BRD MINISTER DIRK NIEBEL BESUCHT FLÜCHTLINGSLAGER DOMIZ

Erbil – 13.8.2013 –  Das Lager ist trostlos – aber für viele die letzte Hoffnung: In Domiz im Norden Iraks finden Bürgerkriegsflüchtlinge aus Syrien ein karges Refugium. Entwicklungsminister Dirk Niebel will, dass sich Deutschland mehr engagiert. Auch, weil man in der Region Verbündete braucht.

Dirk Niebel steht in der halb zerstörten Zitadelle von Erbil im Nordirak und lacht. Es ist heiß, knapp 40 Grad, der Entwicklungsminister schwitzt. Vor ein paar Jahren war er schon mal hier. Damals, nach dem Krieg, haben sie angefangen, die 8000 Jahre alte Burg wieder aufzubauen. Stein für Stein. Gerade hat der Fremdenführer zu Niebel gesagt: „Nächstes Jahr müssen Sie wieder kommen, dann ist das große Eingangstor fertig.“ Der Entwicklungsminister dreht sich zu seinem Pressesprecher und lacht: „Ich muss nächstes Jahr wiederkommen, haste gehört?“

Ob der FDP-Mann nach der Bundestagswahl im September Minister bleibt, weiß niemand. Sicher ist: Deutschland wird sich auch nach der Wahl hier im Nordirak engagieren, im autonomen Gebiet der Kurden, 4000 Kilometer von Berlin entfernt. Gegen die Misere. Und weil man in dieser Region Freunde braucht.

Niebel und ein Tross von Ministeriumsleuten, Diplomaten und Journalisten ist nach Kurdistan gereist, das Programm ist dicht gestaffelt. Politische Gespräche, Zitadelle, Flüchtlingslager. 24 Stunden, ein Dutzend schwarze Geländewagen, acht Personenschützer vom Bundeskrimininalamt, eine halbe Legion kurdischer Bodyguards. Es ist ein Tour de Force in eine Gegend, die nicht einmal von der Bundeswehr angeflogen wird. Zu gefährlich. Auch wenn die autonome Region der Kurden im Vergleich zum restlichen Irak als relativ sicher gilt. Ein paar Kilometer weiter wird an diesem Tag jedenfalls auf zwei Polizisten geschossen.

Der Minister will die Aufmerksamkeit auf die syrischen Flüchtlinge lenken. Ein wichtiges Anliegen. „Irak liegt im toten Winkel der internationalen Hilfe“, sagt Niebel. Das Land hat 160 000 Menschen aufgenommen, vor allem Kurden. 90 Prozent der Flüchtlinge wurden im Nordirak untergebracht. Die Hilfsorganisationen wissen noch nicht, wie sie ihre Hilfe in den kommenden Monaten finanzieren sollen. Niebel verspricht auf seiner Reise 20 Millionen Euro. Geld, das Menschenleben rettet. Und zugleich die guten Beziehungen zum Nordirak stärkt. Während Bagdad die Amerikaner als Verbündete hat, sind für Deutschland die Kurden der einzig richtige Partner im Mittleren Osten. Eine strategische Freundschaft, die gepflegt werden will.

Für Niebel ist es der letzte Besuch in einer langen Reihe. Seit dem Ausbruch des Bürgerkriegs in Syrien 2011 hat er die Flüchtlingslager in allen angrenzenden Staaten besucht. Im Libanon, in der Türkei, Jordanien, jetzt Irak. Momentan sind 1,9 Millionen Syrer auf der Flucht. Deutlich mehr Menschen, als in München leben.

Niebel, schwarzes Sakko, weißes Hemd, ist vor zwei Stunden in Erbil gelandet. Linienflug. Lufthansa. Die Krawatte hat er abgelegt. Er geht an einem Souvenirshop in der Zitadelle vorbei. Der Laden ist geschlossen. Ramadan. Die deutsche Botschafterin im Irak steht neben ihm.

Es gibt Minister, die vor allem auffallen, wenn sie einen Bock geschossen haben. Dirk Niebel ist so einer. Unabhängig davon, dass sein Einsatz für die syrischen Flüchtlinge in den Lagern selbst und von den Regierung im Nahen und Mittleren Osten hoch geschätzt wird. Neben der Teppich-Affäre war da die Sache mit dem Entwicklungsministerium, das er eigentlich auflösen wollte. Kurz darauf wurde er dessen Chef. Und installierte dort anschließend eine ganze Batterie von FDP-Leuten.

Schnee von gestern. Jetzt steht er im Flüchtlingslager Domiz, es liegt drei Stunden vom noblen Hotel der Delegation in Erbil entfernt, in einer anderen Welt. Eine provisorische Stadt aus braunen Zelten und schiefen Verschlägen, mitten in der Wüste. Schon am Morgen ist es heiß, jeder Schritt wirbelt Staub auf. Es gibt keine Straßen, keine Kanalisation. Alle fürchten, dass die Cholera ausbricht. Der süßliche Gestank von Müll und Abwasser liegt über dem Lager. Die Müllabfuhr fährt manchmal, und manchmal nicht. Für den Minister fährt sie. Gebaut wurde Domiz 2012 – für 20 000 Menschen. Nun leben dort etwa 50 000 Frauen, Männer und Kinder. Jeden Tag kommen hunderte weitere Flüchtlinge dazu. Ein weiteres Lager muss her.

Der Minister wird in einer Traube von Menschen an den Zelten vorbeigeschoben. Er trägt einen Hut, der ein wenig an den von Crocodile Dundee erinnert. Seine alte Bundeswehrkappe hat er einem Museum vermacht. In deutschen Medien wurde Niebel für die speckige Mütze immer gehänselt. Dafür tragen Teile seiner Delegation nun diese Bundeswehr-Kappen. Ein Zeichen der Loyalität, über das aber niemand sprechen will. Und das im Flüchtlingslager an Bedeutung verliert.

Das Protokoll lässt Niebel wenig Zeit. Selbst das Gehen durch das Lager wird für Gespräche genutzt. Links und rechts der Schotterwege sitzen Mütter mit ihren Kindern vor Zelten, an manchen hängt eine Klimaanlage. Im Lager ist das ein Zeichen des Wohlstands. Viele Syrer, die hier auf dem Boden schlafen und um Essensgutscheine anstehen, arbeiteten vor Kurzem noch als Architekten, Ärzte oder Ingenieure. Hatten Häuser, Autos und Hobbys. Mehr Flüchtlinge als in anderen Lagern stammen hier aus der syrischen Mittelschicht. Die Klassenunterschiede im Lager sind groß, sagt eine UNO-Mitarbeiterin.

Vor einem kleinen Zelt sitzt Nuri Baban und flickt Schuhe, die nicht so aussehen, als könnte man sie reparieren. Der Syrer ist 35, seine dunkle Haut wirkt ledrig. Vor sechs Monaten ist er mit seiner Frau und den acht Kindern in den Irak geflohen. Vor den Kämpfen, vor der Perspektivlosigkeit. Erst mit einem Bus, dann 15 Kilometer zu Fuß durch karges Land. Jetzt lebt Baban zusammen mit seiner Familie in einem Zelt. Zu zehnt essen und schlafen sie darin, streiten und lachen. Auch in Syrien flickte Baban schon Schuhe. Und putzte sie. An seinem Zelt hängt keine Klimaanlage.

Das Besondere am Lager in Domiz ist, dass die regionale Regierung den Flüchtlingen erlaubt, auch außerhalb des Camps zu leben und zu arbeiten. Nur Baban und seiner Familie bringt das nichts. Er fragt: „Wie soll ich mir in der Stadt die Miete leisten?“ Auch wenn der Krieg alle, Architekten und Schuhputzer, zu Flüchtlingen macht: Reich wird weniger reich, aber arm bleibt arm. Bitterste Ironie.

Trotz aller Sorgen: Die Hilfsorganisationen sind stolz auf dieses Lager. Auch wenn sich Frauen prostituieren, es Probleme mit Drogen und Alkohol gibt. Aber sie haben hier auch Schulen, es gibt Spielplätze, auf denen die Kinder Tod und Zerstörung eine Zeit lang vergessen können. Das Wasser ist sauber, das World Food Programm hat eine Gutschein-System für Lebensmittel eingeführt. Damit können die Syrer im Supermarkt im nächsten Dorf einkaufen. So können die Flüchtlinge selbst bestimmen, was sie essen. Das stärkt nebenbei die lokale Wirtschaft. Niebel sagt: „Die Menschen hier sind keine Taschengeldempfänger, sondern Menschen mit Würde.“ Es ist ein Satz, den sie hier im stolzen Kurdistan gerne hören.

Auf dem Weg zurück zum Flughafen wird deutlich, dass die Flüchtlinge nicht nur ein Problem sind, sondern auch eine Chance. Um das Land aufzubauen, braucht es Architekten, Ingenieure und Arbeiter. Links und rechts der Straßen in Erbil schießen riesige Neubauten aus dem Boden, Hochhäuser gehören genauso zur Skyline wie Kräne. Die Stadt boomt. Kempinski-Hotel, Porsche-Niederlassung, Brioni-Boutique. In Erbil lassen sich Geschäfte machen. Einer aus der Delegation sagt, Erbil sei das bessere Bagdad. Nach Jahren der Knechtschaft unter Saddam ist die Region auf dem Sprung nach vorn. Am Rande des Besuchs erzählt Niebel, dass Kanzlerin Merkel unlängst beim G-8-Gipfel 200 Millionen Euro Flüchtlingshilfe zugesagt hat. Niebel will sich dafür einsetzen, dass ein guter Teil an die Kurden geht.

Zurück am Flughafen setzt sich Niebel in einen der vergoldeten Sessel im VIP-Terminal. Seinen Metall-Koffer hat er schon aufgegeben. Er ist vollgeklebt mit Stickern aus Ländern, die der Minister bereist hat. Einer zeigt die Köpfe von Karl Marx, Lenin und Stalin. Sie sind durchgestrichen.

Niebel sagt, Deutschland werde 5000 syrische Flüchtlinge aufnehmen. Eine Journalistin fragt, ob 5000 Syrer nicht zu wenig seien? Niebel weicht aus. „Die Dankbarkeit der internationalen Staatengemeinschaft gegenüber der Aufnahmebereitschaft hier in Kurdistan kann gar nicht groß genug sein.“ Niebel sagt, er wäre dennoch froh, wenn syrische Familien in Deutschland leichter zusammengeführt werden könnten.