BILANZ : 10 JAHRE AKP REGIERUNG IN DER TÜRKEI

In einer Serie hat die Tageszeitung Radikal Anfang November 2012 versucht, eine Bilanz der ersten 10 Jahre unter der Regierung der Gerechtigkeits – und Fortschrittspartei (AKP) zu ziehen.

Den Anfang machte ein Artikel von Hakan Altınay am 3. November 2011 unter dem Titel Demokrasimizin 10 yıllık bilançosu (10 Jahres Bilanz unserer Demokratie). Er schrieb darin u.a.:

In den 10 Jahren, die die AKP an der Regierung ist, gab es markante Entwicklungen. Die Wirtschaft wuchs rasch, die Banken sind stabil. Im Bereich Vorschule änderte sich viel, bei den Schulbüchern bewegte sich wenig.

In den 10 Jahren wurde der außergewöhnliche Status, den die Streitkräfte einnehmen im Gesetz und Realität fast zur Normalität gebracht. In Südost-Anatolien wurde der Ausnahmezustand aufgehoben. Die Todesstrafe wurde abgeschafft. Die Dauer der Polizeihaft wurde verkürzt, anwaltlicher Beistand wurde gestärkt und systematische Folter, für die wir uns jahrelang schämen mussten, endete. Die Behinderung der kurdischen Sprache wurde weitgehend eingeschränkt. Nicht-moslemische Stiftungen können Grundbesitz erwerben. Internationale Kontakte von Organisationen der zivilen Gesellschaft wurden ermöglicht. Allen Problemen zum Trotz wurde das Recht auf Information eingeräumt und das Recht auf Wiederaufnahme von Verfahren nach einer Entscheidung des EGMR wurde im Prinzip anerkannt.

Reicht das aus?

Leider kann sich niemand in einem Land, wo Hanefi Avcı als Mitglied von Devrimci Karargâh, der Verein ÇYDD als Unterstützer der PKK, Büşra Ersanlı als Führerin einer bewaffneten Organisation und Nedim Şener als Unterstützer von Ergenekon angeklagt sind, sicher fühlen. Demokratie verwirklicht sich nicht nur in Gesetzen, sie muss auch gelebt werden. Und gerade der Premierminister, der den größten Anteil an den oben aufgeführten Errungenschaften hat, macht uns mit seinem autoritären Gebaren, seinen abkanzelnden Reden Angst.

Die Kurdenfrage

Ebenfalls am 3. November 2012 wurde in Radikal ein Artikel von Muhammed Akar unter der Überschrift Kürt meselesi: Sınav devam ediyor (Das Kurdenproblem: die Prüfung geht weiter) veröffentlicht. Er trifft darin u.a. folgende Feststellungen:

Einer der wichtigsten Punkte für die 10-jährige Regierungszeit der AKP ist die Kurdenfrage. Sie dauert an, obwohl der Premierminister meint, dass sie zu Ende ist und nur noch ein Terror-Problem existiert. Was hat sich getan? Der Ausnahmezustand (OHAL) wurde abgeschafft, es gibt im Staatsfernsehen einen Kanal, der 24 Stunden in der kurdischen Sprache sendet. Das Gesetz erlaubt, dass bei Besuchen in den Gefängnissen Kurdisch gesprochen werden kann. Bei Wahlen darf auch in Kurdisch Propaganda gemacht werden. Mit dem Gesetz 5233 wurden die Schäden von einigen, deren Häuser nieder gebrannt wurde, wieder gut gemacht. Viele Dinge wurde aber nicht gemacht. Dazu gehört, dass auch in der Verfassung das Türkentum nicht mehr betont wird. Im Wahlgesetz gibt es immer noch die 10% Hürde. Schulbildung in der Muttersprache wurde nicht verwirklicht. Als eines der wesentlichen Hindernisse steht bei all diesen Dingen, die Bedingung, dass die PKK erst die Waffen niederlegen muss, bevor weitere Schritte unternommen werden.

Leider beschränkt sich die Kurdenfrage oft auf militärische Operationen und die Zahl der getöteten Menschen. Weder der Mord an Ceylan Önkol noch das Roboski Massaker wurden aufgeklärt. Ein Dialog mit der PKK wurde abgebrochen. Die ungesetzlichen Maßnahmen gegen Abdullah Öcalan müssen ein Ende haben. Noch erhält die AKP viele Stimmen von den Stimmen. Das gibt ihr aber auch eine große Verantwortung in der Sache Fortschritte zu erzielen.

 

10 Jahre Medien

Ayşenur Aslan nannte ihren Beitrag in Radikal vom 3. November 2012 10 yılın medyası: Bu hepimizin öyküsü mü? (Medien der 10 Jahre: ist dies die Geschichte von uns allen?). Darin bemerkte sie u.a.:

Ist es besser, anhand von Zahlen die Situation der Medien in einem Land darzustellen, oder anhand des Schicksals von Einzelnen, von denen wir nicht wissen, ob sie die Allgemeinheit repräsentieren. Viele Kolumnisten mussten in dieser Zeit ihren Hut nehmen. Bekir Coşkun wurde bei Hürriyet entlassen und auch Cüneyt Ülsever musste sich trennen. Sicher schrieben viele der Geschassten nicht gerade mit zarter Feder. Aber warum wurde Nuray Mert “in die Wüste geschickt”? Wenn in Yeni Şafak der Kolumnist Ali Akel sich nicht erdreistet hätte zu verlangen, dass für Uludere eine Entschuldigung fällig ist, dann wäre er vielleicht nicht entlassen worden.

Und dann sind da noch die Journalisten, die wegen Terror-Dingsbums in Haft sind… Ich versuche, eine ernsthafte Inventur zu machen, zur Prüfung der Medien mit der AKP Regierung. Das ist aber nicht leicht. Es gibt so viele Reporter, Kolumnisten und sogar Publikationsleiter. Auf der einen Seite heißt, dass die Leute aus den Bergen kommen und Politik machen sollen, während diejenigen, die in der Ebene Politik machen, zu 20-30 Jahren Haft verurteilt werden. Auf der einen Seite heißt es, dass die Inhaftierten keine Journalisten seien, aber in den Verhandlungen werden sie gefragt, warum sie dieses so und anderes so geschrieben haben.

Das Bildungswesen

Den Beitrag zum Bildungswesen 10 yılın eğitim karnesi schrieb Batuhan Aydagül. In dem Artikel wurde u.a. auf Folgendes aufmerksam gemacht:

Das Ministerium für nationale Erziehung (Milli Eğitim Bakanlığı MEB) hat zwischen 2002 und 2012 die Vorschulerziehung in den Vordergrund gerückt. Die Reform begann 1997 mit der Verlängerung der Schulpflicht auf acht Jahre. Einigen Erfolg gab es bei der Schulausbildung von benachteiligten Kindern, in erster Linie Mädchen. Der gleiche Erfolg wurde aber bei der Weiterbildung von Schülern auf der Grund- oder Realschule nicht erzielt. Es gibt sehr viele Schulabgänger ohne Abschluss, aber Zahlen liegen nicht vor. Es wurde viel für neue Lernmaterialien getan, aber wenig für die Ausbildung der Lehrer. Bei den PISA Studien wurden zwischen 2003 und 2009 Fortschritte verzeichnet, aber im Jahre 2009 lagen von den 15-jährigen Schülern 42% bei Mathematik, 30% bei den naturwissenschaftlichen Fächern und 25% bei den Lesefertigkeiten unter einem ausreichenden Level. Unter den OECD Ländern teilt die Türkei sich mit Mexiko und Chile den letzten Platz.

Die AKP hat mit der technischen Unterstützung von internationalen Einrichtungen die Möglichkeit, eine wirksame Politik für die Erziehung zu entwickeln. Jedoch fehlt es am politischen Willen, um einen gleichberechtigten Zugang zu den Bildungsmöglichkeiten zu schaffen. Lücken sind bei der Sprache der Schulbildung und zum Thema Religionsunterricht festzustellen. Eine Ausbildung, die kritisches Denken in den Mittelpunkt setzt, wurde nicht verwirklicht.

Außenpolitik

Den Artikel Başarı, hayal kırıklığı, sorularla geçen 10 yıl (Erfolg, Enttäuschung, 10 Jahre voller Fragen) schrieb Mete Çubukçu. Er wurde ebenfalls am 3. November 2012 veröffentlicht. Er findet, dass verschiedene Phasen unterschieden werden sollten.

Die zentrale Figur ist dabei der Außenminister Ahmet Davutoğlu. In seiner Person wird deutlich, dass die Außenpolitik der Türkei nicht eindeutig festzulegen ist. Geht es um eine auf Gewissen und Ethik fußende Politik oder Realpolitik oder aber bemüht sich die Türkei eine untergeordnete imperiale Macht zu werden?

Die zu Anfang mit Begeisterung geführten Gespräche für einen Beitritt zur Europäischen Union (EU) wurden zu Jahren, in denen die Fortschrittsberichte in den Papierkorb geworfen werden. Ist der Grund dafür, dass EU Position gegen die Türkei bezogen hat, oder braucht die Türkei, die zum Stern im Nahen Osten geworden ist, die EU nicht mehr. Ich denke, dass beides richtig ist. Im Nahen Osten verläuft die Politik nicht in eine Richtung und basiert auch nicht auf guten Absichten. Die Türkei hatte Recht, sich auf die Seite der Aufständischen in Ägypten und Tunesien zu stellen. Für Syrien wurde die gleiche Strategie mit taktischen Fehlern verfolgt.

Ein wichtiger Punkt für die Außenpolitik der letzten 10 Jahre sind die Beziehungen mit irakisch Kurdistan. Auch zu den Kurden in Syrien müssen solche Beziehungen aufgebaut werden. Auch zu Armenien gab es “Öffnungen” und es wurden Protokolle unterzeichnet, aber später wurde vergessen, was man eigentlich erreichen wollte. Es wird sich in den kommenden 10 Jahren herausstellen, wohin die Türkei blicken und wohin sie gehen will. Denn die Region formiert sich neu.