Aufbruch ins wilde Kurdistan : Der Nordirak zieht die Investoren an. Finanziert aus Öl und Gas wird in der kurdischen Region an allen Ecken gebaut.

Von Markus Bickel – FAZ – 6.11.2012 – ARBIL, 5. November. Der Bürgermeister lacht. Hinter dem Rücken Nihad Qoja Salims hängen bunte Frauenkleider von der Decke, vor ihm präsentiert eine Gruppe Archäologen gerade die Restaurierungsarbeiten, die sie am Eingang eines Schneiderladens im historischen Basar Arbils vorgenommen haben.

“Nein, Arbil soll nicht Dubai werden, das wäre unfair”, sagt Qoja, der nach dem Einmarsch der Amerikaner 2003 aus seinem Bonner Exil in die Hauptstadt der Autonomen Region Kurdistans zurückkehrte. Schließlich sei Arbil mehr als 6000 Jahre alt, Dubai erst ein paar Jahrzehnte. “Unser Ziel ist es, aus einer historischen eine historisch-moderne Stadt zu machen.”

Ob der Spagat gelingt, ist fraglich. Seit drei Jahren ist Arbil von einem Bauboom erfasst, der wenig Rücksicht nimmt auf historische Gegebenheiten – und der dem am Persischen Golf kaum nachsteht. Der alte Basar am Fuße der Zitadelle ist von einer schmucklosen neoislamischen Fassade umfasst worden, ein paar Schritte weiter steht eine Miniausgabe des Londoner Big Ben. Der wirtschaftliche Aufschwung des kurdischen Teilstaats, dessen Haushalt zu 95 Prozent von den Ölmilliarden der Zentralregierung in Bagdad gedeckt wird, ist atemberaubend, mehr als 16 Milliarden Dollar ausländischer Investitionen sollen nach Angaben der Regionalregierung in den vergangenen fünf Jahren ins Land geflossen sein.

Am wild wuchernden Stadtrand entstehen Wohnsiedlungen für den Mittelstand namens Dream City und Royal Village mit Kaltmieten bis zu 4000 Dollar, und ein Hotel nach dem anderen. In den neuesten Luxusunterkünften Divan und Erbil Rotana legen Gäste mehr als 350 Dollar je Nacht hin – Peanuts für die global agierende kurdische Business-Diaspora von Schweden über Amerika bis Australien. “Wer nicht hier ist, hat die Zeit verschlafen”, sagt Volker Wildner, Leiter des deutschen Wirtschaftsbüros, das 2010 in Arbil eröffnete.

Innerhalb weniger Jahre ist aus einem großen Dorf eine Millionenstadt geworden. Betrug das Bruttoinlandsprodukt je Kopf im Irak im Jahr des amerikanischen Einmarschs 2003 noch 465 Dollar, so sind es in den kurdischen Gebieten inzwischen 4452 Dollar, verglichen mit 3600 im Rest des Landes. Die Regierung des Regionalpräsidenten Masud Barzani betreibt eine derart eigenständige Außenwirtschaftspolitik, dass sie den irakischen Ministerpräsidenten Nuri al Maliki immer wieder gegen sich aufbringt, obwohl der Teilstaat ohne die 17 Prozent, die er aus dem gesamtirakischen Budget erhält, gar nicht lebensfähig wäre. 2011 flossen elf Milliarden Dollar aus Bagdad in die Autonome Region Kurdistan. Die Abhängigkeit von Öl und Gas ist fast vollständig; produziert wird in dem kurdischen Quasistaat kaum etwas, außer den drei großen Zementfabriken gibt es keine Industrie.

851 Millionen Dollar für neue Projekte hat die Regionalregierung deshalb ausgeschrieben, vor allem in den Bereichen Hausbau, Industrieanlagen, Elektrizität und Gesundheitswesen. Eine Goldgrube für risikofreudige Unternehmer: Mehr als zwanzig deutsche Unternehmen beteiligten sich an der gerade zu Ende gegangenen Messe Erbil International, die dabei ist, der Bagdad International den Rang abzulaufen. 10 bis 15 Jahre hinke die irakische Hauptstadt den Entwicklungen in Kurdistan hinterher, sagt Wildner, und bezeichnet Arbil als Magneten, an dem sich alle im Irak orientierten.

Auch Herbert Gruber vom Schweißmaschinenhersteller MBK, der erstmals auf der Messe ausstellte, sieht den kurdischen Teilstaat als “Sprungbrett in den Rest des Landes”. Gespräche mit irakischen Vertretern in Bagdad und Basra hätten schon begonnen. “Es wird sich hier in nächster Zeit viel tun”, pflichtet ihm Rainer Straub vom Betonfertigteilesystemhersteller BFS bei, der angesichts des ungebrochenen Baubooms und staatlicher Aufträge optimistisch in die Zukunft blickt.

Er ist nicht der Einzige. Dutzende türkische Unternehmen, vor allem aus der Baubranche, aber auch aus dem Lebensmittel- und Gesundheitssektor, haben sich inzwischen im Nordirak niedergelassen und werkeln mit am kurdischen Wirtschaftswunder. 12 Milliarden Dollar betrug zuletzt das Handelsvolumen mit der Türkei. Schicke Einkaufszentren wie der Family Mall an der mehrspurigen Ringstraße am Stadtrand locken mit ihren Restaurants, Designerketten und Spielecentern längst auch Besucher aus der Türkei an. Erst im September war Regionalpräsident Barzani beim türkischen Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan zu Gast. Die Beziehungen gestalten sich bestens, über eine direkte Pipeline etwa soll die Türkei schon von August nächsten Jahres an unabhängig vom Restirak mit Öl versorgt werden, kündigte Ölminister Ashti Hawrami im Mai an.

Dass ausländische Ölkonzerne wie Chevron, Exxon Mobil, Gasprom und Total Verträge an der Zentralregierung vorbei geschlossen haben, schürt zwar den Konflikt mit Ministerpräsident Maliki weiter – für Barzani aber ist jede Unterschrift ein Schritt weiter Richtung Unabhängigkeit. Der Branchenführer ExxonMobil, der 2011 als erstes Unternehmen ein separates Abkommen mit der kurdischen Regierung unterzeichnet hat, wurde deshalb im Mai von einer Auktion zur Erschließung von Ölfeldern im Südirak ausgeschlossen, Chevron, das kurze Zeit später folgte, von der Regierung in Bagdad auf eine schwarze Liste gesetzt.

Verschlechterungen ihrer Startbedingungen im Restirak nehmen die Ölgiganten bewusst in Kauf, so attraktiv sind die Aussichten, von den Rohstoffen in den kurdischen Bergen zu profitieren, wo allein bis zu 45 Milliarden Barrel Öl lagern könnten. Mit der chemischen Aufarbeitung der Gasvorkommen soll 2013 begonnen werden. Von einem Investitionsvolumen von 530 Milliarden Dollar bis 2035 für den Gesamtirak geht die Internationale Energie-Agentur (IEA) aus.

Bisher hat die Regierung in Arbil 49 Öl- und Gaskonzessionen erteilt. Tausende Arbeitsplätze hofft sie so zu schaffen – und die Staatsausgaben zu senken, die zu zwei Drittel an die 63 000 Bediensteten in der aufgeblähten Verwaltung gehen. Die Arbeitslosigkeit liegt bei mehr als zwanzig Prozent. Das ist, neben der Korruption, die Kehrseite des allein auf seinen Öl- und Gasreichtum setzenden kurdischen Wirtschaftswunders.