„Das weibliche Geschlecht ist sakrosankt, das männliche disponibel.“ / Fortsetzung der Beschneidungsdebatte

NICHT-GLEICHSTELLUNG DER GESCHLECHTER BEI ATAVISTISCHEN BLUTSBRÄUCHEN

Geht der Streit weiter?  / Gerhard Hafner

25.7.2013 –  Ein Jahr nach der großen Debatte um ein Beschneidungsurteil herrscht noch immer Verwirrung. Auch Männer fordern die juristische Anerkennung einer körperlichen Versehrung.

Stellen wir uns folgendes Gesetz vor: Wer die äußeren Genitalien einer männlichen Person verstümmelt, wird mit Freiheitsentzug nicht unter einem Jahr bestraft. Gleichgültig, ob es sich um einen Jungen oder um einen erwachsenen Mann handelt, egal ob unter Narkose und wie viel am Penis geschnitten wurde, egal ob der Beschnittene einwilligt oder nicht, der Täter oder die Täterin muss für bis zu 15 Jahre hinter Gitter. Denn: Jegliche Verstümmelung von Genitalien verstößt gegen die guten Sitten.

War dies das Ergebnis der hitzigen Beschneidungsdebatte, die vor einem Jahr aus Anlass eines Gerichtsurteils begann und Deutschland in zwei Lager, in Beschneidungsgegner und Beschneidungsanhänger, teilte? Natürlich nicht. Ende Juni dieses Jahres fügte der Bundestag – von der Öffentlichkeit weitgehend unbemerkt – im Strafgesetzbuch den Paragrafen 226a ein. Dort heißt es: „Wer die äußeren Genitalien einer weiblichen Person verstümmelt, wird mit Freiheitsstrafe nicht unter einem Jahr bestraft.“ Bis zu 15 Jahren. Der strafrechtliche Schutz wird damit auf nur ein Geschlecht beschränkt. Das allein ist natürlich schon ein Gewinn, denn bisher wurde die Verstümmelung weiblicher Genitalien lediglich als schwere Körperverletzung mit einer Haft von maximal zehn Jahren geahndet. Durch das neue Gesetz avancierte diese Tat zum eigenen Straftatbestand.

Bis vor zwei Jahrzehnten wurde gleichermaßen für Frauen wie für Männer der Begriff „Beschneidung“ benutzt, dann aber bei Frauen durch „Genitalverstümmelung“ ersetzt, um die qualvollen Praktiken nicht zu verharmlosen. Bei den allerschwersten Formen werden die Klitoris und die Schamlippen abgeschnitten. Meist handelt es sich also um sehr viel gravierendere Eingriffe als die Entfernung der Vorhaut bei Männern.

Pendant zur Vorhaut

Während nun die Folgen für die Gesundheit und die Sexualität bei schweren Formen der weiblichen Genitalverstümmelung nicht infrage stehen, sind die weniger einschneidenden Fälle in ihrer Wirkung durchaus mit der männlichen Beschneidung vergleichbar. Darauf hat der Strafrechtler Reinhard Merkel bereits letztes Jahr beim Hearing des Ethikrats hingewiesen. Die Krux dieser Gleichstellung: Da die Klitorisvorhaut das Pendant der Vorhaut des Mannes ist, müsste konsequenterweise die Beschneidung der männlichen Vorhaut ebenfalls, wie die Weltgesundheitsorganisation dies für die Entfernung der Klitorisvorhaut bei Frauen tut, als ein klarer Fall von Genitalverstümmelung gelten. Es bleibt nach jetziger Gesetzeslage jedoch beim Terminus Beschneidung, der gärtnerische Veredelungen assoziiert, als ob aus wildem Gehölz durch einen fachgerechten Schnitt ein früchtetragender Baum entstehe.

Gegen diese rechtliche und ethische Ungleichbehandlung von Frauen und Männern polemisiert jetzt der Strafrechtler Tonio Walter in der Zeit. Er sieht darin eine Doppelmoral, die nur Frauen schütze, Männer jedoch dazu nötige, den physischen und psychischen Einschnitt hinzunehmen. „Das weibliche Geschlecht ist sakrosankt, das männliche disponibel.“

Das ist die Frage. Für die Ächtung der blutigen Bräuche setzen sich schon seit Jahrzehnten erfolgreich Menschenrechtsorganisationen ein – vielleicht steht also auch der im letzten Dezember verabschiedete Paragraf 1631d des Bürgerlichen Gesetzbuchs zur Regelung der „Beschneidung des männlichen Kindes“ bald auf dem Prüfstand. Die Eltern erhielten darin das Recht, in eine „medizinisch nicht erforderliche Beschneidung des nicht einsichts- und urteilsfähigen männlichen Kindes einzuwilligen“, sofern diese nach den Regeln der ärztlichen Kunst durchgeführt wird. Womöglich muss dieser Paragraf bald kassiert werden, weil er mit der Strafrechtsänderung kollidiert, die solche Eingriffe an weiblichen Genitalien grundsätzlich als sittenwidrig sanktioniert. Womöglich muss das Bundesverfassungsgericht dann klären, ob man gleichartige Eingriffe bei weiblichen und männlichen Personen strafrechtlich gleich behandeln muss.

Interessant an dieser Debatte ist vor allem eines: Das Thema Beschneidung erhält darin eine andere Perspektive. Nicht mehr das Thema der Ausgrenzung der „Anderen“ – der Juden und der Muslime – steht im Fokus, sondern die Gleichberechtigung der Geschlechter. Durch die Verabschiedung des Beschneidungsgesetzes vor einem Jahr hat sich der Streit zwischen den Religionsgemeinschaften und den Kinderschützern beruhigt. Die Luft ist raus aus dem ethnisch-religiösen Konflikt. Die Heftigkeit der letztjährigen Debatte bezog sich aus den blutrünstigen Bildern vom kleinen Jungen, der unschuldig der Übermacht ausgeliefert ist. Die Botschaft: Nicht nur Mädchen und Frauen sind Opfer von Beschneidungspraktiken, auch Jungen und Männer reklamieren Schutz.

Verbot für beide

Genitalverstümmelungen von Frauen gibt es nur in solchen Regionen, wo auch die sogenannten Beschneidungen von Jungen kulturell akzeptiert sind. Deshalb ist ihre Bekämpfung bei beiden Geschlechtern konsequent. Terre des Femmes warnt schon lange davor, dass die Legalisierung der männlichen Beschneidung auch Auswirkungen auf die Strafbarkeit bei bestimmten Formen der weiblichen Genitalverstümmelung haben könnte. Mit dem Argument, ein Verbot verstoße gegen den Gleichheitsgrundsatz, hatte im letzten Jahr ein ägyptischer Arzt die weltweite Legalisierung solcher Formen weiblicher Genitalverstümmelung gefordert, die der männlichen Beschneidung ähnelt.

In der gleichen Logik, aber mit umgekehrtem Argument, kritisierte die Terre-des-Femmes-Vorsitzende Irmingard Schewe-Gerigk im letzten Jahr die Legalisierung der Beschneidung bei Jungen: „Wie kann die Bundesjustizministerin den gleichen Eingriff bei Jungen erhalten, der bei Mädchen verboten ist?“ Diese Frage wird auch die deutschen Gerichte früher oder später noch beschäftigen. Wahrscheinlich geht der Streit weiter.

http://www.freitag.de/autoren/der-freitag/geht-der-streit-weiter