Der Traum vom Groß-Kurdistan in Syrien

DIE WELT – 20.8.2012 – Der kurdische Oppositionsführer Baschar ist von Syrien in den Irak geflohen. Er hält den syrischen Konflikt für einen Krieg der Konfessionen – und befürchtet: “Die Gewalt kann noch schlimmer werden.” Von Eldad Beck

Die Botschaft war klar und eindeutig: “Wenn Sie nach Hause zurückkehren, sind Sie tot!” Abdulhakim Baschar kannte die politischen Verhältnisse seiner Heimat Syrien gut genug, um zu wissen, wie ernst er diese Drohung nehmen musste. Damals im Dezember hatte der Generalsekretär der Kurdischen Demokratischen Partei und Führer des kurdischen Nationalrates (KNC), der größten kurdischen Oppositionsbewegung in Syrien, gerade eine wichtige Reise nach Europa beendet.

In London und in Paris hatte er Regierungsvertreter getroffen, um Wege aus dem langen und brutalen Blutbad in Syrien zu erörtern und Zukunftspläne für die Zeit nach dem Fall des verhassten Assad-Regimes zu entwickeln. Seine letzte Station auf der Heimreise war Erbil, die Hauptstadt des teil-unabhängigen kurdischen Staates im Norden des Irak. Kurz bevor Baschar nachhause fahren wollte, erhielt er die Botschaft. Bis heute weißt er nicht, ob das Regime das Attentat gegen ihn geplant hatte, oder seine Rivalen innerhalb der syrisch-kurdischen Bevölkerung. Vielleicht haben sogar beide kooperiert. In Syrien ist derzeit alles möglich. Der 50-jährige Kinderarzt beschloss, im sicheren Irakisch-Kurdistan zu bleiben.

Seither führt er seine leitet Aktivitäten von Erbil aus. Die Entscheidung dürfte ihm das Leben gerettet haben: Nur wenige Wochen, nachdem Baschar gewarnt wurde, ermordeten Unbekannte einen seiner engsten Mitarbeiter in Syrien.

“Das hat nichts mehr mit einer Revolution zu tun”

Der dynamische Oppositionsführer bewegt sich in Erbil ohne große Sicherheitsmaßnahmen. Seine Gastgeber – die kurdische Regierung unter dem legendären Freiheitskämpfer Massud Barsani – hat äußerst effiziente Geheimdienste, die Baschar schützen. Ihn beschäftigt viel mehr, was gegen die ausufernde Gewalt getan werden kann, die seine Landsleute in Syrien seit 17 Monaten ertragen müssen, auch wenn die kurdischen Teile des Landes vom Bürgerkrieg bisher weitgehend verschont geblieben sind.

“Was zurzeit in Syrien passiert, hat nichts mehr mit einer Revolution zu tun. Das ist ein konfessioneller Krieg und er wird noch lange dauern”, sagt Baschar im Gespräch mit der “Welt” in einer der dramatischsten Wochen der Revolte gegen die Diktatur der syrischen Baath-Partei.

“Das Regime hat die Alawiten [die schiitische Minderheit, aus der die Familie Assad stammt; d. Red.] erfolgreich für einen Kampf gegen Syrien selbst mobilisiert. Am Anfang war es noch ein politischer Konflikt, der alle Teile der syrischen Gesellschaft erfasste. Aber die Opposition war nicht klug genug, um alle Minderheiten zu überzeugen, dass ihr Leben in einem neuen System sicherer sein wird. Die Alawiten, die Drusen, die Christen fürchten einen Wandel und das Regimes benutzt diese Angst, um zu überleben.”

Die Situation in Syrien unterscheidet sich tatsächlich grundlegend von jener in Libyen während des Bürgerkrieges. Während ein breiter Volksaufstand Gaddafi stürzte, ist die einzige Region Syriens, die sich bisher selbst befreit hat, die kurdisch dominierte Provinz al-Dschasira, von den Kurden selbst als West Kurdistan bezeichnet. Doch es gibt widersprüchliche Berichte über die Zustände dort.

Syrische Geheimdienste noch immer präsent

“Die Lage in der Provinz ist ganz anders, als die Medien sie darstellen”, gibt ein junger Syrer zu, der aktiv in der kurdischen Zukunftsbewegung aktiv ist. Diese relativ junge Bewegung will, wie Dr. Baschars Kurdische Demokratische Partei, gleiche Rechte für die große kurdische Minderheit in einem reformierten Bundesstaat Syrien schaffen.

Beide treten aber auch für demokratische Strukturen innerhalb der kurdischen Minderheit ein. Deswegen verfolgen die Aktivisten mit großer Sorge die Machtübernahme der Demokratischen Unionspartei PYD in den kurdischen Regionen Syriens, die von vielen als syrischer Zweig der militanten türkisch-kurdischen Arbeiterpartei PKK gesehen wird.

Die PKK hat in ihrem Kampf gegen die Türkei jahrelang mit dem Assad-Regime zusammengearbeitet. Jetzt, wo die kurze Romanze zwischen dem Herrscher von Damaskus und der Regierung in Ankara endgültig vorbei ist, wird die PYD verdächtigt, ihre alte Allianz mit der Baath-Partei wiederbelebt zu haben.

“Im Gegensatz zu den Medienberichten über eine totale kurdische Kontrolle über al-Dschasira sind die syrischen Geheimdienste und Regierungsvertreter noch immer sehr präsent”, berichtet der junge Aktivist der Zukunftsbewegung.

“Nur die Soldaten und die regulären militärischen Einheiten sind weg, sodass das Regime sich anderswo konzentrierter verteidigen kann. Assad hat sich Ruhe an der kurdischen Front verschafft – mit ein paar Gesten gegenüber der kurdischen Minderheit, die er bis jetzt immer rassistisch diskriminiert hat. Und die Kurden wollen nicht erleben, was die Bevölkerung in Damaskus, Aleppo oder Homs täglich ertragen muss – Bombardierungen, Exekutionen, Blutbäder. Der Krieg ist noch nicht entschieden. Relativ kleine Demonstrationen und ein paar kurdische Fahnen hier und dort bedeuten noch keinen Volksaufstand oder Befreiungskampf.”

PKK steht noch immer auf den Terrorlisten

Die PYD wehrt sich vehement gegen jede Unterstellung der Kollaboration mit dem Regime in Damaskus. Die Partei versucht auch, sich von der PKK zu distanzieren um mit einem eigenständigen politischen Profil im Westen anerkannt zu werden. Die PKK steht noch immer auf den Terrorlisten der USA und der EU.

“Wenn Assad Aleppo und Damaskus verliert”, vermutet Baschar, “dann wird er sich mit seinen Anhängern und seinem Arsenal, also auch mit den Chemiewaffen, an die nördliche Küste zurückziehen. Dort wird er seine letzte Verteidigungslinie errichten mit dem Ziel, einen eigenen Staat für die Alawiten zu sichern. Die Zerstörung der sunnitischen Wirtschaftshochburgen im Norden um Aleppo und Homs ist Teil dieses Plans. Mit dieser Politik der verbrannten Erde will Assad die künftige Überlegenheit seiner Volksgruppe sichern. Die Verwüstungen, die Assad hinterlässt, sind furchtbar. Wir werden Jahre brauchen, um unser Land wieder aufzubauen. Schon Anfang der 20er-Jahre gab es einen alawitischen Staat. Es gibt keinen Grund, warum die Alawiten nicht versuchen sollten, diesen Staat erneut zu gründen. In der jetzigen Situation stehen sie fester hinter Assad als je zuvor.”

Aber ein Auseinanderbrechen Syriens will Baschar nach eigenem Bekunden nicht erreichen. “Wir, die demokratische syrische Opposition, müssen jetzt die Alawiten überzeugen, dass diese Vision keine Lösung für sie ist”, sagt er. Die einzige Lösung sei ein föderaler Straat mit gleichen Rechten für alle Gruppen der syrischen Gesellschaft.

“Die Gewalt kann noch viel schlimmer werden”

“Nur Dezentralisierung kann die Einheit Syriens garantieren”, sagt Baschar. “Sonst wird der Krieg noch lange andauern. Die Gewalt des Regimes kann noch viel schlimmer werden. Und es besteht die Gefahr, dass der Krieg sich ausbreitet – in den Libanon, die Türkei. Sogar im Irak sind die Positionen zur syrischen Krise widersprüchlich.

Die Zentralregierung von Nuri al-Maliki – der Schiit ist – unterstützt Assad, weil die irakischen Schiiten Angst vor einer sunnitischen Regierung in Damaskus haben. Eine solche Regierung könnte den Sunniten im Irak den Rücken stärken und das Land könnte wieder in Flammen versinken. Die Kurden hier stehen mehrheitlich an der Seite der Revolution gegen Assad.”

Die erhoffte Befreiung der kurdischen Regionen in Syrien lässt manche Kurden von einer Art Groß-Kurdistan träumen. Aber die meisten wissen, dass eine solche Möglichkeit noch immer in ferner Zukunft liegt, wenn es sie überhaupt gibt. Die Geschichte hat die Kurden gelehrt, realistisch und pragmatisch zu sein. Baschar und die anderen syrisch-kurdischen Politiker lassen sich vom kurdischen Erfolg im irakischen Föderalismus inspirieren. Auch, wenn es große Unterschiede zwischen beiden Ländern gibt.

“Wir haben ein klares Programm für die Zukunft”, sagt Baschar. “Wir wollen den Fall des Regimes, aber er muss im Innern Syriens erkämpft werden und nicht durch eine militärische Intervention von Außen. Dann wollen wir neue politische Strukturen mit festen Garantien für Demokratie und die Gleichberechtigung aller Bevölkerungsgruppen. Der vierte Punkt ist die Dezentralisierung des Staates.”

Für föderale Staaten gebe es verschiedene Modelle, sagt Baschar: “Kanada funktioniert nicht wie die USA, Deutschland nicht wie die Schweiz.” Aber das Problem liege woanders, sagt der Kurdenführer: “Leider lehnen die Sunniten in Syrien die Idee einer Föderation bislang ab, weil sie die absolute Mehrheit stellen. Aber wenn sie dabei bleiben, wird diese Ablehnung zu einer Explosion führen, nicht nur in Syrien sondern in der ganzen Region.”

http://www.welt.de/politik/deutschland/article108687071/Der-Traum-vom-Gross-Kurdistan-in-Syrien.html