ERNÄHRUNGSETHIK : Essen ist dann gut, wenn es schmeckt ? (Über politisch korrekte Ernährung)

Was dürfen wir essen? In Regensburg wurde über Ernährungsethik debattiert – und warum sie scheitern muss. So viel Moral auch beim Essen in der Luft liegen mag, manchmal sind die Emotionen stärker.  Die Moralisierung der Ernährung hat Hochkonjunktur. Der verantwortungsvolle Verbraucher müsse, sagen die Moralisierer, bei jedem Einkauf und vor jedem Biss in den Apfel oder das Hühnerbein Wasser- und CO2-Bilanzen des Produktes studieren, auf Beipackzetteln oder Internetseiten lesen, wie die Arbeitsbedingungen auf dem Feld und die Lebensbedingungen im Stall sind, wie die Folgen des Anbaus für Klima, Wald und Böden. Sie werden unterstützt von staatlichen Bürokraten, Zertifizierungsstellen oder CO2-Fußabdruckberechnungsbüros.

“Iss nur das Huhn, das so lebte, wie du selbst gern leben würdest”, lautet der kategorische Imperativ des guten Essens. Das aber macht kaum ein Mensch. Der Verbraucher verbraucht weiterhin am liebsten günstig. Ein ethisches Dilamma – oder teilt er die Moralen der korrekten Ernährung größtenteils gar nicht?

Die Ernährungsethik war nun Gegenstand einer ausgerechnet von der Heidelberger Rainer Wild-Stiftung (“Capri Sonne”) veranstalteten Tagung an der Universität Regensburg: “Was der Mensch essen darf – ökonomischer Zwang, ökologisches Gewissen und globale Verlockungen”. Mit intaktem ökologischem Gewissen ausgestattet, sprach der Lüneburger Philosoph Harald Lemke. “Es ist sehr viel Ethik in der Luft”, sagte er, forderte eine Hinwendung zu postmaterialistischen Werten und eine grundlegende Veränderung unserer Zivilisation und Lebensweise: “Wir müssen uns fragen: Wie viel Fleisch steht jedem zu?” Denn die Fleischerzeugung benötigt viel Getreide und Wasser, die Menschen auch direkt konsumieren könnten. Der Staat müsse also den überbordenen Fleischkonsum eingrenzen, folgte aus Lemkes Vortrag. Nicht nur der deutsche – Lemke warb für einen “Marshallplan globale Tischgesellschaft 2050”. Das Fleisch sei im kapitalistischen Schlaraffenland zu billig: “Das sind keine Meinungen, das sind belegte Realitäten.” Matthias Tanzmann von “Brot für die Welt” schlug in dieselbe Kerbe. Er unterfütterte seine recht dogmatische Forderung, unsere Ernährung müsse regional sein, mit Bildern des Welthühnerhandels. Noch 1993 seien in Deutschland zu 80 Prozent ganze Hühner verkauft worden, 2010 seien dies 10 Prozent gewesen – da die verwöhnten Leute keine Innereien mehr äßen und nur noch Brust, während afrikanische Länder mit billigen Hühnerresten überflutetet und Bauernexistenzen vernichtet würden.

Weniger Ethik war dann in der Luft, als der Regensburger Anthropologe und Ernährungshistoriker Gunther Hirschfelder die real existierende Fleischwirtschaft ein wenig in Schutz nahm. Er machte eine Vertrauens-, nicht aber eine Qualitätskrise aus und warnte vor “Aufregungsschäden”, die dadurch entstehen könnten, dass die Agrarwirtschaft zu Unrecht negativ dargestellt werde. Hirschfelder gab sich als Gegner der staatlichen Ernährungssteuerung. “Wir leben in einem Land, in dem Essen und Trinken die letzten unregulierten Bereiche sind” (nicht die Produktion, sondern die privaten Speisepläne der Menschen), und dies solle so bleiben. Er stellte als einer von wenigen Referenten die Frage, ob sich angesichts der Bevölkerungsexplosion in Schwellenländern dort überhaupt noch jemand um Ethik schere. Ebenso, wenn hier in Europa die Wirtschaft weiter einbreche. Dann blickte Hirschfelder wieder nach Deutschland und ein Jahrhundert zurück und erinnerte daran, wie viel Krieg und Umwälzung allein von 1912 bis 1950 stattgefunden hätten und fragte, was uns wohl noch an Schrecklichem und Ethik-Umwälzendem bevorstehe.

Überhaupt sei es, wie ein Referent in Erinnerung rief, eine recht neue und grundsätzlich ja wunderbare Errungenschaft, dass sich auch Habenichtse dank moderner Landwirtschaft heute Fleisch leisten könnten: Vom fünfzehnten bis ins zwanzigste Jahrhundert hinein habe Fett- und Fleischmangel in Europa geherrscht. Weitere Gegenargumente, warum sich fleischlose und womöglich regenwaldfreundliche Ernährung nicht durchsetzen werde, lieferte Manuel Trummer (Regensburg). Die Esskultur sei historisch determiniert, ergäben anthropologische Forschungen: Die Kindheitserinnerungen prägten unseren Geschmack, deshalb sei der Weihnachtsbraten nicht wegzudenken. Er sprach vom “Geschmackskonservativismus” als menschlicher Eigenschaft. Emotionen überlagerten beim Essen die ethischen Fragen.

Hier sah auch Gunther Hirschfelder den zentralen Punkt, weshalb Ernährungspolitik zum Scheitern verurteilt sei. Ihn unterstützte Christoph Klotter (Fachhochschule Fulda), der Gedanken von Emmanuel Levinas rezipierte. Dieser Philosoph bezeichnete den Genuss als Prototyp der Unabhängigkeit – da sich Genuss laut Klotter “glücklicherweise” nie (wie die Ethik) an der Vernunft orientierte: “Deswegen ist der Paternalismus in der Ernährungsaufklärung völlig gescheitert.”

In die Zukunft blickte die Berliner Verpackungsdesignerin Eva Kristin Stein. Sie berichtete von Fleisch aus dem 3D-Drucker und ganz fleischlosem Fleisch. Vielleicht, so schloss sie aus der Untersuchung neuer Produkte der Ernährungskonzerne, machten der technische Fortschritt und Marketing das Nutztier bald überflüssig. Chicken-Produkte – etwa Nuggets in Dinosaurierform für Kinder – seien vermehrt schon so weit entfernt vom Huhn, dass man fragen müsse, ob man ein Huhn dafür überhaupt noch benötige. Schon seien erste “chicken-free nuggets” erhältlich. Stein fragte: “Kann man nicht so radikal sein und sagen, wir lösen die Referenz vom Symbol?”

Mit praktischer Bauernklugheit sprach schließlich Thomas Dosch, Biobauer und früherer Präsident des Verbands Bioland. Nicht aus Überhöhung des “knuddeligen Etwas” Huhn noch als Anhänger “einer Biokirche” oder gar eines Bildes der “Natur als Perfektion” wolle er referieren, sondern als praktizierender Hühnerhalter “unter Berücksichtigung dessen, von dem ich annehme, was für das Huhn gut ist”. Er spreche nicht als Dogmatiker, sondern als Beobachter der Hühner auf seinem Hof, berichtete er den Ethikern. “Auch diese modernen Hühner, die wollen was”, sagte Dosch: scharren, im Sand baden, sie liefen einen Kilometer am Tag. In der konventionellen Haltung würden sie nach 24 Stunden in der Brüterei von ihrer Mama getrennt, bei ihm nicht: “Menschen würden Verhaltensstörungen bekommen.” Biobauer sein heiße für ihn “Bio machen, weil man nicht anders kann – und am Ende will das jemand kaufen”.

JAN GROSSARTH