DOKUMENTATION : 200 Siedlungen am Tigris werden überschwemmtHochriskantes Riesen-Projekt: Die Türken bauen den Ilisu-Damm

Dienstag, 25.09.2012  von FOCUS-Redakteur Michael Odenwald – BLOOMBERG NEWS. –  In der Türkei soll der Ilisu-Staudamm entstehen. Auch die Ruinen einer Brücke aus dem 12. Jahrhundert (im Bildvordergrund) würden vom Stausee überflutet.Vor wenigen Jahren konnten an Größenwahn grenzende Staudamm-Projekte nicht realisiert werden: zu groß waren die sozialen, politischen und ökologischen Bedenken. Heute überwiegt der irrwitzige Wunsch nach „sauberer“ Wasserkraft. Die Türkei nimmt am Tigris höchstes Risiko in Kauf.

Jetzt ist es also soweit: Um den Damm des Ilisu-Stauseeprojekts bauen zu können, wurde Ende August der Tigris im Bereich der Baustelle aus seinem Bett geleitet und fließt nun für die nächsten zwei Jahre in drei großen Tunneln durch einen Berg. Laut dem türkischen Umweltminister Veysel Eroglu soll der Damm im Sommer 2014 fertig gestellt sein, nach einem weiteren Jahr ist der Stausee gefüllt. Dann wäre eines der weltweit umstrittensten Dammbauprojekte vollendet.

Vertreter von Behörden und den beteiligten Firmen feierten den neuen Bauabschnitt mit einer pompösen Zeremonie. Minister Eroglu nannte Ilisu ein „wichtiges strategisches und wirtschaftliches Projekt“. „Ob er ,strategisch´ eher im Hinblick auf nationale Auseinandersetzung mit den Kurden oder im Hinblick auf die internationalen Folgen vor allem für den Irak meinte oder beides, blieb unklar“, sagt Ulrich Eichelmann von der Umwelt- und Menschenrechtsorganisation ECA Watch Österreich (EWÖ).

Die Abhängigkeit des Irak von der Türkei wächst

Tatsächlich sind von Ilisu starke regionalpolitische Auswirkungen zu erwarten. „Geht Ilisu in Betrieb, hängt der Irak mehr denn je am Tropf der türkischen Wasserpolitik. Etwa sechs Millionen Menschen leben im Irak am und vom Tigris, etwa durch Bewässerung oder Fischfang“, so Eichelmann. Zu ihnen zählen die so genannten Marsch-Araber, auch Ma´dan genannt. Sie leben in einer der bedeutendsten Kulturlandschaften der Welt, den Mesopotamischen Sümpfen im Südirak. Dort, am Zusammenfluss von Euphrat und Tigris, erfanden vor über 6000 Jahren die Sumerer die erste Schrift sowie die Grundzüge unserer Landwirtschaft und erließen erste Gesetze. Manche Forscher glauben, dieses Gebiet sei der Garten Eden gewesen.

Früher: Unterdrückt von Saddam Hussein

So lange der irakische Diktator Saddam Hussein regierte, wurden die Marsch-Araber und ihre Kultur unterdrückt, denn sie sind – anders als die damalige Regierungsclique – Schiiten. Zudem hielten sie an ihren Traditionen fest, die der herrschenden Bath-Partei als irrational und überholt galten. Sie leben in Schilfhäusern, fischen und züchten Wasserbüffel, ihre Verkehrsmittel sind Boote.

Nach der Niederlage des Irak im zweiten Golfkrieg, der 1991 nach der Besetzung Kuwaits begann, erhoben sich die Marsch-Araber gegen Saddam Hussein und rechneten dabei mit der Unterstützung der Amerikaner. Diese zogen sich jedoch aus dem Irak zurück. Daraufhin schlugen regimetreue Truppen den Aufstand nieder und begannen, die Sümpfe im Siedlungsgebiet der Marsch-Araber trocken zu legen. Am Ende lebten nur noch 20 000 bis 50 000 Menschen dort, ursprünglich waren es 500 000 gewesen. Nach dem Sturz Saddam Husseins 2003 rissen sie unverzüglich die Dämme an den Flussarmen nieder und begannen mit der Wiedervernässung des Gebiets.Durch den Ilisu-Damm, der das Tigris-Wasser zurückhält, fürchten die Ma´dan nun die abermalige Zerstörung ihres Lebensraums. Deshalb kamen im Mai dieses Jahres neun ihrer Stammesführer nach Hasankeyf, eine uralte Stadt am Ufer des Tigris, um gegen das Projekt zu protestieren. „Weil niemand zu uns in den Irak kommt, um uns zu hören, kommen wir zu euch, um zu sprechen. Wir leben in einer der bedeutendsten Regionen der Welt, und die ist wegen Ilisu in Gefahr“, erklärte einer von ihnen, Scheich Sayed Abbas, bei der Protestveranstaltung. Zusammen mit den Bewohnern von Hasankeyf, EWÖ sowie türkischen und irakischen Umweltorganisation forderten sie in der „Tigris Deklaration“ die Vereinten Nationen auf, ihren Kampf gegen den Damm zu unterstützen.

„Die Folgen von Ilisu sind weitaus größer als bisher angenommen. Wir hoffen, die UNO bringt die Türkei und den Irak an den Verhandlungstisch. Sonst wird die Wiege unserer Zivilisation zur Wüste“, urteilt EWÖ-Experte Eichelmann. „Besonders die Frühjahrshochwässer sind entscheidend für die Überschwemmungsgebiete nahe Basra. Und genau die sollen im Stausee abgefangen werden.“ Im Irak und vor allem in den Sümpfen käme dann nur noch ein schmutziges Rinnsal an. Eichelmann: „Wenn Ilisu kommt, kommt dort die Wüste .“ Scheich Sayed Abbas machte noch einen Vorschlag zur Güte: „Wir müssen den Staudamm gar nicht ganz verhindern. Reduzieren wir die Stauhöhe von 130 Meter soweit, dass Hasankeyf nicht überflutet und unsere Sümpfe nicht austrocknen würden.“ Dazu wäre eine Reduktion von 65 Metern erforderlich.

Fast 200 Siedlungen sollen überflutet werden

Es sieht aber nicht so aus, als ob die Türkei dem Vorschlag folgen würde. Denn Ilisu ist ein Teil des türkischen Südostanatolien-Projekts (SAP). Es sieht vor, die Flüsse Euphrat und Tigris an ihren Oberläufen mit insgesamt 22 Dämmen aufzustauen. An den Stauseen sollen 19 Wasserkraftwerke Strom erzeugen, dazu sind Bewässerungsanlagen geplant. Es ist das größte Entwicklungsprojekt der Türkei, 2010 sollte es abgeschlossen sein, seine Fertigstellung wird sich aber noch mehrere Jahre hinziehen.Allerdings war es von Anfang an heftig umstritten. Der Stausee soll 135 Kilometer lang werden und eine Fläche von 313 Quadratkilometern bedecken. Sein Wasser dient zur Stromerzeugung in einem 1200-Megawatt-Kraftwerk. Dafür werden die Kreisstadt Hasankeyf und 198 weitere Siedlungen ganz oder teilweise überflutet. Nach Berechnungen unabhängiger Experten müssen deshalb bis zu 78 000 Menschen umgesiedelt werden. Der offizielle Umsiedlungsplan nennt dagegen 43 000 Betroffene, die Projektbetreiber gingen sogar von nur 12 000 bis 15 000 Umsiedlern aus.

Soziale Spannungen steigen

Wie es ihnen ergehen könnte, zeigen die Erfahrungen mit den Atatürk-, Karakaya- und Bireçik-Dämmen, denen rund 90 000 Bewohner weichen mussten. Für sie wurden kaum Arbeitsplätze geschaffen. Die „guten“ Stellen gehen zumeist an gut ausgebildete Arbeiter aus dem Westen der Türkei, klagen Entwicklungsexperten. Überdies erhielten viele Betroffene für ihre verlassenen Ländereien und Besitztümer nur unzureichende Entschädigungen, und sie können weniger erwirtschaften als früher. Daher sind die meisten mit ihren neuen Siedlungen unzufrieden, so dass die sozialen Spannungen in der hauptsächlich von Kurden bewohnten Region steigen dürften.

So half es auch nicht, dass Politiker versuchten, die Umsiedlung am Ilisu-Damm schön zu reden. „Das neue Hasankeyf wird eine der schönsten Städte der Türkei“, versprach Umweltminister Eroglu bei der Grundsteinlegung im Frühjahr 2012. Doch eine Umfrage unter den Einwohnern ergab, dass fast 70 Prozent einen Umzug ablehnen – unter anderem, weil die neuen Wohnungen mehr kosten als sie an Entschädigung erhielten.

Auch außenpolitisch droht Ungemach. So hängen die Trinkwasserversorgung und Energieerzeugung in Syrien und dem Irak weitestgehend vom Wasser des Euphrat und Tigris ab. Beide Länder sind darauf angewiesen, dass ihnen die Türkei genug Wasser übrig lässt. Zusammen beanspruchen sie zwei Drittel der gesamten Abflussmenge des Euphrat, die Türkei weigert sich aber, mehr als die bereits 1987 in einem Abkommen vereinbarten 500 Kubikmeter pro Sekunde vertraglich zu garantieren. Vor Beginn des SAP betrug die Wassermenge etwa 950 Kubikmeter pro Sekunde.

Die Türkei wäre jederzeit in der Lage, Syrien und Irak regelrecht das Wasser abzudrehen. Sollte dieses irgendwann wirklich geschehen, ist ein Krieg nicht ausgeschlossen. Das Konfliktpotenzial wurde erstmals 1990 deutlich, als bei der Erstbefüllung des Atatürk-Stausees der Euphrat knapp einen Monat lang fast vollständig abgesperrt war.

Wasser als Druckmittel

Die Türkei nutzt das Wasser auch als Druckmittel bei der ungelösten Kurdenproblematik. So erhöhte die Türkei 2009 kurzfristig den Durchfluss als Belohnung für die Zusicherung des Irak, gegen militante Kurden vorzugehen, die einen eigenen Staat fordern. Umgekehrt soll die fortwährende Drohung mit der Wassersperre verhindern, dass sich die Nachbarstaaten in der Kurdenfrage gegen die Türkei wenden. Innenpolitisch setzt Ankara darauf, dass das SAP den Lebensstandard in den Kurdengebieten erhöht, so dass militante Organisationen wie die PKK an Zulauf verlieren.

http://www.focus.de/wissen/technik/tid-27457/ingenieurstechnisches-grossprojekt-der-ilisu-damm-wird-gebaut-die-nachbarlaender-werden-auf-die-barrikaden-gehen_aid_825808.html