Ayaan Hirsi Ali über den Aufruhr in der muslimischen Welt

Eine neue Episode der weltweiten Gewalt und Proteste gegen die Beleidigung des Propheten Mohammed hat begonnen – diesmal ausgelöst durch ein unbedeutendes Youtube-Video. Ist bei den Protesten diesmal etwas anders als bei den vorherigen?

Aayan Hirsi Ali:

Ich würde sagen, dass diese Ausschreitungen alle aus einem Guß sind, denn sie haben alle den gleichen Ursprung: eine politische Ideologie eingebettet in eine 1400 Jahre alte Religion und Kultur, die keinen Platz bietet für Kritik an ihrem kulturstiftenden Vater und den heiligen Texten.

Sobald es um den Koran geht und den Propheten, fühlen sich Muslime beleidigt durch jegliche Arbeit, die sie diesen beiden Symbolen gegenüber als respektlos empfinden: vom aktuellen Koran-Projekt in Deutschland, das eine ernsthafte wissenschaftliche Arbeit darstellt, bis hin zum berüchtigten Video auf Youtube. Für den Durchschnitt der Muslime ist das alles gleichermaßen ein Angriff auf ihren Glauben.

Während US-Präsident Barack Obama nach den Ausschreitungen an der Meinungsfreiheit festhält, sagt der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan, die Beleidigung des Propheten könne nicht als Meinungsfreiheit angesehen werden. Lassen sich diese konträren Positionen vereinbaren?

Für mich symbolisiert das den “Kampf der Kulturen”, den Samuel Huntington im Jahr 1993 beschrieben hat. Es ist eine unangenehme Realität, der sich beide Kulturen gegenüber sehen: Es gibt gewisse Werte, bei denen können ihre Träger keinen Kompromiss eingehen. Premierminister Erdogan ist unermüdlich damit beschäftigt, Initiativen im Namen der islamischen Nationen der Organisation für Islamische Zusammenarbeit für eine Gesetzgebung durch die Kanäle des internationalen Gesetzes zum Verbot der Blasphemie voranzubringen. Präsident Obama hat der islamischen Welt unermüdlich mitgeteilt, dass Amerika Freundschaft und Frieden mit den Muslimen auf der ganzen Welt anstrebt. Er hat gelobt, die amerikanischen Truppen aus dem Irak und aus Afghanistan abzuziehen. Er stand auch dem Sturz von Diktatoren, die Verbündete der USA waren, nicht im Weg. Und er hat Israel und einem Teil der jüdischen Bevölkerung in den USA vor den Kopf gestoßen, indem er versucht hat zu zeigen, dass die Palästinenser ebenso ein Partner der USA seien wie die Israelis. In Wirklichkeit ist keiner der beiden Anführer oder der Menschen, die ihn gewählt haben, darauf vorbereitet, dem anderen zu geben, was er möchte: Präsident Obama oder irgendein anderer amerikanischer Präsident wird keinen Kompromiss bei der Meinungsfreiheit eingehen. Und Ministerpräsident Erdogan oder irgendein anderer muslimischer Führer wird sich nicht zurücklehnen und Blasphemie gegen islamische Symbole akzeptieren.

Die Demokratisierung der Medien bedeutet, dass jeder Videos versenden kann – und diese auch von jedem gesehen werden können. Das birgt gewisses Konfliktpotential…

Genauso ist es. Westliche Staaten beruhen auf dem Prinzip, dass der freie Meinungsaustausch von der Verfassung geschützt ist. So ist den Filmemachern in Hollywood oder den großen Verlagshäusern in New York nichts heilig: Wenn ein Film gut ist, erhält er einen Oscar. Ist er schlecht, wird er in den Rezensionen zerrissen. Wenn ein Buch gut ist, dann wird der Autor für den Pulitzer-Preis in die engere Wahl genommen. Wenn es schlecht ist, machen sich alle über ihn lustig. Dabei ist kein Thema tabu, ob es nun um Jesus Christus, Sex, Geld, Schwule, Juden oder Frauen geht. Erdogan und der ägyptische Präsident Mohammed Mursi wollen offenbar nicht verstehen, dass in einer Verfassungsdemokratie der Premier oder Präsident gar nicht die Macht und das Recht haben, die freie Meinungsäußerung einzuschränken. Wenn Obama sagt, der islamfeindliche Film sei unwürdig und repräsentiere nicht die Meinung der US-Regierung, ist das eben nur seine Privatmeinung – und nicht das Gelöbnis, die Macher des Films zu bestrafen.

Was soll der Westen also tun?

Als die einzig verbliebene Supermacht stehen die USA vor der großen Herausforderung, so weit es geht Konflikte zu vermeiden. Das ist umso schwieriger, als der amerikanische Einfluss abnimmt und der seiner Feinde wächst. Im Verhältnis zur muslimischen Welt haben sich in den vergangenen drei Jahrzehnten Folgendes gezeigt: Zu propagieren, dass sich gegenseitig ausschließende Moralvorstellungen vereinbaren lassen, löst das Problem nicht – ganz im Gegenteil, es verzögert nur die unausweichliche Auseinandersetzung in diesem ideologischen Streit. Amerika wird genauso wenig von der Meinungsfreiheit abweichen, wie die Muslime nicht akzeptieren werden, dass eine Beleidigung ihrer religiösen Ikonen straffrei bleiben darf. Von daher ist der einzige Ausweg eine wahrhafte Auseinandersetzung, bei der jede Seite versucht, der anderen zu beweisen, dass die jeweiligen Wertvorstellungen überlegen sind. Der Westen sollte endlich aufhören mit der moralischen Relativierung und damit beginnen, seine Werte zu verteidigen. Und es gibt auch Zeichen, gute Zeichen, dass sich die islamische Welt schnell verändert. Die iranischen Massen, die die Ayatollahs im Jahr 1979 an die Macht gebracht haben, riefen im Jahr 2009 zu einem Wandel auf. Wie wir alle wissen haben totalitäre System eine kurze Lebensspanne. Amerika und andere westliche Länder könnten dabei helfen, diesen Prozess in Richtung Freiheit zu beschleunigen anstatt den Eindruck zu vermitteln, dass Freiheit durch einen Kompromiss entstehen kann. Das können sie machen, indem sie die Personen und Gruppen unterstützen, die wirklich Amerikas grundlegende Prinzipien teilen.

Was bedeutet das genau?

Im Endeffekt wird es mehr Leben und Ressourcen kosten, sich vorübergehend in Allianzen mit Diktatoren, Mudschaheddin und Tyrannen zu begeben, als sich der Konfrontation mit den unvereinbaren Werten zu stellen. Der letzte Sieg der USA gegen ein schlechtes System war der gegen die Sowjetunion. Das war ein langer und ungewisser Kalter Krieg, aber Amerika hat gewonnen. Dieselbe Strategie muss in dem Kampf gegen den radikalen Islam zum Einsatz kommen.

http://www.welt.de/print/welt_kompakt/article109288900/Der-Westen-sollte-seine-Werte-verteidigen.html