Der PKK-Konflikt in den 90er-Jahren / 1993 – das nicht benannte Putschjahr der Türkei – ÖCALAN & ÖZAL

Von Markar Esayan : Armenischstämmiger, in der Türkei lebender Journalist und Autor. Er war zuletzt u.a. Chefredakteur der Zeitung „Taraf” und schreibt regelmäßig Kolumnen für „Zaman”.

DTJ 12-11-2013 – In jenem Jahr, da Präsident Özal erstmals versuchte, den Kurdenkonflikt beizulegen, starben Politiker unter zum Teil mysteriösen Umständen. Heute wird vorsichtshalber erst mal nur die Straße gegen den Friedensprozess mobilisiert. (Foto: zaman)Im Frühjahr 1993 stellte Abdullah Öcalan, derzeit inhaftierter ehemaliger PKK-Chef, fest: „Özal ist gewillt, etwas zu tun, aber er hat nicht genug Macht, um sein Vorhaben in die Tat umzusetzen.“

Turgut Özal war ein einsamer Staatspräsident. Er wollte das Kurdenproblem unbedingt lösen. Doch die damalige Koalitionsregierung von Süleyman Demirel (li.) und Erdal İnönü hatten seinem ambitionierten, visionären, aber hochgradig unpopulären Vorhaben regelrecht den Krieg erklärt. Özal seinerseits hatte – kurz vor seinem Tod – vor seiner Zentralasienreise seiner engeren Umgebung anvertraut, er wolle für die Lösung des Kurdenproblems erneut in die aktive Politik zurückkehren und er habe sogar daran gedacht, erneut den Parteivorsitz der Mutterlandspartei (ANAP) zu übernehmen.

Auf Initiative Özals wurde ein ständiger Austausch mit Öcalan gepflegt, den Unterhändler über den nordirakischen Kurdenpolitiker Celal Talabani aufrechterhielten. Als Ergebnis der Unterredungen erklärte Öcalan am 16. März 1993 im Bekaa-Tal vor Journalisten, dass beginnend mit dem 20. März ein einseitiger einmonatiger Waffenstillstand ins Leben gerufen werde. Zur damaligen Zeit gab es zwischen Özal und der amtierenden türkischen Regierung einen ähnlichen Zustand wie zwischen der heutigen Regierungs- und den Oppositionsparteien. Doch Turgut Özal erhielt für sein Vorhaben keine Unterstützung von der Regierung und war Zielscheibe äußerst scharfer Attacken geworden.

Die Ansichten der Reformer und jene der Antirevisionisten prallten aufeinander und es gab eklatante Auseinandersetzungen. Leider waren die Antirevisionisten und der geheime Staat in der Übermacht.

Vom Helikopterunglück bis zum Hinterhalt

Adnan Kahveci, der dem türkischen Staat einen von mehreren Berichten zur Kurdenfrage unterbreitet hatte, kam am 5. Februar 1993 bei einem ungeklärten Autounfall ums Leben. Der Oberste Kommandant der Gendarmerie, General Eşref Bitlis, der die einzige Lösung des PKK- und des Kurdenproblems darin sah, dass man den Kurden die Gleichberechtigung garantierte, dass die staatliche Gewalt beendet und der wirtschaftliche Wohlstand der Region gesteigert werden würde, kam am 17. Februar 1993 bei einem rätselhaften Helikopterunglück ums Leben.

Brigadegeneral Bahtiyar Aydın, der zu der Gendarmerieeinheit General Bitlis’ gehörte und in der Provinz Diyarbakır als Gendarmeriekommandant seinen Dienst tat, wurde bei einem Attentat, das angeblich ein PKK-Terroranschlag gewesen sein soll, regelrecht exekutiert. Dass der Anschlag jedoch ein Inside Job aus dem tiefen Staat war und das Militär selbst das Feuer auf ihn eröffnet hatte, ist Gegenstand einer inzwischen fertiggestellten Anklageschrift. Zudem weist die gleiche Anklageschrift auch auf den Umstand hin, dass an jenem Tag definitiv kein Übergriff seitens der PKK ausgeführt worden war.

Der Journalist Uğur Mumcu fiel am 28. Januar 1993 in Ankara, der Vorsitzende des Menschenrechtsvereins IHD von Urfa, Kemal Kılıç, am 18. Februar des gleichen Jahres einem Attentat zum Opfer – wie merkwürdig es angesichts dieser gemessen am betrachteten Zeitraum überdurchschnittlich hohen Mortalität unter Verständigungspolitikern anmutet, dass am 28. Februar des gleichen Jahres der große Generalstab die offizielle Erklärung abgab, dass „die Ära der militärischen Machtübernahmen zu Ende“ sei…

Und genau wie der Einmarsch in Zypern, der Fall „Ergenekon“ und die Ermordung von Hrant Dink in diese Richtung lange nicht hinterfragt wurden, wurde auch der Putsch gegen den Regierungschef von Aserbaidschan, Ebulfez Elçibey, nicht hinterfragt.

Der blutigen Zwischenfälle waren diese aber bei weitem noch nicht genug. Am 24. Mai 1993 wurden in Bitlis 33 unbewaffnete Soldaten exekutiert. Am 2. Juli kam es zum Massenmord von Madımak und gleich drei Tage später, am 5. Juli 1993, wurden im Dorf Başbağlar in der Provinz Erzincan 33 Zivilisten ermordet. Die PKK distanzierte sich von beiden Attentaten. Öcalan seinerseits erklärte, dass er in diesen Übergriffen keinen Sinn erkenne und deutete an, dass er diese für Provokationen von einer großen Tragweite halte.

In den einander nahegelegenen Landkreisen Kulp, Lice und Genç gab es im Jahr 1993 – inklusive 36 ungeklärter Mordfälle – so viele grausige Ereignisse, dass man sie in diesem Artikel gar nicht aufzählen kann. Noch während des von der damaligen Kurdenpartei ÖZDEP verkündeten Waffenstillstands hat das Verfassungsgericht in Ankara eine Reihe von Verfahren eiligst abgeschlossen und sich damit zufrieden gegeben.

1999 wäre eine weitere Chance für den Waffenstillstand gewesen

Doch kehren wir zu den Zielsetzungen Turgut Özals zurück: Özal war darüber sehr verärgert, dass man die Zeit des am 16. März 1993 erklärten Waffenstillstands ungenutzt verstreichen hat lassen. Er sagte immer: „Sie haben diese Möglichkeit mit dem Appell ‚Ergebt euch!’ vertan.“ Der Waffenstillstand wurde durch Özals Bemühungen am 17. April um einen Monat verlängert. Am Morgen desselben Tages starb Özal unerwartet und unter obskuren Umständen.

Nach etwa einem Monat, am 24. Mai, ereignete sich auch in Bingöl ein PKK-Übergriff und damit war der Waffenstillstand de facto zu Ende. Damit hatte sich die Prophezeiung Özals erfüllt und die dunkelste, blutigste und bestialischste Phase dieses Krieges nahm seinen Anfang.

1993 ist das Jahr, in dem der tiefe Staat durch seine angeworbenen Politiker einen Putsch gegen Özal durchgeführt hat.

1999 hingegen wurde nicht nur ein Waffenstillstand besiegelt, es war das Ende des bewaffneten Kampfes. Künftig sollte als Mittel der Durchsetzung der Rechtsansprüche die Politik in den Vordergrund treten. Das hatte Öcalan persönlich als neues Konzept öffentlich gemacht.

Doch der gleiche Öcalan rief am 1. Juni 2004 erneut den bewaffneten Kampf aus. Er war sich des Rückhalts der Regierung nicht sicher und ging davon aus, dass er es mit dem tiefen Staat alleine aufnehmen müsste. Er wusste genau, wie es Özal ergangen war.

Gezi-Proteste inszeniert, um Premierminister zu diskreditieren

Was man in unseren Tagen bezüglich des Verständigungsprozesses erreichen will, ist, dass die PKK erneut gegen die Regierung zu kämpfen beginnt. Aber es ist nicht einfach, das Szenario von 1993 zu wiederholen. Dennoch muss man die Angriffe gegen Erdoğan auch aus dieser Perspektive betrachten. Mit Aussagen wie „Erdoğan ist ein Diktator“ oder „Demokratie besteht nicht aus dem Wahlergebnis“ will man eine neue Form der Bevormundung durch säkular-nationalistische Eliten und einen von diesen gesteuerten Mob auf den Straßen schaffen. Und um das in die Tat umsetzen zu können, muss die PKK unbedingt wieder den bewaffneten Kampf aufnehmen.

Natürlich haben die Aggression und Wut, mit denen das Vorhaben der Demokratisierung bekämpft wird, nicht das Geringste mit dem Inhalt des Pakets zu tun. Und es dürfte, offen gesagt, dieser Prozess der Demokratisierung mit der Inszenierung des Gezi-Protestes vorerst ein Ende gefunden haben.

http://dtj-online.de/tuerkei-1993-putschjahr-pkk-konflikt-14106