DIE DOPPELTE STAATSBÜRGERSCHAFT ALS DOUBLE BIND PROBLEM
Man flieht vor dem türkischen Staat, weil der einen verfolgt, beantragt aber in der BRD die doppelte Staatsbürgerschaft, damit die Türkei einen somit weiter verfolgen kann – was sie nicht könnte, verfügte man nur über die deutsche – dann könnte man den Schutz Deutschlands rechtlich in Anspruch nehmen. Sonst nicht.
Nedim Sener: Mit einer doppelten Staatsbürgerschaft ist es für den deutschen Staat nicht möglich, meinen Schutz in der Türkei zu gewährleisten, weil der türkische Staat hier für mich zuständig ist. Dieser sieht aber sicher keinen Grund, mir Polizeischutz zu gewähren. Ich habe mich bei der Abgabe meiner Staatsbürgerschaft nicht gegen die türkische Kultur oder gegen den Islam entschieden. Ich habe mich für ein politisches System entschieden, das dazu bereit ist, mich zu schützen.
“Mama, ist mein Vater ein Terrorist?”
Der Journalist Nedim Sener und die Anwältin Seyran Ates werden beide bedroht. Ein Gespräch über Menschenrechte und Courage – DIE WELT – 7.11.2013
Die deutschtürkische Anwältin und Menschenrechtlerin Seyran Ates trifft den türkischen Enthüllungsjournalisten und Kolumnisten Nedim Sener in Istanbul. Das “Welt”-Gespräch mit den beiden wird in der Lounge eines Hotels geführt, von der man den Taksim-Platz und den Gezi- Park im Blick hat. Nach der heftigen Protestwelle in der Türkei, die mit dem Kampf um den Erhalt des Parks begann, schwebt hier der “Gezi ruhu”, der Gezi- Geist. Er verkörpert das alltägliche Ringen um Freiheit und zivilgesellschaftliche Rechte. In ihm engagiert sind sowohl Sener als auch Ates. Allerdings sind ihre Voraussetzungen höchst unterschiedlich: Ates engagiert sich für die Liberalisierung des Islam und Frauenrechte islamischer Frauen in Deutschland, überlebte 1984 schwer verletzt einen Anschlag, bei dem eine Klientin starb, und wird wegen anhaltender Drohungen vom deutschen Staat beschützt. Sener hingegen hat in einem Buch die Verwicklung staatlicher Stellen in die Ermordung des armenischen Schriftstellers Hrant Dink im Jahr 2007 beschrieben – und wird deshalb nun von der türkischen Justiz angeklagt. Ein Gespräch über Bedrohung, den Kampf um Bürgerrechte und den Staat als Helfer oder Bedrohung.
Die Welt:
Herr Sener, Sie haben letztes Jahr ein Buch über das, was Ihnen widerfahren ist, geschrieben – mit dem Titel: “Papa, wieso haben Sie dich eingeschlossen?”. Sie haben eine zehnjährige Tochter.
Nedim Sener:
Ich habe bereits damit gerechnet, dass ich für meine Enthüllungen umgebracht werden würde. In der Türkei herrscht so eine Tradition. Man hätte einen Lkw auf mich drauffahren lassen, und es hätte wie ein Verkehrsunfall ausgesehen. Niemand hätte das als politisch motivierten Mord ermittelt. Es wäre mir aber niemals eingefallen, dass die türkische Justiz sich gegen mich verschwören würde. Meine Tochter las mit ihrer Mutter zusammen die Anklageschrift und sah dabei das Wort “Terrorist”. Sie fragte “Mama, ist mein Vater ein Terrorist?” Sie hat schon mit sieben Jahren begriffen, dass Terroristen Flugzeuge entführen, Bomben legen und dabei unschuldige Menschen umbringen. Der türkische Staat erzählt meiner Tochter: “Dein Vater ist eigentlich kein Journalist, sondern ein Terrorist.” Kann es etwas Hässlicheres geben?
Frau Ates, Sie haben Ihre türkische Staatsbürgerschaft abgegeben. Mit welchen Gefahren wären Sie konfrontiert, wenn Sie in der Türkei leben würden?
Syran Ates:
Mit einer doppelten Staatsbürgerschaft ist es für den deutschen Staat nicht möglich, meinen Schutz in der Türkei zu gewährleisten, weil der türkische Staat hier für mich zuständig ist. Dieser sieht aber sicher keinen Grund, mir Polizeischutz zu gewähren. Ich habe mich bei der Abgabe meiner Staatsbürgerschaft nicht gegen die türkische Kultur oder gegen den Islam entschieden. Ich habe mich für ein politisches System entschieden, das dazu bereit ist, mich zu schützen.
Herr Sener, hatten Sie die Möglichkeit, in Deutschland Asyl zu beantragen?
Sener:
Ich bin in Deutschland geboren, meine Geschwister und einige Verwandte leben dort. Wenn ich gewollt hätte, wäre ich vor Jahren nach Deutschland ausgewandert. Nachdem ich aus dem Gefängnis entlassen wurde, habe ich das Schengen-Visum erhalten, aber ich habe bis heute nie daran gedacht, in ein anderes Land auszuwandern.
Ates:
In Deutschland sind Sie ein Held.
Sener:
Und in der Türkei bin ich ein Terrorist.
Ates:
Nein, Sie sind ein Held.
Sener:
Ich glaube an die Gerechtigkeit. Ich denke nicht daran zu fliehen.
Herr Sener, wie lange haben Sie in Deutschland gelebt?
Sener:
Ich war ein typisches “Kofferkind”. Die ersten funktionierenden Verkehrsampeln habe ich in Deutschland gesehen. Die Ampeln symbolisierten für mich Regeln und Gesetze. Mein Glaube an die Justiz hat seinen Ursprung in Deutschland. Die Verkehrsampeln sorgen dafür, dass niemand verletzt wird, solange sich jeder an die Regeln hält. Meine journalistische Arbeit möchte ich innerhalb der Gesetze auf eine transparente Art machen. Bei Grün fährt man, bei Rot bleibt man stehen. Ich bin bei Rot stehen geblieben, aber der türkische Staat hat mich von hinten überfahren, denn er hält sich nicht an die Regeln, die es selbst erlässt.
Ihre Freiheit wird bedroht, und Sie beide müssen um Ihr Leben fürchten. Wer ist auf Ihrer Seite? Von wem werden Sie angefeindet?
Sener:
Seit ich aus dem Gefängnis entlassen wurde, erhielt ich Unterstützung vom türkischen Volk – und das von Menschen mit unterschiedlichen politischen Ideologien. Ich habe bisher von der türkischen Bevölkerung keine Anfeindungen erhalten, aber der türkische Staat erklärte mich zum Staatsfeind. Mit meinen Enthüllungen über die Hintergründe des Mordfalls Dink wurde ich zu seiner Zielscheibe. Die türkische Polizei, Gerichte und Staatsanwälte haben sich auf mich gestürzt.
Ates:
Bei mir sieht es etwas anders aus. Ich werde weder vom Staat verfolgt, noch verhindert dieser meine Arbeit. Der deutsche Staat hat die Haltung, dass er seine Bürger im Rahmen der Meinungsfreiheit schützen muss. Hier zeigt sich der wahre Einsatz für Freiheit, weil nämlich Freiheit immer auch der Einsatz für die Freiheit des Andersdenkenden ist. Diejenigen, die mir ernsthaft drohen, sind radikal-islamische rechte Türken. Auch werde ich als Rassistin bezeichnet, und mir wird vorgeworfen, ich würde Türken beleidigen. Das sind vorwiegend deutsche Linke, die in der Vergangenheit versucht haben, meinem Ruf zu schaden, um mein Engagement zu behindern.
Aber Ihre Kritik richtet sich nicht gegen den deutschen Staat, anders als bei Nedim Sener.
Ates:
Selbstverständlich kritisiere ich auch den deutschen Staat. Ich sage öffentlich, dass die staatliche Integrationspolitik nicht gut läuft, dass der deutsche Staat seine Augen vor Zwangsheirat und Ehrenmorden verschließt. Ich fordere seit vielen Jahren ein Einwanderungsministerium. Als ich bei unserem ehemaligen Bundespräsidenten Christian Wulff eingeladen war, habe ich heftig mit ihm diskutiert und ihm offen gesagt: “Beim Thema Kopftuch denken Sie falsch.” Er hat mir respektvoll zugehört. Niemand hat mich für meine Kritik festgenommen, obwohl ich ihm mehrmals ins Wort gefallen bin.
Der deutsche Verfassungsschutz hat Fehler bei der Beobachtung des rechtsextremen NSU begangen, auf dessen Konto eine Mordserie geht. Inwiefern konnten Sie das in Deutschland offen kritisieren?
Ates:
Ich kann sehr bequem öffentlich sagen, dass der Verfassungsschutz da ernsthafte Fehler begangen hat. Niemand schließt mich in Deutschland dafür ins Gefängnis ein. Man sollte den deutschen Staat aber nicht allzu sehr loben, insbesondere im Hinblick auf die NSU-Affäre. Obwohl wir den Staat in Deutschland öffentlich kritisieren dürfen, mussten wir mit ansehen, wie wichtige Beweise vernichtet wurden. Sie verwechselten links mit rechts.
Sener:
Was meinen Sie damit, rechts und links verwechselt?
Ates:
Beim Schreddern der Akten haben sie angeblich den falschen Stapel erwischt, und damit wurden die wichtigsten Dokumente vernichtet. Das war ein sehr beschämendes Ereignis für Deutschland. Trotzdem sickerte es durch, und die deutsche Öffentlichkeit hat Wind davon bekommen. Die Medien fragten sich, ob der Staat das deutsche Volk eigentlich für dumm verkaufen wollte.
Sener:
Auch hier sind Akten verschwunden. Aber nicht nur, dass die Mitarbeiter des türkischen Geheimdienstes Dokumente vernichtet haben, sie versuchten auch, mit falschen Informationen der türkischen Öffentlichkeit auf einen Mörder zu deuten. Mit meinem Buch habe ich die fehlenden Dokumente ans Licht gebracht, die nicht mehr versteckt oder vernichtet werden konnten. Für die Verantwortlichen gab es keine Konsequenzen, alle Fakten finden sich im Buch. Weil ich das geschrieben habe, wurde ich beschuldigt, ein Terrorist zu sein. Ich saß 13 Monate im Gefängnis.
Ates:
Ich führe ein luxuriöses Leben in Deutschland als Menschenrechtlerin.
Sener:
Sie haben wenigstens das Glück, dass Sie nicht als Terroristin beschuldigt werden, wenn Sie über gesellschaftliche Missstände schreiben oder Skandale veröffentlichen
Ates:
Man darf aber kein rosarotes Bild von Deutschland zeichnen. Das, was Sie heute in der Türkei erleben, musste in Deutschland in den 50er-Jahren unter anderem der “Spiegel” erleben. Damals konnte und wurde die Meinungs- und Pressefreiheit unter dem Gesetz des Landesverrats eingeschränkt. Der deutsche Staat konnte bequem Berufsverbote über Journalisten verhängen. Die inzwischen an die Demokratie gewöhnte und von ihr überzeugte Bevölkerung setzte sich aber für die Meinungsfreiheit ein, indem sie protestierte.
Sener:
Als ich und der Journalist Ahmet Sik verhaftet wurden, haben uns viele Journalisten unterstützt. Unsere Kollegen haben nicht nur am Taksim-Platz, sondern überall in der Türkei gegen unsere Verhaftung demonstriert. Natürlich hat das seine Wirkung gezeigt. Gleichzeitig wurde ich von Menschenrechtlern aus Europa, den USA, Nordamerika und Lateinamerika unterstützt. Sogar aus arabischen Ländern und dem Fernen Osten habe ich Unterstützung erhalten.
Was hat das für Gefühle in Ihnen ausgelöst, als internationale Organisation und ausländische Staaten Sie unterstützten?
Sener:
Meine größte Angst im Gefängnis war, dass die Menschen dem türkischen Staat Glauben schenken und annehmen werden, dass ich diese Straftaten begangen habe. Über mich wurden ständig falsche Dinge behauptet, und ich konnte mich im Gefängnis nicht dagegen wehren. Die Verantwortlichen im Mordfall wollten mich nicht nur im Gefängnis sehen, sondern meinen Ruf schädigen, damit sich der Wahrheitsgehalt der Fakten schwächt, die ich enthüllte. Als mich meine ausländischen Besucher sprachen, war ich beruhigt, denn sie glaubten weiterhin an meine Unschuld. Da wurde mir klar, dass ich diesen Kampf gewonnen habe. Ich habe aber erst dann endgültig mein Ziel erreicht, wenn sich die Verantwortlichen für ihre Taten schämen.
Auch bei Ihnen wurde oftmals versucht, Ihren Ruf zu schädigen. Was ist Ihre größte Angst, Frau Ates?
Ates:
Auch meine größte Angst ist, dass die Menschen an meiner Absicht zweifeln. Denn mein Anliegen ist es, mich für Freiheiten und Menschenrechte einzusetzen. Ich kämpfe weder gegen die Türkei, noch gegen die türkische Kultur, auch nicht gegen den Islam. Mein einziger Kampf gilt dem Patriarchat. Und ich stehe gegen alle Gesetze und Handlungen, die die Menschenrechte verletzen. Ich bin Anwältin geworden, um mich für die Rechte der Minderheit starkzumachen.
Sie waren aber gezwungen, eine Zeit lang ihre Tätigkeit als Anwältin aufzugeben. Seit Sie Drohungen erhalten, leben Sie zusammen mit Ihrer Tochter unter Polizeischutz.
Ates:
Ja, der Grund dafür war, dass das Leben meiner Tochter in Gefahr sein könnte. Das war eine sehr schmerzliche Periode in meinem Leben. Ich habe aufgehört zu schreiben. Ich war der Auffassung, dass ich nicht mehr meine Meinung öffentlich sagen darf, um meine Tochter schützen zu können.
Herr Sener, am 12. Dezember ist Ihre nächste Verhandlung, bei der Ihnen eine Haftstrafe von mindestens sieben Jahren droht. Frau Ates, Sie haben wieder Ihre Tätigkeit als Anwältin begonnen und leben weiter mit der Angst um Ihr Leben.
Sener:
Seyran hat Glück, denn der Staat ist auf ihrer Seite und die Polizei beschützt sie. Bei mir ist es die Polizei, die sich gegen mich verschworen hat. Und die Justiz ist nur ein Theater, das mich bestrafen möchte.
Ates:
Man könnte mich jederzeit in einer Ecke umbringen, das weiß ich.
Sener:
Aber wenn in Deutschland böse Menschen Sie umbringen wollen, gibt es Menschen, die sie schützen. Aber hier werden wir vom Staat angefeindet. Wer schützt uns hier vor dem Staat?
Ates:
Ich weiß nicht, was ich Nedim raten könnte. Was die Lebensgefahr anbelangt, bin ich selbst ratlos.
Sener:
Wünsche mir viel Glück. Wünsche mir einfach nur Glück. (lacht)
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