medien ist in der Praxis weiter beschränkt worden”, heißt es in dem diesjährigen Fortschrittsbericht, mit dem Brüssel die Umsetzung fundamentaler Prinzipien auf dem Weg zum Beitritt zur Europäischen Union bemisst.

Er soll am Mittwoch von EU-Kommissar Stefan Füle vorgestellt werden und lag der “Welt” vorab vor.

Gerichte missbrauchten die Gesetze gegen Meinungs- und Pressefreiheit, “besonders jene in Bezug auf Terrorismus und organisierte Kriminalität”.

Nach wie vor herrsche zudem im Polizei- und Armeeapparat eine Atmosphäre der Straflosigkeit. Als aktuelles Beispiel nennen die EU-Prüfer ein Anfang des Jahres entdecktes Massengrab im Südosten der Türkei, wo die kurdische Minderheit lebt. Der Fund sei nach wie vor nicht angemessen untersucht worden.

Exzessive Polizeigewalt

Wo vor Gericht Vorwürfe exzessiver Polizeigewalt oder verfahrensrechtlicher Fehler untersucht werden, gebe es “einen signifikanten Rückstau; Priorität wird offensichtlich den Gegenargumenten der Sicherheitskräfte gegeben”.

Generell fällt das EU-Urteil über den Justizapparat schlecht aus; zwar seien durch ein drittes Reformpaket Verbesserungen eingetreten. “Trotzdem braucht es noch weitere Anstrengungen bezüglich der Unabhängigkeit, Unparteilichkeit und Effizienz der Justiz.”

Kritik kommt aus Brüssel auch in Hinsicht auf die Bereitschaft Ankaras, bei der Kontrolle der türkischen Grenzen zu kooperieren. Ein geplantes Gesetzespaket, um das Sicherheitsmanagement zu verbessern, sei dem Parlament noch immer nicht vorgelegt worden.

Ineffiziente Grenzkontrollen

Trotz eines im Mai 2012 geschlossenen Abkommens mit der EU-Grenzagentur Frontex seien die türkischen Grenzkontrollen nach wie vor “ineffizient und nutzten ihre Ressourcen nicht optimal”.

Nach EU-Angaben kommt derzeit der Großteil illegaler Immigranten über die türkisch-griechische Grenze in die EU. 2011 soll es rund 55.000 illegale Übertritte gegeben haben.

Die Türkei begann im Oktober 2005 mit den Beitrittsverhandlungen. Von 35 Kapiteln, die das Land abarbeiten muss, ist bisher nur eines abgeschlossen. Über 13 weitere verhandelt Ankara mit Brüssel, wenn auch mit schwindender Motivation. Die restlichen Kapitel werden von Zypern und Frankreich blockiert. Bereits 1963 hatte die Europäische Union den Türken erstmals in Aussicht gestellt, eines Tages Mitglied zu werden.