DemokratischesTürkeiforum(DTF) MENSCHENRECHTSBERICHT Juli 2013

Die folgenden Nachrichten wurden im Juni 2013 vom DTF erfasst (übersetzt). Für externe Links wird keine Verantwortung bezüglich des Inhalts und der Dauerhaftigkeit übernommen.

Verfassungsgericht stoppt lange U-Haft

Wie die Tageszeitung Radikal vom 04.07.2013 meldete hat das Verfassungsgericht, eine Bestimmung im 2012 geänderten Anti-Terror-Gesetz (ATG) außer Kraft gesetzt, die eine maximale Dauer von 10 Jahren Untersuchungshaft für Personen vorsah, die eines Terror-Verbrechens angeklagt sind. Die Republikanische Volkspartei hatte gegen das als 3. Reform-Paket bekannt gewordene Gesetz 6352 vom 2. Juli 2012 eingelegt. Hiermit war im Artikel 10 des Gesetzes 3713 (das ATG) bestimmt worden, dass für Straftaten, die im zweiten Buch, vierter Abschnitt in den Absätzen 4-7 des neuen Strafgesetzes beschrieben werden, die maximale Dauer der Untersuchungshaft doppelt so lang ist, wie in sonstigen Fällen.[1]

Hintergrund

Das Problem der überlangen Untersuchungshaft wurde u.a. in einem Bericht von amnesty international unter dem Titel Gerechtigkeit verzögert und verweigert aufgegriffen. Hier heißt es u.a.:

Im ursprünglichen Entwurf (der Gesetzesänderungen von 2005, DTF) sah die Strafprozessordnung (StPO) eine Dauer der Untersuchungshaft von maximal 2 Jahren vor. Die von der Großen Nationalversammlung angenommene Fassung erlaubt jedoch Haft vor und während des Verfahrens für bis zu 5 Jahre (Artikel 102/2), und verdoppelt diese Zeit für Personen, gegen die Verfahren vor den speziellen Gerichte für Schwere Strafen laufen (Artikel 252/2).

Wie das DTF in seinem Monatsbericht Januar 2011 berichtete, war die neue Bestimmung jedoch nicht 2005 in Kraft getreten, sondern immer wieder verschoben worden. Ursprünglich hätte die maximale Dauer von 10 Jahren U-Haft bei Vergehen, die (zu diesem Zeitpunkt) unter Artikel 250 TSPO fielen, am 1. Juni 2005 in Kraft treten sollen. Diese Frist wurde mit dem Gesetz 5320 (Artikel 12) auf den 1. April 2008 festgelegt. Mit dem Gesetz 5739 vom 26.02.2008 wurde die Frist auf den 31.12.2010 festgelegt. Danach hatte es Proteste vor allem gegen die Entlassung von Häftlingen aus dem Umfeld der radikal-islamischen Organisation Hizbullah gegeben.[2]

 

Umsetzung der Entscheidung

Am 10.07.2013 meldete die Tageszeitung Radikal, dass das Justizministerium ermittelt habe, dass es zwischen 103-105 Angeklagte gibt, die sich seit 5 Jahren oder länger in Untersuchungshaft befinden. Die Richter in diesen Verfahren könnten unter Berufung auf die Entscheidung des Verfassungsgerichts Haftentlassung anordnen. Allerdings hatte das Verfassungsgericht dem Parlament eine Frist von einem Jahr eingeräumt, um eine Korrektur an der beanstandeten Bestimmung vorzunehmen. Die Richter könnten also auch bis zum Ablauf dieser Frist warten, bevor sie eine Haftentlassung anordnen.

 

Entlassung kranker Häftlinge

Wie Radikal vom 06.07.2013 meldete, gibt es Bestrebungen im Justizministerium kranke Häftlinge vorzeitig aus der Haft zu entlassen. Dies wurde nach einem Treffen von Abgeordneten der BDP mit dem Justizminister am 2. Juli bekannt. Dem Vernehmen nach sollen in diesem Zusammenhang 50 Untersuchungsgefangene, die wegen Zugehörigkeit zur Koma Civakên Kurdistan (KCK = Union der Gemeinschaften Kurdistans) angeklagt sind, auf freien Fuß kommen. Es ist auch davon die Rede, dass im 4. Reform Paket der Gerichtsbarkeit ein entsprechender Artikel eingefügt wird.

Fakten zu JITEM in Anklageschrift

Unter der Überschrift Savcı JİTEM’i anlattı (Staatsanwalt berichtet zu JITEM) meldete die Tageszeitung Radikal am 6. Juli 2013, dass in der Anklageschrift zur Ermordung von Musa Anter Erkenntnisse über die Organisierung des als Geheimdienst der Gendarmerie bekannten Teil des “tiefen Staates”, JİTEM zu finden sind. Der Staatsanwalt Osman Coşkun hatte vier Personen, darunter den mit dem Decknamen “Grün” (Yeşil) bekannten Mahmut Yıldırım des Mordes und Aufwiegeln zum Aufstand angeklagt. Zu JİTEM heißt es:

“Die Kommandantur der Intelligenzgruppe in der Gendarmerie wurde 1987 mit Zustimmung des Innenministeriums gegründet. Ein Jahr danach wurde die Gruppe zur “Kommandantur der Gruppe für Intelligenz und Bekämpfung des Terrorismus” umbenannt. 1990 stimmte der Generalstab zu, dass Gruppen in Ankara, İzmir, Diyarbakır und Van gebildet wurden. Obwohl die experimentelle Phase 1990 zu Ende ging, dauerten die Praktiken unter der Bezeichnung JİTEM nach 1990 an. Danach wurde viele extralegale Hinrichtungen verübt. Im JITEM Quartier in Saraykapı (Stadtteil von Diyarbakir) wurden Personen unter Folter verhört und umgebracht.”

Die Anklageschrift zitiert Passagen aus dem Verfahren gegen Ergenekon und den Aussagen des Überläufers Abdullah Aygan sowie dem Urteil im Verfahren wegen des Unfalls in Susurluk und kommt zu dem Schluss, dass JITEM ein Zusammenschluss von Personen war, die eine Organisation zur Begehung von Straftaten bildeten.

Zahlen und Fakten zu Verschwundenen

Das Zentrum der Erinnerung (tr: Hafiza Merkezi) hat als eine erste Aufgabe die Aufklärung der großen Anzahl von Fällen erzwungenen “Verschwindens” in Angriff genommen. Nach einer Meldung in Bianet vom 11.07.2013 wurden auf einer Pressekonferenz in Istanbul zwei Berichte zu Feldarbeiten in der Provinz Şırnak der Öffentlichkeit vorgestellt. Gleichzeitig wurde auf Ergebnisse der Arbeit von vier Jahren aufmerksam gemacht.

Demnach hat das Zentrum von verschiedenen Organisationen der zivilen Gesellschaft Informationen zu 1.353 möglichen Fällen von Verschwindenlassen erhalten. Die meisten davon ereigneten sich im Jahre 1994 (518). In 262 Fällen geht das Zentrum davon aus, dass sie erwiesen sind. In 75% der Fälle wurden Ermittlungen verzögert, in 8% der Fälle dauern Verfahren noch an, in 2% der Verfahren wurde auf Freispruch erkannt und nur in einem Prozent der Fälle (2 Ereignisse) kam es zu einer Verurteilung. Demgegenüber wurden 102 Fälle dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) vorgelegt. In 78% der Fälle wurde die Türkei für eine Verletzung des Rechts auf Lebens “verurteilt”. In 10% der Fälle kam es zu einer gütlichen Einigung (mit dem Eingeständnis, dass es zu einer Verletzung des Rechts auf Leben gekommen sei), 10% der Fälle wurde aufgrund formaler Fehler abgelehnt und 2% der Fälle wurden dem Verfassungsgericht vorgelegt.

Von den 262 sicheren Fällen von Verschwindenlassen wurden in 67% der Fälle keine Leichen gefunden; in 25% der Fälle wurden Leichnams gefunden und den Familien übergeben und in 8% der Fälle wurden Leichen gefunden, aber den Familien nicht übergeben. Nach den vorliegenden Informationen wurden 51% der Betroffenen erschossen, 21% wurden zu Tode gefoltert, 9% wurden aus einem Hubschrauber geworfen, 6% wurden erdrosselt, 5% wurden verbrannt und 8% kamen auf andere Weise ums Leben.

 

Urteil im Prozess Devrimci Karargah

Die Tageszeitung Radikal vom 20.07.2013 berichtete über den Ausgang des Verfahrens gegen die illegale Organisation Devrimci Karargah (Revolutionäres Hauptquartier). Vor der 9. Kammer für schwere Straftaten in Istanbul waren 75 Personen angeklagt.[3] Der bekannteste Angeklagte Hanefi Avcı (ehemaliger Polizeichef und Verfasser des Buches “Haliç’te Yaşayan Simonlar: Dün Devlet Bugün Cemaat” (Die am Goldenen Horn lebenden Simons: Gestern Staat – heute Gemeinde), in dem er Kritik an der Gemeinde des Fethullah Gülen übt) wurde zu mehr als 15 Jahren Haft verurteilt. Dabei erhielt er eine Strafe von 5 Jahren und 7 Monaten Haft für seine vermeintliche Unterstützung der Organisation. Für unerlaubten Waffenbesitz erhielt er eine Strafe von 5 Jahren, für die Beeinflussung der Justiz durch sein Buch lautete das Strafmaß 2,5 Jahre Haft. Hinzu kamen 2 Jahre und 2 Monate Haft für eine Verletzung der Geheimhaltung in den Ermittlungen gegen die Organisation Devrimci Karargah.

Im Verfahren wurden 24 Angeklagte, darunter die Journalistin Aylin Duruoğlu und der Gewerkschafter Kemal Hamzaoğlu, freigesprochen. Nejdet Kılıç, der in der Organisation den Kontakt zu Hanefi Avci hergestellt haben soll, wurde zu 6 Jahren und 8 Monaten Haft verurteilt, der Vorsitzende der Sozialistischen Demokratiepartei (SDP), Rıdvan Turan und die Journalisten Mehmet Yeşiltepe und Baha Okar wurden als Mitglieder der Organisation zu je 6 Jahren und 3 Monaten Haft verurteilt, während der Vorsitzende der Sozialistischen Neugründungspartei (Sosyalist Yeniden Kuruluş Partisi) Tuncay Yılmaz eine Strafe von 6 Jahren und 9 Monaten Haft erhielt.


[1]In der englischen Übersetzung einiger Bestimmungen des neuen Strafgesetzes, die das DTF unter Translation of selected Articles of the Turkish Penal Code angefertigt hat, sind dies die Straftaten in volume 2 – section 4 – chapters 4-7

[2]Vergleiche ebenfalls den Monatsbericht Januar 2011.

[3]Das DTF hat mehrfach berichtet. Einige Details zum Verfahren und zur Personen von Hanefi Avci stehen in den Meldungen im Oktober 2010