DER KAMPF IN DEN BERGEN : Über ROJIN & Hüseyin Topgider

Rojin war 14 Jahre lang in der PKK. Sie träumte von einem eigenständigen Kurdistan und von revolutionärer Romantik.

Von Mehmet Ata – FAS – 2.6.2013 (Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung – FAZ)

Wenn Rojin die Nachrichten über den Rückzug der PKK aus der Türkei liest, kommt alles wieder. Der Hunger, die Märsche, die Bomben. Bis vor sieben Jahren kämpfte sie mit einer Kalaschnikow in der Hand für die verbotene kurdische Arbeiterpartei. Sie sah die zerfetzten Körper ihrer Freunde, und sie schoß auf türkische Soldaten.

Die Geschichte von Rojin und der PKK beginnt 1989 in einer Stadt im Westen der Türkei. Als Sechzehnjährige zog sie von ihrem ostanatolischen Heimatdorf dorthin, um zu studieren. Sie bewarb sich im Studentenwohnheim. Ihr Antrag wurde abgelehnt. Rojin wollte sich damit nicht abfinden und sprach mit ihrem Sachbearbeiter. “Meine Eltern haben kein Geld für eine Wohnung. Ohne Wohnheim kann ich nicht studieren”, sagte sie. Er entgegnete: „Schau mich an. Sehe ich aus wie einer, der einer Terroristin eine Wohnung gibt?” Für ihn war jeder Kurde ein Anhänger der PKK.

Rojin wollte mehr über ihre kurdische Identität wissen. Ihre Eltern hatten immer geleugnet, Kurden zu sein. An der Universität lernte Rojin PKK-Mitglieder kennen, sie besuchte deren Schulungen. In ihr reifte die Entscheidung heran, mit der Waffe für ein eigenständiges Kurdistan kämpfen zu wollen. Sie war beeindruckt, als sie hörte, dass Frauen innerhalb der PKK gleichberechtigt neben Männern kämpfen durften. Und sie wollte in den Bergen die revolutionäre Romantik erleben, die in Volksliedern besungen wird. 1991 marschierte sie mit fünfzig anderen zwei Tage in die Berge zu einem PKK-Camp. Rojin wurde das, was in den Augen des Uni-Angestellten und vieler anderer eine Terroristin ist – und in ihren eigenen Augen eine Freiheitskämpferin. Sie wußte, daß es nun vorbei war mit dem Studium, mit Karriere und Familie.

Bald merkte sie, daß es mit der Gleichberechtigung innerhalb der PKK nicht so einfach war. Manche Männer sagten ihr, Frauen hätten in den Bergen nichts zu suchen. Mit der Romantik war es spätestens vorbei, als sie sich sechs Monate nicht waschen konnte und von Flöhen befallen wurde. Trotz allem gefiel ihr das neue Leben. Die Tage begannen mit Kampfrufen. Alle stellten sich in Reihen auf und schrien: „Yan serkeftin yan serkeftin.” Entweder Sieg oder Sieg.

Anschließend folgten Sport-und militärische Übungen. So vergingen Monate – bis zu den ersten Luftangriffen der türkischen Armee. „Sie haben nach dem Gießkannenprinzip Bomben abgeworfen, doch das war nutzlos. Nie wurde jemand von uns verletzt”, erzählt Rojin.

Das änderte sich im September 1992. Rojins Einheit beobachtete, wie Soldaten in eine Kaserne in der Nähe einrückten, Hubschrauber kamen. Rojin packte Brot, Salz, Zucker, Socken, Unterwäsche und eine Plastikplane in ihren Rucksack. Sie hatte eine Kalaschnikow und 120 Patronen am Gürtel. Eine Patrone hatte sie an den Lauf der Waffe gebunden. Die Patrone war für Rojin selbst bestimmt. Sollte sie festgenommen werden. Die Kämpfer stiegen weiter den Berg hinauf, wo die Soldaten mit ihrem schweren Gerät nicht gut angreifen konnten. Am nächsten Tag begann die Offensive der Armee, sie dauerte 40 Tage. Die Streitkräfte nahmen die PKK von zwei Seiten in die Mangel, auf einer Linie von 300 Kilometern. Hunderte starben, Rojin überlebte.

Später war sie an Guerrilla-Attacken auf türkische Soldaten beteiligt. Die Taktik war immer dieselbe. Die PKK-Einheiten suchten sich ein Ziel aus, zum Beispiel eine Kaserne. Ein Spähtrupp wurde vorgeschickt. Meist waren es drei oder vier erfahrene Leute. Sie sollten herausfinden: Wie viele Soldaten sind stationiert, wo gibt es Zufahrtswege, wo laufen die Soldaten entlang? Nachts, im Schutz der Dunkelheit, erfolgte der Angriff Es mußte schnell gehen, der Überraschungseffekt war entscheidend. Schüsse aus Panzerfäusten, Kalaschnikows.

Ob sie Angst hatte? Jeder Kämpfer hat Angst.” Was sie gefühlt hat, wenn sie Soldaten sterben sah? „Niemand sieht das gerne.” So geht das Gespräch weiter.

Rojin redet von „wir” und „man”, ein „ich” vermeidet sie. Dabei macht sie nicht den Eindruck, Fragen auszuweichen. Es scheint, dass es Rojin seinerzeit als Individuum nicht gegeben hat. Es zählte nur die Gruppe. Rojin redet über stra-tegische Fragen, über Marx, Engels und Lenin. Sie erzählt lange, wie sie innerhalb der PKK dafür zuständig war, eigenständige Fraueneinheiten aufzubauen.

Erst etliche Nachfragen später erfährt man, wie sie Taschen von getöteten Soldaten nach Brauchbarem durchsuchte. Manchmal fand sie Liebesbriefe an die Frau daheim oder Babypantoffeln. Sie dachte dann an das Kind, das ohne Vater aufwachsen musste. In diesen Momenten hatte Rojin Mitleid.

Im Sommer 1997 war Rojin mit achtzig anderen Kämpfern in einem nordirakischen Tal gefangen. Vorn Panzer, hinten Panzer. Eine Bombe schlug ein. Drei Guerrilla-Kämpfer wurden verletzt. Zwei waren erst 15 Jahre alt. Die Gruppe beschloss, sich zu verteilen und sich bis zum Abend zu verstecken. Die Verletzten blieben zurück. Mit Handgranaten in der Hand. Rojin versteckte sich mit fünf anderen hinter einem großen Stein Sie hielt auch eine Handgranate. Sie wußte: Bei einem Schußwechsel hatten sie keine Chance. Also wollten sie möglichst viele Soldaten und sich selbst in die Luft sprengen.

Rojin hörte immer wieder Soldaten wenige Meter entfernt vorbeilaufen. Die Soldaten schossen blind in die Gegend. Rojin bewegte sich nicht. Sie schaute zu den anderen hinüber und dachte: Schade, daß es gleich vorbei ist. Ich hätte gern weitergelebt.

Die Soldaten fanden sie nicht. Nach mehr als zehn Stunden kroch die Gruppe aus dem Versteck. Alle hatten überlebt – bis auf die drei Verletzten. Die hatten sich in die Luft gesprengt.

2006 beantragte Rojin in Europa Asyl. Sie wollte ein ziviles Leben führen, aber weiter in der PKK bleiben. Doch es kam zum Streit mit der Organisation, sie flog raus. Details will sie nicht erzählen. Sie könnte sonst erkannt werden.

Rojin gehörte zur zweiten Generation der PKK-Kämpfer. Für sie war ihre kurdische Identität entscheidend, als sie sich der Organisation anschloss. Sie wollte „etwas für die Kurden tun”, deren Sprache verboten war und deren Existenz geleugnet wurde.

Anders war es bei Hüseyin Topgider. Er ist einer von 25 Leuten, die am 27. November 1978 in einem Dorf nahe Diyarbakir die PKK gründeten. „Wir wollten nach dem Vorbild Chinas, der Sowjetunion und Vietnams eine Revolution durchführen”, erzählt er in einem Café in Hamburg. Zuerst kam für ihn der Sozialismus, dann das Kurde-Sein.

Topgider ist 58 Jahre alt, ein unauffälliger Typ. Nicht sehr groß, weder dick noch dünn. Er spricht ruhig und leise. Er erzählt, wie er 1979 festgenommen wurde, noch bevor er an entscheidenden Aktionen der PKK habe teilnehmen können. Acht Jahre Haft lautete das Urteil für einen Mord, den er nach eigener Aussage nie begangen hat „Die wollten mich wegen meiner politischen Arbeit aus dem Weg schaffen”, sagt er. Topgider wurde nach eigenen Angaben im Gefängnis geschlagen und gefoltert. Mit dem Militärputsch 198o verschlechterten sich die Haftbedingungen weiter. Auch außerhalb der Gefängnismauern ging der Staat härter gegen die PKK vor. Die Kurden zogen sich in den Libanon zurück und ließen sich von palästinensischen Gruppen militärisch ausbilden. 1984 folgte der Aufruf zum bewaffneten Aufstand, der Bürgerkrieg begann, in dessen Verlauf mehr als 40 000 Menschen starben.

Nach seiner Freilassung 1988 fuhr Topgider in den Libanon. Ein Jahr später zog er in die osttürkischen Berge. „1989 waren wir vielleicht 5oo Kämpfer”, sagt er. „Ein Jahr später waren wir dreimal so viele.” Er sei in Hunderte Kämpfe verwickelt gewesen, erzählt Topgider. Das sei für ihn Routine gewesen. Aber Gefahren gab es nicht nur bei Schießereien, sagt er. Im Juni 1992 wollte er mit einer Gruppe die Grenze zum Irak überqueren. Ein Freund trat nur zwei Meter von ihm entfernt auf eine Mine. Das Bein musste amputiert werden. Genau dieser Freund hatte kurz zuvor mehrfach nachgefragt, ob der Weg tatsächlich entmint worden sei. Topgider lacht laut auf, als er die Geschichte erzählt. Es klingt, als ob er das Schicksal auslachen würde.

Ob und wie viele Menschen er in den Kämpfen getötet hat, will er nicht sagen. Nur das: „Wer in den Krieg zieht, nimmt den Tod in Kauf und tötet auch.” Oft habe er Freunde sterben sehen. „Man gewöhnt sich an Tote”, sagt er. Sein Gesicht ist völlig ausdruckslos.

1999 verließ Topgider die PKK und suchte Asyl in Deutschland. Das war nach der Verhaftung des PKK-Führers Abdullah Öcalan. Es passte ihm nicht, weil sich Öcalan bei den Türken entschuldigt und Atatürk gepriesen habe.

„Ocalan entscheidet oft ohne Rücksprache mit anderen”, sagt Topgider. Deshalb ist er sich nicht sicher, ob Öcalan nun für Frieden sorgen kann Topgider wünscht sich eine politische Lösung des Konfliktes. Aber er zweifelt noch an der Ernsthaftigkeit der türkischen Seite. Zweifel hat auch Rojin: „Die Guerrilla-Kämpfer sind sehr skeptisch.”

Die Zeit in den Bergen läßt sie nicht los, sie träumt oft davon. Dann wacht sie traurig auf, weil sie an ihre Freunde denkt, die gestorben sind. Zwei Träume verfolgen sie hartnäckig. Immer wieder tauchen Verstecke darin auf, in denen sie ihre Freunde unterbringen kann. Und sie träumt davon, dass ihre Waffe plötzlich nicht mehr funktioniert. Geweint habe sie in den mehr als 14 Jahren Kampf nie, sagt Rojin. Das hat sich inzwischen geändert.

„Das beste Mittel gegen meinen Schmerz wäre Frieden.”