AUFRUF ZUR SOLIDARITÄTSAKTION : Inhaftierung von Müge Tuzcuoğlu

Am 8. März 2012 wurde die Anthropologin und Schriftstellerin Müge Tuzcuoğlu in Diyarbakir im Rahmen der Ermittlungen gegen die Union der Gemeinschaften Kurdistan (KCK) festgenommen und kam am 10. März 2012 zusammen mit 12 anderen Personen in Untersuchungshaft.[1] Am 24. September 2012 soll das Verfahren vor einem Sondergericht in Diyarbakir beginnen. Ihre Inhaftierung und das Verfahren gegen sie sind ein weiteres Beispiel dafür, wie leicht es in der Türkei geworden ist, als kritischer Geist mit Terroristen gleichgesetzt und für Monate oder Jahre weg gesperrt zu werden.

Wer ist Müge Tuzcuoğlu?

Müge Tuzcuoğlu wurde 1983 in Artvin geboren. An der Universität in Ankara studierte sie Anthropologie. Zwischen 2002 und 2007 arbeitete sie bei der linken Tageszeitung Evrensel (Universell). Die Erschießung des 12-jährigen Uğur Kaymaz und seines Vaters am 21. November 2004 in Mardin-Kızıltepe[2] führte sie zu dem Entschluss, sich “vor Ort” (in Diyarbakir) um kurdische Kinder zu kümmern. Das tat sie vor allem im Verein “Umschlungen” (tr: Sarmaşık Derneği)[3] Die Erfahrungen mit den Kindern und Jugendlichen veröffentlichte sie in einem Buch: “Ich bin ein Stein” (tr:“Ben bir taşım”), das sie 2011 veröffentlichte und das 2012 in 2. Auflage erschien.

Müge Tuzcuoğlu soll an der Politikakademie der Friedens- und Demokratiepartei (BDP) “Geschichte der Gesellschaften” unterrichtet haben. Das ist vermutlich der Hauptgrund für ihre Verhaftung. Zuvor war es in Istanbul dem Verleger und Menschenrechtler Ragip Zarakolu und der Rechtsprofessorin Büsra Ersanli ähnlich ergangen.[4]

In der Broschüre zur Bekanntmachung ihres Buches sagte Müge Tuzcuoğlu u.a. über sich:[5]

“Nach meinen Ausweis wurde ich 1983 geboren und wie alle jungen Leute, die in den 80er Jahren geboren wurden, trage ich die tiefen Spuren, die der Militärputsch vom 12. September in meiner Familie und meiner Heimat hinterlassen hat.[6] Die zwei Phasen, die mich in meinem Leben beeinflusst haben, sind meine Arbeit als Journalistin bei Evrensel von 2002 bis 2007 und die Ermordung von Uğur Kaymaz. Es reichte mir nicht mehr, nur eine Nachricht darüber zu verfassen. Das war der Grund, warum ich 2008 eine Busfahrkarte nach Diyarbakır kaufte.”

 

Was wird ihr vorgeworfen?

Die meisten Nachrichten zum Verfahren gegen Müge Tuzcuoğlu nennen ihren Auftritt bei der Politikakademie der Friedens- und Demokratiepartei BDP, wo sie “Geschichte der Gesellschaften” unterrichtet haben soll, als den Hauptgrund für die Verhaftung und Anklage gegen sie. Die Vertretung der Stiftung für Menschenrechte in der Türkei (TIHV) in Diyarbakir war so freundlich, dem DTF eine Reihe von Dokumenten zur Verfügung zu stellen, die sich auf das Verfahren gegen Müge Tuzcuoğlu beziehen. Dazu gehört auch eine Stellungnahme, die sie nach Einsicht der Anklageschrift verfasst hat.[7] Daraus ergibt sich, dass sich 8 Seiten der Anklageschrift mit ihr befassen. Darin werde ihrer Meinung nach der Einsatz für die Kinder als “Propaganda”, die Arbeit gegen die Armut als “Gewährung von Unterschlupf und Unterstützung”, ihre Beschäftigung mit Traumata als “Mitgliedschaft” interpretiert.

Die Themen, die sie in der Anthropologie studierte, hätten eine Anweisung, eine Perspektive, eine Mitgliedschaft in der Organisation zur Bedingung. Sie selber habe diese Aussage nicht verstanden. In erster Linie habe sie aber der Teil der Anklageschrift in Bezug auf den Verein “Umschlungen” (Sarmaşık Derneği) verletzt. Er solle damit in die Illegalität gerückt werden, obwohl es kein Urteil gegen den Verein, der sich für die Mittellosen einsetze, gebe. In der Anklageschrift sei auch die Rede davon, dass “kein Beschluss gefällt werden solle, in welchem Bereich sie eine Aufgabe bei den Feierlichkeiten zu Newroz übernehmen solle”. Das soll ein Beweis sein, dass sie ein Mitglied der Organisation ist. Dann habe sie am 24. März noch ein Zelt besucht, das für eine demokratische Lösung der Kurdenfrage errichtet wurde. Weil die Nachrichtenagentur ANF und RojTV von dieser Aktion berichteten, werde die Initiative als illegal angesehen. Ebenso war es mit einer Aktion vor dem Gerichtsgebäude, wo am 19. April dagegen protestiert wurde, dass der Wahlrat ein Veto gegen Kandidaten der BDP einlegte.

Stimmen zum Verfahren

Prof. Dr. Birgül Ayman Güler, Abgeordnete für İzmir, besuchte Müge Tuzcuoğlu am 8. August 2012 im E-Typ Gefängnis von Diyarbakir. Zuvor hatte sie andere inhaftierte Angeklagte der Ergenekon und KCK Verfahren besucht. Nach einem Bericht in Istanbul Gercegi vom 10.08-2012 kommentierte sie die Inhaftierung von Müge Tuzcuoğlu mit den Worten: “Nur weil sie sich an einem Unterricht der BDP Politikakademie beteiligt und 5 Minuten lang gesprochen hat, wird sie nun wie ein Terrorist behandelt… Sie sollte nicht im Gefängnis, sondern bei den Kindern sein, um die sie sich gekümmert hat. Die übereilten Verhaftungen und Verfahren müssen ein Ende haben.”

Die CHP Abgeordnete für İzmir Birgül Ayman Güler hielt bei ihrer Pressekonferenz das Buch von Müge Tuzcuoğlu hoch

Eine ähnliche Pressemeldung erschien in Evrensel vom 10.08.2012. Güler kritisierte die Anklageschrift als realitätsfremd und schlecht geschrieben und vertrat die Meinung, dass Tuzcuoğlu kein faires Gerichtsverfahren erwarten könne. Der auf der Pressekonferenz anwesende Vater meinte, dass seine Tochter inhaftiert wurde, weil sie sich für Menschen einsetzt. Er forderte Gerechtigkeit und die Freilassung seiner Tochter.

Im Internet befindet sich ein türkischer Text, der auf dieser Seite unterschrieben werden kann: http://imza.la/mugevicdanimizdirSeptember. Er ist von Freunden verfasst, die bezeugen, dass Müge Tuzcuoğlu unschuldig ist. Bis zum 13. 2012 waren 2675 Unterschriften vorhanden. Die Aktion wird auch von der AG für Freiheit der Forschung und Lehre in der Türkei unterstützt.[8]

Kurz nach ihrer Verhaftung schrieb Müge Tuzcuoğlu einen Brief aus dem Gefängnis, der u.a. in Evrensel vom 14.03.2012 veröffentlicht wurde. Der Brief ist “an meine Kinder” adressiert und enthält u.a. folgende Aussagen:

Am Weltfrauentag wurde ich in einer Wohnung festgenommen, wo ich zu Gast war… Der Staatsanwalt, der aus einer Diskussion um die Geschichte der Gesellschaften Mitgliedschaft in einer Organisation machte, hatte aus den Steinen, die Kinder in die Hand nahmen, eine Organisation gebildet und das den Kinder erzählt… Im Verhör beim Staatsanwalt diskutierten wir über Gewalt. Er habe damit sogar während des Wehrdienstes Probleme gehabt. Sicher, die Steine der Kinder sind Gewalt. Aber wurden sie aus ihren Dörfern vielleicht mit Blumen verabschiedet? Sind ihre Väter und Onkel durch Querschläger getötet worden?

Am 17. Juli 2012 wurde ein weiterer Brief von ihr in Gaziantep Haberler unter dem Titel Von der Zelle zum Brand veröffentlicht. Darin stand u.a.:

Ich werde versuchen, meine Erfahrungen von 3,5 Monaten Haft zu schildern und von dort zum Brand im Gefängnis von Urfa[9] zu kommen. Ich schreibe aus einem Raum, der für 18 Personen gedacht ist, in dem aber 32 Menschen sind… Am Tag fließt 6 Mal das Wasser, jeweils für weniger als eine halbe Stunde. Die Zeiten, an denen du zur Toilette darfst, werden von anderen bestimmt… Der Grund, warum in Urfa 13 Menschen starben, ist nicht nur die Überbelegung. Der Funke ist eigentlich das Rechts- und Bestrafungssystem. Um solche Brände zu verhindern, muss das diskutiert und korrigiert werden.

 

Was Sie tun können?

Es wäre sinnvoll, wenn möglichst vor der Prozesseröffnung am 24. September 2012 Proteste beim Justizmministerium und/oder der türkischen Botschaft in Berlin eingehen würden. Sie können sich per Fax, E-Mail oder Luftpostbrief an die unten stehenden Adressen wenden und dabei zum Ausdruck bringen, dass Sie

•             über die Einschränkungen der Meinungsfreiheit in der Türkei besorgt sind

•             die Inhaftierung von Müge Tuzcuoğlu als ungerecht und einen Eingriff in die Freiheit von Wissenschaft, Forschung und Sozialarbeit empfinden, vor allem, weil sie nie Gewalt angewendet oder propagiert hat

•             erwarten, dass sie möglichst bald freigelassen und die Vorwürfe gegen sie fallen gelassen werden

•             hoffen, dass auch in ähnlich gelagerten Fällen rechtsstaatliche Normen eingehalten werden.

Adressat wäre der:

JUSTIZMINISTER

Sadullah Ergin – Adalet Bakanı

Adalet Bakanlığı

06659 Ankara

TÜRKEI

(korrekte Anrede: Dear Minister / Sehr geehrter Minister)

Fax: (00 90) 312 417 7113

E-Mail:ozelkalem@adalet.gov.tr oder sadullahergin@adalet.gov.tr

Mögliche weitere Adresse, aber mindestens eine Kopie sollte erhalten:

BOTSCHAFT DER TÜRKEI

S.E. Herrn Hüseyin Avni Karslioğlu

Rungestraße 9

10179 Berlin

Fax: 030 – 275 909 15

E-Mail: botschaft.berlin@mfa.gov.tr

Fußnoten

1.           ↑ Siehe den Tagesbericht der TIHV für den 10.-12.03.2012 in Englisch

2.           ↑ Siehe den Wochenbericht 49/2004

3.           ↑ Auf der Website des Vereins ist zum Beispiel eine Stadtkarte von Diyarbakir zur Verarmung zu finden.

4.           ↑ Siehe hierzu den Bericht des DTF zu Freilassung von Ragip Zarakolu gefordert

5.           ↑ Die Zitate sind einer Seite bei Insan Okur entnommen.

6.           ↑ Nach dem Militärputsch vom 12. September 1980 wurden allein aus einer politischen Gruppierung “Revolutionärer Weg” (Devrimci Yol) mehr als 1.000 Mitglieder in Artvin festgenommen, gefoltert und dann vor dem Militärgericht in Erzurum angeklagt. Das Verfahren hatte laut dieser Tabelle 939 Angeklagte. Einer von ihnen war der Lehrer Enver Karagöz, dem beim Verhör heißes Wasser in den Mund gegossen wurde. Danach litt er an Rachenkrebs und wurde 1984 entlassen, weil keine Heilung in Aussicht war. Er starb am 30. März 2007 in Köln. Siehe hierzu einen Artikel von Dogan Akhanli und einen Kommentar von Can Dündar (beides in Türkisch)

7.           ↑ Später hat das DTF den gesamten Wortlaut dieses Kommentars in einem Artikel in Evrensel vom 30.06.2012 gefunden.

8.           ↑ Siehe dazu diese Seite

9.           ↑ Siehe hierzu die Meldungen im Juni 2012