DEUTSCHE PATRIOTEN IN MARAS – Einsatz in der Heldenstadt

In Kahramanmaras werden bald deutsche Soldaten stationiert / Von Michael Martens

ISTANBUL, 18. Dezember – FAZ –  Afghanistan war der bisher unwegsamste ausländische Einsatzort der Bundeswehr, der mutmaßlich unaussprechlichste aber liegt in der Türkei: Vom kommenden Jahr an sollen etwa 350 deutsche Soldaten in der türkischen Provinz Kahramanmaras eingesetzt werden. Wären sie vor 1972 gekommen, hätten sie es zumindest sprachlich einfacher gehabt, von ihrem Einsatzort zu berichten. Ihren Titel als “Heldenstadt” (“Kahraman” heißt auf Türkisch “Held”) für die Verdienste im türkischen Unabhängigkeitskrieg führt die Stadt offiziell nämlich erst seit jenem Jahr. Vorher hieß sie einfach Maras.

Die Stationierung deutscher, niederländischer und amerikanischer Patriot-Einheiten etwa 100 Kilometer jenseits der türkisch-syrischen Grenze ist in der Türkei nicht unumstritten. Kurdische Politiker kritisierten anfangs, der Einsatz könne von der türkischen Regierung dazu genutzt werden, um in das Geschehen in der im Norden Syriens de facto bestehenden kurdischen Autonomieregion einzugreifen. Dem wankenden Regime in Damaskus immer noch wohlgesinnte radikale linke oder rechte türkische Nationalisten führten hingegen an, Ankara wolle mit dem Einsatz der Nato-Einheiten über Umwege doch noch die von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan und seinem Außenminister Ahmet Davutoglu seit Monaten vergeblich geforderte Flugverbotszone im Norden Syriens durchsetzen. Dass es darum einstweilen nicht geht, macht nicht nur die Formulierung etwa des deutschen Mandatsbeschlusses (“Der Einsatz dient nicht der Einrichtung oder Überwachung einer Flugverbotszone über syrischem Territorium”) deutlich.

Mehrere türkische Zeitungen verwiesen auf die geographischen Tatsachen, also darauf, dass Patriot-Raketen eine Reichweite von knapp 70 Kilometern haben, die Stadt Kahramanmaras aber mehr als 100 Kilometer von der syrischen Grenze entfernt liegt. Dennoch wird es weiterhin Protestkundgebungen in der Türkei geben, unter anderem am kommenden Wochenende in der türkischen Grenzprovinz Hatay, wo die Sympathien eines beträchtlichen Teils der lokalen Bevölkerung bei Assad liegen. Auch in Kahramanmaras könnte es zu Demonstrationen kommen.

Der Ort hat seit jeher eine bewegte Geschichte, auch im wörtlichen Sinne: Die Provinz liegt in einem Erdbebengebiet. Zuletzt kam es im Juli zu einem mittelschweren Beben der Stärke 5,0, bei dem jedoch niemand ums Leben kam. Obwohl die Provinz nicht im Zentrum der ständigen Kämpfe zwischen staatlichen Truppen und Einheiten der PKK liegt, kommt es auch in Kahramanmaras mitunter zu gewaltsamen Zusammenstößen zwischen der Armee und Kämpfern der kurdischen Terrorbande. Im Oktober töteten Polizisten nach Angaben des Gouverneurs der Provinz drei PKK-Kämpfer in einem Gefecht. Drei Monate zuvor waren im Osten der Provinz drei türkische Soldaten in ihrem Fahrzeug schwer verletzt worden, als am Straßenrand ein Sprengkörper explodierte. Die Urheberschaft der PKK wird in solchen Fällen automatisch vermutet. In der Provinz befindet sich außerdem eines von derzeit mehr als einem Dutzend Aufnahmelagern, die der türkische Staat für Flüchtlinge aus Syrien errichtet hat. Nach Angaben des türkischen Innenministeriums haben in den vergangenen 20 Monaten insgesamt fast 138 000 Flüchtlinge aus Syrien in der Türkei Zuflucht gesucht. Die tatsächliche Zahl dürfte noch deutlich höher sein, da viele Flüchtlinge sich nicht haben registrieren lassen.

Berüchtigt ist Kahramanmaras vor allem für die Aleviten der Türkei. In der Provinzhauptstadt kam es im Dezember 1978 zu einem der blutigsten Massaker an dieser religiösen Minderheit. Angestiftet von den rechtsradikalen “Grauen Wölfen”, wurden damals bei Ausschreitungen von fast einer Woche Dauer mehr als 100 Menschen getötet. Die meisten Opfer waren Aleviten. Die Türen ihrer Häuser waren von ortskundigen Tätern vorher durch Farbzeichen kenntlich gemacht worden, damit sich der Furor nicht versehentlich gegen Sunniten richte. Erst nachdem der Mob mehrere Tage getobt hatte, griff der Staat durch die Entsendung von Soldaten ein. Nach dem Massaker von Kahramanmaras verhängte die Regierung des damaligen Ministerpräsidenten Bülent Ecevit das Kriegsrecht über mehr als ein Dutzend Provinzen sowie die Städte Ankara und Istanbul. Viele Sunniten behaupten bis heute, die Aleviten seien keine Muslime, sondern Ungläubige oder Abtrünnige. Die Aleviten von Kahramanmaras sind dabei gleichsam eine Minderheit in der Minderheit, denn es sind vor allem Kurden.

Im Schatten der politischen Unruhen ist es als Folge der Wirtschaftsreformen des türkischen Ministerpräsidenten Turgut Özal in der vormals bitterarmen Provinz Kahramanmaras jedoch auch zu einem beachtlichen Aufschwung gekommen, der im vergangenen Jahrzehnt noch an Fahrt gewonnen hat. Özal schuf ein System umfangreicher Subventionen, das nicht überall zu den gewünschten Ergebnissen führte, jedoch die Entstehung eines Mittelstandes gefördert hat. Aus Kahramanmaras kommen einige der erfolgreichsten neuen Unternehmer der Türkei. Viele benötigten keine staatlichen Subventionen für ihren Aufstieg. Den finanzierten sie aus Eigenmitteln oder, da ihnen als Muslime Geschäfte mit herkömmlichen Banken aufgrund des islamischen Zinsverbots nicht möglich waren, durch türkische Gastarbeiter in Europa, die ihre Ersparnisse in “islamische” Unternehmen investierten.

Das bekannteste Erfolgsbeispiel aus der Provinz Kahramanmaras ist wohl der in der gesamten Türkei populäre Speiseeishersteller “Mado”. Auch die Textilindustrie ist mit mehr als 300 Betrieben und 16000 Beschäftigten in der Provinz stark vertreten und hat viele Abnehmer in Europa, unter anderem in Deutschland. Einige Betriebe profitierten zwischen 2003 und 2010 von einem Wirtschaftsförderungsprojekt der Deutschen Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit, die Berater in die Region schickte. Türkische Unternehmen aus dem Westen des Landes, wo die Arbeitslöhne höher sind, lassen ebenfalls in Kahramanmaras produzieren und nutzen die noch immer vergleichsweise geringen Arbeitskosten. Die frommen und fleißigen Unternehmer des anatolischen Mittelstandes von Kahramanmaras, ob ihrer Arbeitsethik in soziologischen Studien schon vor Jahren als “muslimische Calvinisten” beschrieben, gehören zu den Stammwählern der regierenden “Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung” von Ministerpräsident Erdogan. Dieser Zweig der anatolischen Unternehmerschaft nimmt in der türkischen Wirtschaft einen immer größeren Raum ein – auch das gehört zur Wirklichkeit von Kahramanmaras.

Frankfurter Allgemeine Zeitung, 19.12.2012, Nr. 296, S. 3

http://fazarchiv.faz.net/document/showSingleDoc/FAZT__FD2201212193731217?KO=&DT