Essay von Michel Houellebecq : Die Zukunft nach Corona

MESOPOTAMIA NEWS : DAS VIRUS PUSCHT DEN „FORTSCHRITT“, ALSO DAS ÜBLICHE IMMERFORT VORKOMMENDE – ES BEENDET NICHTS & NIMMT NUR EINEN NEUEN ANLAUF !

Ich glaube nicht an Erklärungen der Art, dass nichts so sein wird, wie es war. Antworten an einige Freunde.

Man muss es schon zugeben: Mit den meisten E-Mails der letzten Wochen wollte man sich nur vergewissern, dass der Gesprächspartner nicht tot ist oder es bald sein wird. War dies erst einmal klargestellt, versuchte man doch noch ein paar interessante Dinge zu sagen, was nicht einfach war, da diese Epidemie die Leistung vollbringt, beängstigend und langweilig zugleich zu sein. Ein banales Virus, auf wenig ruhmreiche Art mit obskuren Grippeviren verwandt, kaum bekannte Überlebensumstände, ungenaue Merkmale, mal gutartig, mal tödlich, nicht einmal sexuell übertragbar: kurz, ein Virus ohne Eigenschaften. Obwohl die Epidemie täglich mehrere tausend Menschen tötete, vermittelte sie dabei den merkwürdigen Eindruck, ein Nichtereignis zu sein. Übrigens sprachen meine ehrwürdigen Kollegen (zumindest einige von ihnen sind ehrwürdig) nicht viel darüber, sie gingen lieber auf die Ausgangssperre ein; und ich würde hier gerne meinen Beitrag zu ihren Beobachtungen hinzufügen.

Frédéric Beigbeder (aus Guéthary, Pyrénées-Atlantiques). Ein Schriftsteller sieht ohnehin wenige Menschen, er lebt wie ein Eremit mit seinen Büchern, die Ausgangssperre ändert für ihn kaum etwas. Absolut einverstanden, Frédéric, was das Sozialleben angeht, verändert sie so gut wie nichts. Doch du vergisst einen wichtigen Punkt (wahrscheinlich, weil du auf dem Land lebst und dich das Verbot weniger hart trifft): Ein Schriftsteller muss laufen.

Genau das, was ich damals, in Bezug auf das Aussterben der Menschheit, im Sinn hatte

Die Ausgangssperre scheint mir die ideale Gelegenheit, einen alten Streitpunkt zwischen Flaubert und Nietzsche zu klären. Flaubert sagt irgendwo (ich habe vergessen, wo), dass man nur im Sitzen gut denken und schreiben kann. Nietzsche protestiert und macht sich über ihn lustig (ich habe ebenfalls vergessen, wo), er geht sogar so weit, ihn als Nihilisten zu beschimpfen (es findet also zu jener Zeit statt, als er bereits begonnen hatte, dieses Wort in alle Richtungen zu missbrauchen): Er selbst hat all seine Werke im Gehen konzipiert, alles, was nicht im Gehen konzipiert wird, ist schlecht, er sei übrigens immer ein dionysischer Tänzer gewesen und so weiter. Ich stehe kaum unter Verdacht, eine übertriebene Sympathie für Nietzsche zu hegen, trotzdem muss ich eingestehen, dass er in diesem Fall recht hat. Es ist stark vom Versuch zu schreiben abzuraten, wenn man nicht die Möglichkeit hat, am Tag mehrere Stunden zu laufen: Die angestaute Nervenspannung kann sich nicht auflösen, die Gedanken und Bilder kreisen weiter schmerzhaft im armen Kopf des Autors herum, er wird reizbar, um nicht zu sagen: verrückt.

Das Einzige, was wirklich zählt, ist der mechanische Rhythmus des Gehens, dessen wichtigstes Ziel es nicht ist, neue Ideen aufkommen zu lassen (auch wenn dies durchaus stattfinden kann), sondern den Konflikt zu beruhigen, den der Aufeinanderprall der am Schreibtisch entwickelten Ideen ausgelöst hat (und hier wiederum hat Flaubert nicht ganz unrecht); Nietzsche driftet ein bisschen ab, wenn er uns von seinen auf den felsigen Abhängen im Hinterland von Nizza und den Weiden des Engadins entwickelten Konzepten erzählt: Wenn man nicht gerade an einem Reiseführer schreibt, haben die durchquerten Landschaften weniger Bedeutung als die inneren Landschaften.

Catherine Millet (normalerweise eher Pariserin, hatte das Glück, gerade in Estagel, Pyrénées Orientales, zu sein, als der Befehl des Stillstands erteilt wurde). Die aktuelle Situation erinnert sie auf ärgerliche Weise an den „visionären“ Teil eines meiner Bücher. „Die Möglichkeit einer Insel“.

Und da habe ich mir gedacht, dass es schon toll ist, Leser zu haben. Weil ich selbst nicht darauf gekommen war, diese Parallele zu ziehen, obwohl sie vollkommen klar ist. Tatsächlich war es, wenn ich jetzt daran zurückdenke, genau das, was ich damals, in Bezug auf das Aussterben der Menschheit, im Sinn hatte. Keinen spektakulären Moment, sondern etwas ziemlich Trübsinniges. Individuen, die isoliert in ihren Zellen leben, ohne physischen Kontakt zu ihren Artgenossen, mit nur ein paar sich zunehmend verringernden Interaktionen über den Computer.

Emmanuel Carrère (Paris-Royan; er scheint einen guten Grund gefunden zu haben, sich zu bewegen). Werden interessante, aus dieser Zeit inspirierte Bücher entstehen? Er stellt sich die Frage.

Wann ist es angebracht, sie zu reanimieren und zu pflegen?

Ich stelle sie mir auch. Ich habe es mich wirklich gefragt, aber im Grunde glaube ich das nicht. Über die Pest hat es im Laufe der Jahrhunderte viel gegeben, die Pest hat die Schriftsteller interessiert. Hier habe ich so meine Zweifel. Zuerst einmal glaube ich keine halbe Sekunde an Aussagen wie „Nichts wird je mehr sein wie zuvor“. Im Gegenteil, alles wird genau gleich bleiben. Die Entwicklung dieser Epidemie ist sogar auf bemerkenswerte Weise normal. Der Westen ist nicht für die Ewigkeit, nicht durch Gottes Gnaden die reichste und am besten entwickelte Zone der Welt. Das alles ist vorbei, schon seit einer Weile, das ist kein Scoop. Wenn man es im Detail analysiert, kommt Frankreich sogar ein bisschen besser weg als Spanien und Italien, aber schlechter als Deutschland; auch das ist keine große Überraschung.

Das Coronavirus dürfte ganz im Gegenteil einen Wandel, der schon im Gange ist, beschleunigen. Seit einigen Jahren haben die technologischen Entwicklungen, ob sie nun weniger wichtig sind (Video-on-Demand, kontaktloses Bezahlen) oder wesentlich (Fernarbeit, Shoppen per Internet, die sozialen Netzwerke), zur Folge (zum Hauptziel?), die physischen Kontakte zu reduzieren, besonders die zwischen Menschen. Die Epidemie des Coronavirus liefert dieser Tendenz eine wunderbare Daseinsberechtigung, die menschlichen Beziehungen obsolet erscheinen zu lassen. Das erinnert mich an einen schillernden Vergleich, der mir in einem Anti-PMA-Text der Aktivisten-Gruppe „Die Schimpansen der Zukunft“ aufgefallen ist (ich habe diese Leute im Internet gefunden, ich habe nie gesagt, dass das Internet nur Nachteile bietet). Ich zitiere also: „Schon bald wird es genauso unpassend erscheinen, seine Kinder selbst kostenlos und zufällig zu machen, wie ohne Internet-Plattform zu trampen.“ Carsharing, Wohngemeinschaften, man hat die Utopien, die man verdient. Lassen wir das.

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Es wäre genauso falsch, zu behaupten, dass wir das Tragische, den Tod, die Endlichkeit und so weiter wiederentdecken. Seit einem halben Jahrhundert schon kann man die von Philippe Ariès wunderbar beschriebene Tendenz beobachten, den Tod, so gut es geht, zu vertuschen: Nun, der Tod war nie so diskret wie in diesen vergangenen Wochen. Die Leute sterben allein in ihren Zimmern, in Krankenhäusern oder Altersheimen, man begräbt sie sofort (oder äschert man sie ein? Die Einäscherung entspricht mehr dem Zeitgeist), ohne irgendwen zu benachrichtigen, sang- und klanglos. Ohne den geringsten Zeugenbericht komprimieren sich die Opfer in der täglichen Totenstatistik zu einer Einheit, und die Angst, die sich mit den steigen Zahlen in der Bevölkerung verbreitet, hat etwas seltsam Abstraktes an sich.

Eine andere Zahl, die in den letzten Wochen an Bedeutung gewonnen hat, ist das Alter der Kranken. Wann ist es angebracht, sie zu reanimieren und zu pflegen? Mit 70, 75, 80 Jahren? Das kommt offenbar darauf an, in welcher Region der Welt man lebt; zumindest hat man nie mit einer solchen Schamlosigkeit zum Ausdruck gebracht, dass nicht jedes Leben den gleichen Wert hat; dass es ab einem gewissen Alter (70, 75, 80 Jahre?) ein bisschen so ist, als sei man schon tot.

All diese Tendenzen, ich sagte es bereits, haben vor dem Coronavirus existiert, sie haben sich nur mit einer neuen Gewissheit zu erkennen gegeben. Wir werden nach dieser Ausgangssperre nicht in einer neuen Welt aufwachen. Es wird dieselbe sein, nur  etwas schlimmer.

Aus dem Französischen von Annabelle Hirsch.

Der französische Schriftsteller Michel Houellebecq veröffentlichte zuletzt den Roman „Serotonin“ (Dumont).