Babylonisches Kurdenwirrwarr & OSMAN BAYDEMIRS KINDER

Kurdische Nationalisten träumen von “Großkurdistan” – sprachlich wäre das nicht homogen / Von Michael Martens

ISTANBUL, im Dezember, 31.12.2012 – FAZ – Niemand weiß, was im Nahen Osten aus einem Zerfall Syriens entstünde, aber viele Kurden sehen sich bereits als sichere Gewinner der Zeitläufte. Zum Verdruss der türkischen Regierung sind im Norden Syriens Regionen entstanden, die von Kurden (und Sympathisanten der kurdischen Terrororganisation PKK) kontrolliert werden.

Hier hat man in den Rathäusern die Porträts Assads abgehängt und sie durch Bilder des in der Türkei lebenslang inhaftierten PKK-Führers Öcalan ersetzt. Wird es also in Syrien eines Tages eine nach irakischem Vorbild gestaltete kurdische autonome Region geben, dann allerdings unter Einfluss der PKK? Oder werden sich, sollte der syrische Staat von der Landkarte verschwinden, die Kurden Syriens mit der kurdischen Autonomie im Irak vereinigen? Und wie würden die Kurden der Türkei und Irans darauf reagieren?

Manche kurdische Nationalisten träumen bereits von einem unabhängigen Staat “Großkurdistan”. Davor müssten sie sich allerdings erst einmal einigen, wie sie sich darin verständigen wollen. Die Kurden sprechen nämlich nicht nur politisch nicht dieselbe Sprache. Sprachlich herrscht ein babylonisches Kurdenwirrwarr in der Region. Im Nordirak sowie in Westiran wird mehrheitlich Sorani gesprochen. Es gibt aber auch zahlreiche kleinere Sprachen oder Dialekte des Kurdischen, von denen in der Türkei vor allem Zazaki verbreitet ist. Die am weitesten verbreitete Sprache der Kurden ist indes Kurmanci, das sich auch als “Nordkurdisch” bezeichnen ließe. Es wird in der Türkei, in Syrien und in Teilen Nordiraks gesprochen. Allerdings unterscheiden sich die Dialekte des Kurmanci vor allem in der Türkei stark voneinander, da der standardisierende Einfluss des Schulwesens oder der Medien bis vor kurzem fehlte. Die einzige kurdische Tageszeitung in der Türkei, die in Diyarbakir herausgegebene, stramm auf PKK-Linie liegende “Azadiya Welat” (“Die Freiheit des Vaterlandes”), wird in Kurmanci veröffentlicht, ist aber in vielen Kurdengebieten nicht erhältlich. Die “Stimme Amerikas”, die ein kurdisches Programm im Angebot hat, gestaltet dies sowohl in Kurmani als auch in Sorani.

Obwohl Kurmanci die Sprache mit den meisten Sprechern ist, gilt Sorani als die literarische Hochsprache der Kurden. Es ist die Sprache, die bei offiziellen Anlässen in der kurdischen autonomen Region Nordirak gesprochen wird, zum Beispiel im Parlament. An den Universitäten im Nordirak wird ebenfalls Sorani gelehrt, obwohl in einigen nordirakischen Universitätsstädten, so in Dohuk, die Verkehrssprache Kurmanci ist. In der Türkei hingegen wird Sorani gar nicht gesprochen. Noch größer sind die Unterschiede in der geschriebenen Sprache. In der Türkei werden sowohl Kurmanci als auch Zazaki in lateinischer Schrift, im Nordirak wird hingegen Sorani ausschließlich und Kurmanci meistens im arabischen Alphabet geschrieben. Zazaki ist als Schriftsprache kaum entwickelt, was auch historische Gründe hat. Zazaki wird nämlich vor allem von alevitischen Kurden gesprochen. Als “doppelte Minderheit”, ethnisch und konfessionell, waren die Träger dieser Sprache über Jahrhunderte Verfolgungen ausgesetzt, in der modernen Türkei ebenso wie zuvor im Osmanischen Reich. Außerdem besitzen die Aleviten keine religiösen Schulen, in denen eine Schriftsprache hätte kultiviert werden können.

Aber auch innerhalb der Staaten, in denen kurdische Minderheiten leben, sind die Unterschiede groß. In der Türkei gilt als der Standarddialekt des Kurmanci das sogenannte Botani-Kurdisch, das in der südostanatolischen Provinz Sirnak gesprochen wird. In abgelegenen Provinzen wie Sirnak und Hakkari an den Grenzen zum Irak und zu Iran hat sich das Kurdische (als Kurmanci) in relativ reiner Form erhalten, vor allem bei Frauen, die wenig Kontakt zur Außenwelt haben. Das in den großen Städten gesprochene Kurdisch ist dagegen stark von der Aufnahme türkischer Worte geprägt. Viele Kurden, nicht nur jene von Istanbul, Ankara oder Izmir, verstehen überhaupt kein Kurdisch mehr. Deshalb sendet der von der PKK finanzierte, in Dänemark beheimatete Kurdensender “Nuce TV” (früher “Roj TV”) seine Programme nicht nur auf Kurdisch, sondern auch auf Türkisch. Auch viele Politiker der von Kurden in der Türkei gewählten “Partei für Frieden und Demokratie” (BDP) sprechen kaum Kurdisch. Sogar der BDP-Vorsitzende Selahattin Demirtas beherrscht die Sprache nur mangelhaft. Andererseits gibt es Kurdischsprecher, die nicht selbst Kurden sind. Dies gilt vor allem für christliche Armenier oder Assyrer, die als Minderheiten in von Kurden dominierten Gebieten lebten. Die Witwe des ermordeten türkisch-armenischen Journalisten Hrant Dink zum Beispiel ist Angehörige eines kurdischsprachigen armenischen Stamms – weshalb sie, die Armenierin, Türkisch mit kurdischem Akzent spricht.

Insgesamt ist der Gebrauch des Kurdischen in der Türkei auf dem Vormarsch, zumal inzwischen Kurdischunterricht an Schulen unter Bedingungen zugelassen ist. Obwohl es offiziell weiterhin verboten bleibt, bieten immer mehr Gemeinden in von Kurden dominierten Gebieten ihre Dienstleistungen auf Kurdisch an. Von Jahr zu Jahr gibt es mehr Verlage, die Sachbücher und Belletristik auf Kurdisch veröffentlichen. Das zeigt sich nirgends deutlicher als auf der Buchmesse in Diyarbakir, der inoffiziellen Hauptstadt der Kurden der Türkei. Dennoch bleibt die Zahl der Nutzer dieses Angebots begrenzt. Selbst wenn es tatsächlich 15 Millionen Kurden in der Türkei geben sollte (in anderen Quellen ist von “nur” zwölf Millionen Kurden die Rede, allgemein anerkannte Zahlen gibt es nicht), spricht wohl kaum die Hälfte von ihnen noch gut Kurdisch. Demnach gäbe es nur um sieben Millionen kurdisch sprechende Bürger der Türkei, von denen mindestens eine Million nicht Kurmanci, sondern Zazaki spricht.

Ein Hindernis für die weitere Verbreitung des Kurdischen ist, dass die Sprache vor allem von vielen jungen Kurden nicht als “cool” angesehen wird. Zwar gilt es für kurdische Politiker in der Türkei mittlerweile als Pluspunkt, gut Kurdisch zu sprechen. Türkisch aber ist die Sprache der bunten Fernsehserien, westlichen Filme, Cartoons, Videoclips im Fernsehen und genießt deshalb bei jungen Kurden hohes Ansehen. Die moderne Unterhaltungsindustrie hat die “sanfte Macht” der türkischen Sprache auch bei den Kurden gestärkt. Kurdisch steht dagegen selbst bei manchen Kurden in dem Ruf, eine Bauernsprache zu sein. Der in der Türkei bekannte kurdische Politiker Osman Baydemir erzählt dazu oft eine Geschichte aus seiner Familie, wo ihm die eigenen Kinder nur noch auf Türkisch antworten, wenn er sie auf Kurdisch fragt. Das habe begonnen, als die Kinder in den Kindergarten kamen, sagt Baydemir.

Frankfurter Allgemeine Zeitung, 31.12.2012, Nr. 304, S. 10