Demokratisches Türkeiforum (DTF) – REPORT September 2012

Die folgenden Nachrichten wurden im August 2012 vom DTF erfasst (übersetzt). Für externe Links wird keine Verantwortung bezüglich des Inhalts und der Dauerhaftigkeit übernommen. 

Immunität soll aufgehoben werden

Seit den verurteilten Verbrüderungsszenen zwischen Abgeordneten der Friedens- und Demokratiepartei BDP und Militanten der Volksverteidigungskräfte HPG am 18. September 2012  will die Diskussion um die Aufhebung der Immunität von Abgeordneten der BDP nicht verstummen. Nun hat der Ministerpräsident Recep Tayyip Erdoğan ein “Machtwort” gesprochen, das wiederum eine Diskussion um sein Demokratieverständnis ausgelöst hat.

Nach einem Bericht in Radikal vom 06.09.2012 sprach Erdoğan im Vorfeld des großen Kongresses seiner Partei am 30. September auf einer Fraktionssitzung. Er warf den Abgeordneten der BDP vor, mit den Terroristen, die das Fest (des Ramadan) in ein Blutbad verwandelt hätten, gemeinsame Sache zu machen. Dieses Blut liege nun auf den Rücken der Abgeordneten, die von den Terroristen gestreichelt wurden. Das Blut des Babys Almira (1 Jahr alt), das bei dem Anschlag in Gaziantep am Feiertag ums Leben kam, sei auf die Rücken der Abgeordneten gespritzt. Recep Tayyip Erdoğan griff vor allem den Vorsitzenden der BDP Selahattin Demirtas an, der davon gesprochen hatte, dass 400 Quadratkilometer von der Terrororganisation kontrolliert werden. Dann sagte er: “Wir haben der Justiz das Notwendige gesagt und die Justiz wird tun, was erforderlich ist. Wir werden im Parlament das tun, was notwendig ist.”

Diese Worte wurden u.a. von Tarhan Erdem in Radikal vom 06.09.2012 als Eingriff in die Gewaltenteilung bewertet. Tarhan Erdem warf Recep Tayyip Erdoğan außerdem vor, den Artikel 83 der Verfassung verletzt zu haben, der vorschreibt, dass auf Fraktionssitzungen die Frage der Immunität weder diskutiert noch entschieden werden kann. Obwohl noch keine Akte vorliege, habe der Ministerpräsident schon die Entscheidung verkündet. Wenn ein Antrag auf Aufhebung der Immunität beim Parlament gestellt wird, tritt ein aus dem Verfassungs- und dem Rechtsausschuss bestehender gemischter Ausschuss zusammen. Fünf durch Losverfahren bestimmte Mitglieder bilden eine vorbereitende Kommission, die Akteneinsicht nimmt und notfalls die Abgeordneten anhört. In einem Monat legt die vorbereitende Kommission dem gemischten Ausschuss einen Bericht vor. Dieser entscheidet entweder auf Vertagung oder auf Aufhebung der Immunität. Die Entscheidung auf Vertagung wird in der Nationalversammlung verlesen und, falls es binnen 10 Tagen keinen Widerspruch gibt, ist der Entscheid verbindlich. Falls auf Aufhebung der Immunität entschieden wurde oder es einen Widerspruch gegen die Vertagung gibt, hat die Nationalversammlung zu entscheiden.

In der letzten Legislaturperiode waren 78 solcher Entscheidungen vor die Nationalversammlung gekommen. Bevor jedoch darüber entschieden wurde, gab es Neuwahlen. Nun liegen dem Vorsitzenden der Nationalversammlung 757 Anträge auf Aufhebung der Immunität vor, es wurde in den Ausschüssen dazu jedoch bisher keine Entscheidung gefällt. Des Weiteren ist die Frage offen, ob sich die Ausschüsse mit den Anträgen der Reihe nach befassen werde oder willkürlich Akten aus den Anträgen Priorität einräumen werde. 

Flüchtlinge ertrinken an türkischer Küste

Berichte von dem Schiffsunglück in der Nähe von Izmir, bei dem am 6. September 2012 um die 60 Flüchtlinge den Tod fanden, erschienen auch in vielen deutschen Medien, wie Der Stern oder auch Focus Online. Selbst Die Tagesschau griff den Vorfall auf. CNN Türk zitierte den stellvertretenden Gouverneur von Izmir, Ardahan Totuk, der die zuerst genannte Zahl von 58 Toten in den Abendstunden auf 61 korrigierte. Der Vorfall habe sich im Kreis Menderes in der Nähe des Ortes Ahmetbeyli zugetragen. 46 Personen hätten das Unglück überlebt. Der Gouverneur sprach von vorwiegend palästinensischen Flüchtlingen, wobei die Mehrzahl der Überlebenden aus dem Irak und Syrien stammten.

In dem Bericht von Bianet vom 06.09.2012 wurde die Sprecherin des Vereins der Solidarität mit Flüchtlingen (Mülteci-Der), Pırıl Erçoban mit den Worten zitiert, dass die Zahl der Flüchtlinge aufgrund des Bürgerkrieges in Syrien zugenommen habe. Nachdem seit 2010 Frontex die Flucht nach Griechenland über den Seeweg im Rahmen des Projekts Poseidon verhindere, seien die meisten Flüchtlinge auf den Landweg über den Fluss Mariza (gr. Evros, lat. Hebrus, tr. Meriç) ausgewichen.  Der Krieg in Syrien habe aber dazu geführt, dass nun wieder der Weg über die Ägäis gesucht werde. Das zeigten die Zahlen von festgenommenen Flüchtlingen (25 Personen aus Syrien im Juli, 12 am 9. August und 18 Personen aus Syrien und dem Irak am 18. August

Weitere Ereignisse

Über die weitere Entwicklung berichtete u.a. Radikal vom 08.09.2012. Demnach sei die Zahl der wegen Menschenhandel aber auch Mord verdächtigten und festgenommenen Personen mittlerweile auf 6 angestiegen. Unterdessen wurden Flüchtlinge, die an anderen Orten über die Ägäis nach Griechenland gelangen wollten, aus Plastikbooten, die den Berichten zufolge, zu kentern drohten, “gerettet”. Die Küstenwache in Marmaris entdeckte ein Boot mit 39 Personen (32 Palästinenser, 4 Iraner und 3 Afghanen, das von dem Ort Bozburun aufgebrochen war, um zur griechischen Insel Symi (tr: Sömbeki) zu gelangen. Im Kreis Didim der Provinz Aydin wurden 28 Flüchtlinge auf einem Boot festgenommen. Im Kreis Ayvacık der Provinz Çanakkale wurden 36 Flüchtlinge auf einem im Wasser treibenden Schlauchboot, das gerade mal 5 m² groß gewesen sein soll, entdeckt. Sie waren auf dem Weg zur griechischen Insel Lesbos (tr: Midilli).

Nach dem tragischen Vorfall in der Nähe des Ortes Ahmetbeyli waren der Kapitän und sein Stellvertreter gleich festgenommen worden. Nun wurden weitere vier Personen festgenommen. Es soll sich bei den 6 Festgenommen um drei türkische, einen syrischen und zwei palästinensische Bürger handeln. Wie verlautete sollen die Flüchtlinge seit einem Monat in Istanbul und Izmir auf ihre Überfahrt gewartet haben. Die Schlepper sollen in Adana, Hatay und Umgebung aktiv gewesen sein. Mit dem Versprechen, die Flüchtlinge nach Großbritannien oder Italien zu bringen, sollen sie pro Person zwischen 5.000 Dollar und 6.000 Euro kassiert haben. Von den umgekommenen Flüchtlingen wurden unterdessen 43 Personen identifiziert. Von ihnen kamen 42 aus Syrien und 1 Person aus dem Irak. 

Hintergrund

Erst am 16. August 2012 hatte Human Rights Watch einen Bericht zu Toden von Flüchtlingen im Mittelmeer unter dem Titel Hidden Emergency heraus gegeben. Darin hieß es u.a. (eigene Übersetzung):

Der UNHCR schätzt, dass allein im Jahre 2011 1.500 Flüchtlingen im Mittelmeer ertrunken sind. Ein Blog im Internet, Fortress Europe, schätzt die Zahl gar auf 2.000. Seit 1998 soll es 13.500 Todesfälle gegeben haben.  In den ersten sechs Monaten des Jahres 2012 seien 170 Flüchtlinge ertrunken… Nach der Aktivierung von Frontex verhandelt das Europäische Parlament und der Europarat über die Einrichtung von EUROSUR, einem System zur Überwachung der nordafrikanischen und der Mittelmeer-Küste, um die Arbeit von Frontex zu erleichtern.

In der Meldung von Pro Asyl heißt es:

Griechenland macht die Schotten dicht, mit Rückendeckung Europas: in den vergangenen Wochen wurden die Sicherheitsmaßnahmen an der Landgrenze zur Türkei massiv verstärkt. So wurden fast 2.000 zusätzliche Polizeibeamte an diese Grenze verlegt, die derzeit mit Unterstützung der europäischen Grenzagentur Frontex das Gebiet überwachen. Die Grenzregion Evros ist inzwischen berüchtigt für willkürliche Inhaftierungen von Flüchtlingen und die unmenschlichen Haftbedingungen in den Haftlagern vor Ort. Mehrere Flüchtlinge ertranken beim Versuch, den Evrosfluss Richtung Griechenland zu durchschwimmen. Mit Rückendeckung der EU soll zwischen Griechenland und der Türkei ein Grenzzaun nach dem Modell desjenigen zwischen Marokko und der spanischen Exklave Melilla errichtet werden.

Unter dem Titel Griechenland ist eine Falle berichtete die Schweizer Wochenzeitung WOZ ausführlich von dem Buch “An Europas Grenze”, das der WOZ-Redakteur Kaspar Surber geschrieben hat. Darin wird von rassistischen Übergriffen gegen Flüchtlinge und den Problemen bei der Anerkennung als Asylbewerber berichtet. Im WOZ Bericht heißt es u.a.:

Griechenland zählt elf Millionen Einwohner. Gemäß dem Ministerium für Bürgerschutz sind seit 2005 rund 750.000 Menschen eingewandert, zuerst über die Ägäis, dann über den Fluss Evros, der Griechenland und die Türkei trennt. Sechzig Prozent aller Migranten erreichen die EU auf diesem Weg. In Griechenland ein Asylgesuch zu stellen, ist äußerst schwierig. Die Anerkennungsquote tendiert zudem gegen null: 2010 wurden 10.300 Asylgesuche entgegengenommen, lediglich sechzig wurden gut geheißen. Wer das Glück hat, ein Asylgesuch stellen zu können, erhält weder eine finanzielle Unterstützung noch eine Unterkunft. Wer keinen Zugang zum Asylsystem findet, dem droht ständig die Inhaftierung und die Ausschaffung. 

Weitere Entführungen durch die PKK

Seit dem Sonderbericht des DTF mit Berichten über Entführungen durch die PKK (Ende August 2012) wurden erneut Meldungen zu Entführungen durch die PKK in der Presse veröffentlicht. So berichtete Radikal vom 08.09.2012 von einem Gefecht in der Nähe des Dorfes Seyitava, ca. 15 Kilometer von Bitlis entfernt, zwischen Dorfschützern und Militanten der HPG. Dabei sei ein Dorfschützer verletzt worden. Vier Dorfschützer seien von den Militanten “mitgenommen” worden.

Der Nachrichtenagentur ANF vom 20.09.2012 zufolge wurden am 8. September 2012 im Gebiet von Scheich Cuma bei Bitlis 3 Dorfschützer von HPG Militanten mitgenommen. Nach Mitteilung der HPG wurden die Dorfschützer Mehmet Kasım Arıç, Naif Kırşen und Zübeyir Melek am 20. September 2012 wieder freigelassen. Zuvor hatten sich Angehörige der Dorfschützer an den IHD in Bitlis gewandt und um Hilfe gebeten.

Nach langem Rätselraten über den Verbleib des AKP Vorsitzenden für die Provinz Hakkari, Abdülmecit Tarhan berichtete die Nachrichtenagentur ANF vom 08.09.2012, dass er von Militanten der HPG verhaftet worden sei. Sie hätten ihn am 2. September 2012 in der Nähe des Dorfes Talê (Oğul) festgenommen. Eine Freilassung wurde nicht in Aussicht gestellt.

Die Nachrichtenagentur ANF meldete am 13.09.2012, dass Militante der HPG einen Steinbruch in Van, Kreis Çaldıran überfielen und den Leiter der Baustelle einer privaten Firma, sowie den Wärter mit sich nahmen. Es wurden keine Namen genannt.

ANF vom 23.09.2012 meldete um 13.45 Uhr, dass Einheiten der YJA-STAR (Frauenverband der HPG, DTF) auf der Strecke von Muş nach Kulp am 22. September 2012 zwei Lehrer festgenommen habe. Am selben Tag meldete ANF um 18.33 Uhr auf dieser Seite, dass die Lehrer in der Nähe des Dorfes Şenyayla freigelassen worden seien. Namen wurden nicht genannt, auch auf anderen Seiten wie Radikal vom 24.09.2012, die von der Freilassung der Lehrer berichteten, wurden keine Namen erwähnt. Eine Nachricht in Radikal vom 26.09.2012 zufolge wurden im Internet Gerüchte verbreitet, dass die zwei bei Muş am 22. September 2012 entführten Lehrer Abdullah Sözer und Sezgin Fırat Okut deshalb freigelassen wurden, weil sie der BDP nahestehen. Radikal sprach mit den Lehrern. Demnach sei Hafize İpek, die als Mitglied der BDP stellvertretende Bürgermeisterin von Diyarbakır ist, nicht (wie behauptet) die Schwester von Sezgin Fırat Okut, sondern von Abdullah Sözer ist. Das habe aber bei der Entführung keine Rolle gespielt. Die Entführer hätten gedroht, dass sie keinen Unterricht in Türkisch geben dürfte. Sie sollten entweder in Kurdisch unterrichten oder kündigen.

ANF vom 27.09.2012 meldete unter Berufung auf die Pressestelle der HPG, dass der ehemalige Vorsitzende der AKP im Kreis Sur (Diyarbakır), Hamit Çelikkanat, der am 22. August 2012 im Kreis Dicle (Diyarbakır) verschleppt worden war, wieder freigelassen wurde. 

Widersprüchliche Zahlen zu Todesopfern

Laut einer Meldung in Radikal vom 10.09.2012 hat der Generalstab verlauten lassen, dass in den letzten 5 Monaten (bis zum 6. September 2012) 330 PKK’ler getötet wurden und 88 Soldaten, darunter 54 Berufssoldaten das Leben verloren. Demgegenüber ließ ein Sprecher des Pressekontaktzentrums (Basın İrtibat Merkezi BİM) der Volksverteidigungskräfte HPG verlauten, dass in den 4 Monaten von Mai bis August 2012 lediglich 101 Guerilla getötet wurden, während 1.035 Soldaten und Polizisten ihr Leben verloren. Das berichtete die Nachrichtenagentur ANF vom 10.09.2012.

Ein weiterer Bericht bei ANF vom 18.09.2012 präsentierte Zahlen der HPG für das vergangene Jahr. Demnach sollen im Zeitraum vom 1. September 2011 bis zum 17. September 2012 bei über 300 Gefechten 1.913 Soldaten und 69 Polizisten getötet worden sein. Die eigenen Verluste wurden mit 290 angegeben. Im letzten Monat (17. August – 17. September 3012) sei es zu 65 Gefechten gekommen. Dabei seien 511 Soldaten und 13 Polizisten ums Leben gekommen, während 37 Militante getötet wurden.

Demgegenüber stehen offizielle Zahlen, die sich auf “gefallene” Soldaten beziehen. Es war die Antwort auf eine Anfrage des CHP Abgeordneten für Aydın, Prof. Dr. Metin Lütfi Baydar, die vom Verteidigungsminister İsmet Yılmaz beantwortet wurde. . Hier wurde für den Zeitraum vom 1. Januar 2011 bis zum 16. Juli 2012 gesagt, dass bei Gefechten 233 Soldaten getötet und 537 verletzt wurden. Durch Minen und Explosiva starben 55 Soldaten und 197 wurden verletzt. In einer Übersicht für den Zeitraum seit 2002 war an Todesopfer von Angehörigen der türkischen Streitkräfte zu sehen:

Jahr    2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 Summe

Getötet          10       31       75       105    111    146    171    80       106    162    127    1.124

Als besonders bedauerlich wurde vermerkt, dass es unter den 10.080 Vorfällen 2.152 Ereignisse gebe, bei denen es sich nicht um Gefechte, sondern Sabotageakte, Entführungen und Angriffe mit Minen und Explosiva gehandelt habe, bei denen in 10 Jahren 268 Soldaten getötet und 1.033 verletzt wurden. 

KDV İnan Süver wieder in Haft

Die Tageszeitung Radikal vom 13.09.2012 meldete, dass der Kriegsdienstverweigerer İnan Süver inhaftiert worden ist. Wie sein Anwalt Davut Erkan mitteilte, wurde bei einer Personenüberprüfung in Istanbul festgestellt, dass gegen ihn eine Freiheitsstrafe von 5 Monaten existiert, die er noch nicht verbüßt hat. Diese Strafe hatte er wegen der Flucht am 21. April 2011 aus der offenen Haftanstalt in Manisa-Saruhanlı erhalten. Süver wurde in der Gefängnis Metris gebracht. Am 15. September 2012 veröffentlichte amnesty international eine Eilaktion, in der die Freilassung von Inan Süver gefordert wird. 

Inhaftierte Menschenrechtler

In einer Pressekonferenz hat der Menschenrechtsverein IHD auf inhaftierte Menschenrechtler aus den eigenen Reihen (zum Teil in leitender Funktion) hingewiesen und deren sofortige Freilassung gefordert. Das berichtete Bianet vom 20.09.2012. Der Vorsitzende des IHD, Öztürk Türkdoğan, machte vor allem auf die seit 2,5 Jahren andauernde Inhaftierung des stellvertretenden Vorsitzenden Muharrem Erbey und die seit 3,5 Jahren andauernde Inhaftierung von Arslan Özdemir, Vorstandsmitglied in der Zweigstelle Diyarbakır, aufmerksam. Daneben sind noch folgende Menschenrechtler in Haft: M. Şerif Süren und Orhan Çiçek, von der Zweigstelle in Aydın, Abdulkadir Çurğatay und Veysi Parıltı, von der Zweigstelle in Mardin, Şaziye Önder, Vertreterin des İHD in Doğubeyazıt, Reşit Teymur, von der Zweigstelle in Siirt, Hikmet Tapancı, von der Zweigstelle in Malatya, Mensur Işık, ehemaliger Vorsitzender der Zweigstelle in Muş, Bekir Gürbüz, ehemaliger Vorsitzender der Zweigstelle in Adıyaman und das IHD Mitglied Osman İşçi, der dem Vorstand des Menschenrechtsnetzwerk Mittelmeer angehört. 

Urteil im Balyoz Verfahren

Am 21. September 2012 verkündete die 10. Kammer für schwere Straftaten in Istanbul sein Urteil in der 108. Sitzung des als “Balyoz” (Vorschlaghammer) bekannten Verfahrens.  Dazu berichtete Radikal vom 21.09.2012: Nach mehr als anderthalb Jahren wurde das Urteil im Balyoz Verfahren mit 365 Angeklagten, 250 von ihnen in U-Haft, verkündet. Der Hauptangeklagte Çetin Doğan und die mit ihm angeklagten Özden Örnek und İbrahim Fırtına wurden nach Artikel 147 des alten Strafgesetzes (TSG) mit der Nummer 765 wegen des Versuches, die Regierung der türkischen Republik mit Gewalt von der Ausübung ihres Amtes abzuhalten, zu erschwerter lebenslanger Haft verurteilt. Da der Versuch unzureichend geblieben war, wurden die Strafen nach Artikel 61/1 des alten TSG auf 20 Jahre Haft reduziert.

Insgesamt 78 Angeklagte, darunter die pensionierten Generäle (Admirale, sofern sie der Marine angehören) Bilgin Balanlı, Abdullah Can Erenoğlu, Gürbüz Kaya, Engin Alan (gleichzeitig Abgeordneter der Nationalistischen Bewegungspartei MHP), Ergin Saygun, Şükrü Sarıışık (er hatte des Posten des Generalsekretärs im Nationalen Sicherheitsrat bekleidet), Nejat Bek, Ahmet Feyyaz Öğütçü, Süha Tanyeri, Kadir Sağdıç, Yurdaer Olcan und der Oberst Cemal Temizöz wurden ebenfalls zu erschwerter lebenslanger Haft verurteilt. Diese Strafen wurden ebenfalls nach Artikel 61/1 des alten TSG im Ermessen des Gerichts auf 18 Jahre Haft reduziert. Nur einem dieser 78 Angeklagten, Bulut Ömer Mirmiroğlu wurde “gute Führung” im Verlauf des Verfahrens attestiert und seine Strafe wurde deshalb nach Artikel 59 des alten TSG auf 15 Jahre Haft reduziert.

Gegen 214 Angeklagte, darunter die pensionierten Majore Ahmet Zeki Üçok, Dursun Çiçek, der pensionierte General Tevfik Özkılıç, der pensionierte Major Mehmet Fikri Karadağ (auch im Hauptverfahren Ergenekon angeklagt) und der pensionierte General Rıfkı Durusoy verhängte das Gericht Haftstrafen von 16 Jahren. Lediglich 22 Angeklagten wurde “gute Führung” bescheinigt, so dass ihre Strafen auf 13 Jahren, 4 Monate Haft reduziert wurden. Der vorsitzende Richter Ömer Diken vertrat die Meinung, dass einer der 214 Angeklagten,Tevfik Özkılıç, freigesprochen werden sollte. Der angeklagte Major Hakan Büyük erhielt eine Strafe von 6 Jahren Haft. Insgesamt 36 Angeklagte wurden freigesprochen. Die Haftbefehle gegen 250 Angeklagte, die sich in U-Haft befinden, wurden aufrecht erhalten. Das Gericht sprach zudem Haftbefehle gegen 6 Angeklagte aus, die sich im Gericht befanden und ordnete die Ergreifung von 69 Angeklagten an.

Mit dem Urteil beschloss das Gericht, die Verfahren gegen Ali Göznek und Ahmet Gökhan Rahtuvan, gegen die eine Anordnung auf Ergreifung existiert, deren Aussagen aber nicht aufgenommen werden konnten, abzutrennen. Das Verfahren gegen den General Levent Ersöz, der sich aufgrund einer lebensbedrohlichen Erkrankung bei der medizinischen Fakultät der Universität Istanbul in Behandlung befindet und nicht vernommen werden konnte, wurde ebenfalls abgetrennt. Das Verfahren gegen Recep Yavuz, dessen Name im Netzwerk der nationalen Gerichtsbarkeit (UYAP) nicht gefunden werden konnte, wurde eingestellt. 

Reaktionen auf das Urteil

Während der Premierminister Recep Tayyip Erdoğan sich eher zurückhaltend verhielt und verlangte, dass erst die Begründung des Urteils abgewartet werden müsse, sagte sein Stellvertreter Bülent Arınç, dass dies ein wichtiges Verfahren für die türkische Demokratie und die Beziehung von Militär und ziviler Herrschaft sei. Man könne sich nicht über eine Verurteilung freuen, aber es sei ein gerichtliches Urteil.  Der Minister für Transport, Seefahrerei und Kommunikation, Binali Yıldırım meinte, dass Politiker sich nicht zu Gerichtsurteilen äußern sollten, drückte jedoch mit den Worten: “Ich hoffe, dass keine undemokratische Initiative in unserem Land Erfolg haben wird.” seine Zustimmung zu dem Gerichtsurteil aus.

Die Stimmen der Opposition waren demgegenüber ziemlich deutlich. Der Vorsitzende der Nationalistischen Bewegungspartei, Devlet Bahçeli kritisierte vor allem, dass der vom Volk als Abgeordneter der MHP für Istanbul in Parlament gewählte General Engin Alan zu 18 Jahren Haft verurteilt wurde und damit der Wille des Volkes missachtet wurde. Nach einer Meldung bei Haber Turk vom 21.09.2012 sagte er außerdem: “Es ist offensichtlich, dass dieses Urteil die Gewissen bluten lässt und Ungerechtigkeit bedeutet… Hier wurden wertvolle Personen bestraft, die den Kampf gegen Terror führten.” Der Vorsitzende der Republikanischen Volkspartei (CHP), Kemal Kılıçdaroğlu, übte ebenfalls scharfe Kritik am Urteil und warf der AKP vor, dass sie den Begriff “Gerechtigkeit” in den Mülleimer geworfen habe. Nach einer Meldung in Gazete Vatan vom 21.09.2012 sagte er ferner, dass seine Partei gegen jede Art von Putsch ist. Wenn es jedoch kein faires Gerichtsverfahren gebe, die Menschen einfach eingesperrt werden und ihnen kein Recht auf Verteidigung gegeben werde, dann könne das nicht akzeptiert werden. “Wir akzeptieren Gerichte mit Sonderbefugnissen nicht”, sagte er.

Unterschiedliche Reaktionen gab es auch auf Seiten der Kolumnisten. Das wird schon an den Kommentaren in der Tageszeitung Radikal vom 21.09.2012 deutlich. Murat Yetkin wählte die Überschrift Tarihi ama ağır ve yaralı karar (Historisches, aber hartes Urteil mit Verletzungen) und führte dann weiter aus: “Die Wunden stammen aus dem Verlauf des Verfahrens: es wurde mit den Beweisen “gespielt”, die Einwände der Anwälte und die von ihnen benannten Zeugen wurden nicht berücksichtigt, sie wurden sogar gehindert, eine Verteidigung vorzubringen.” Oral Çalışlar nannte seine Kolumne Darbecilikle ilk hesaplaşma… (Erste Abrechnung mit Putsch-Mentalität) und brachte damit seine prinzipielle Zustimmung zu einem solchen Verfahren zum Ausdruck. Am Ende seiner Kolumne aber meinte er: “Selbst wenn Verfahreń wie Balyoz eine Gelegenheit bieten, um mit Militarismus abzurechnen, so sind wir doch weit davon entfernt, das Problem gelöst zu haben. In der Türkei wurde immer noch kein System eingerichtet, das denen in demokratischen, normalen Ländern mit ihren Verhältnissen von Militär und Zivilisten ähnelt.” Ezgi Başaran kommt in dem Artikel Balyoz’da yargılama mı yapılmıştı ki? (Gab es zu Balyoz ein Gerichtsverfahren?) zu dem Schluss, dass das Urteil von vorne herein feststand. Es habe keine wirkliche Staatsanwaltschaft und kein wirkliches Gericht gegeben. Çetin Doğan und seine Waffenbrüder hätten sich in Ankara etwas zu leutselig über die aufkommende Gefahr der “Reaktion” (tr: irtica) unterhalten und dafür werde jetzt Rache genommen. Sie habe beständig über die Mängel des Verfahrens berichtet (ungenügende Beweise, Ablehnung von Experten, Nicht-Anhörung von Schlüsselzeugen) und wolle das nicht wiederholen. Hätten mehr “Meinungsmacher” auf die Fehler des Verfahrens hingewiesen, so wären auch die Verfahren zu Oda TV, KCK oder Devrimci Karargah (Revolutionäres Hauptquartier) anders verlaufen.

Chronologie des Verfahrens

Die Chronologie des Verfahrens wurde ebenfalls der Tageszeitung Radikal vom 21.09.2012 entnommen.

20. Januar 2010: Die Staatsanwaltschaft in Istanbul nimmt einen Artikel in der Tageszeitung Taraf zum Anlass, Ermittlungen einzuleiten. Nach den Vernehmungen von etlichen Angeklagten, an erster Stelle der ehemalige Kommandant der 1. Armee, der pensionierte General Çetin Doğan kommen sie nach Einspruch gegen die Haftbefehle zunächst auf freien Fuß.

6. Juli 2010: Eine Anklageschrift gegen 196 Angeklagte wird an die 10. Kammer für schwere Straftaten in Istanbul geschickt. Nach Artikel 147 des alten Strafgesetzes (TSG) mit der Nummer 765 werden wegen des Versuches, die Regierung der türkischen Republik mit Gewalt von der Ausübung ihres Amtes abzuhalten, Strafen zwischen 15 und 20 Jahren Haft gefordert.

19. Juli 2010: Die 10. Kammer für schwere Straftaten in Istanbul nimmt die Anklageschrift an und ordnet gegen 102 Angeklagte die Ergreifung an.

6. August 2010: Die 11. Kammer für schwere Straftaten in Istanbul hebt 101 Anordnungen zur Ergreifung der Verdächtigen auf. Nur gegen den Major Ahmet Şentürk bleibt sie bestehen. Er kommt auf Einspruch aber ebenfalls auf freien Fuß.

16. Dezember 2010: Das Verfahren beginnt auf dem Kampus der Haftanstalt in Silivri.

11. Februar 2011: In der 13. Sitzung werden gegen 164 Angeklagte Haftbefehle (soweit sie anwesend sind) und Anordnungen auf Ergreifung (für nicht anwesende Angeklagte) ausgestellt. Danach kamen 158 Angeklagte in U-Haft. Die Vernehmung von 191 Angeklagten erstreckte sich über 47 Verhandlungstage.

in der Zwischenzeit: am 6. Dezember 2010 wurden in einer militärischen Einheit Gölcük digitale Beweise gefunden, von denen einige sich auf die Ermittlungen zu “Balyoz” beziehen sollen. Am 19. Februar 2011 ging ein Hinweis beim Polizeipräsidium in Istanbul per E-Mail ein, die zur Durchsuchung der Wohnung des Majors Hakan Büyük in Eskişehir führte. Die Ermittlungen führten zu einer Anklageschrift gegen 28 Personen, von denen sich 15 in U-Haft befanden.

28. Juni 2011: Die 10. Kammer für schwere Straftaten in Istanbul nimmt die Anklageschrift an und ordnete die Ergreifung der 8 nicht inhaftierten Angeklagten an.

15. August 2011: Das Balyoz-2 Verfahren beginnt und wird am 3. Oktober 2001 mit dem Hauptverfahren verbunden.

23. Oktober 2011: Die 10. Kammer für schwere Straftaten in Istanbul nimmt eine 3. Anklageschrift “Balyoz” an. In der 264 Seiten umfassenden Schrift werden 143 Personen, 64 von ihnen in U-Haft, beschuldigt, die Regierung stürzen zu wollen.

26. Dezember 2011: Das 3. Balyoz Verfahren beginnt. Nach Verlesung der Anklageschrift wird das Verfahren nach der 3. Sitzung mit dem Hauptverfahren verbunden.

5. Januar 2012: Nachdem auch die Angeklagten des 3. Verfahrens ihre Aussagen machten, werden insgesamt 31 Zeugen gehört, darunter der Kommandant der Gendarmerie, Bekir Kalyoncu, die ehemaligen Vorsitzenden des Generalstabs, Yaşar Büyükanıt und İlker Başbuğ. Weitere Zeugen wie die Generäle Hilmi Özkök und Aytaç Yalman werden nicht gehört.

29. März 2012: Die Staatsanwälte Savaş Kırbaş und Hüseyin Kaplan legen ihr Plädoyer von 920 Seiten vor. Die Verteidigung protestiert gegen die Beendigung der Beweisaufnahme durch Nicht-Teilnahme an den Sitzungen.

19. April 2012: Das Gericht zeigt 108 Anwälte an, weil sie unentschuldigt den Sitzungen fern geblieben sind. Gegen den Vorsitzenden der Anwaltskammer Istanbul, Ümit Kocasakal und 10 Vorstandsmitglieder der Anwaltskammer wird Strafanzeige gestellt, weil sie “durch ihr Verhalten ein faires Gerichtsverfahren beeinflussen wollten”.

16. August 2012: Nachdem die Anwaltskammer Istanbul einige Anwälte als Pflichtverteidiger berufen hatte, erhielten die Angeklagten das letzte Wort. Bis zum 21. September 2012 waren alle Angeklagten, bis auf Ali Göznek und Ahmet Gökhan Rahduvan angehört worden.