Asli Erdogan : Eine türkische Winterreise

„3 kurdische Mädchen wurden vergewaltigt!“

27.12.2012 · Rainer Herman – FAZ – Sie schrieb über Gefängnisse, Folter und Gewalt gegen Frauen, dann verließ sie ihre Heimat: Warum sich die Schriftstellerin und einstige Cern-Physikerin Asli Erdogan im Exil nicht sicher fühlt.

Wilhelm Müllers Verse aus der „Winterreise“, „Fremd bin ich eingezogen, fremd ziehe ich wieder aus“, könnten auch von ihr sein. Auch Asli Erdogan sucht Orte wie den Lindenbaum, an dem sie Gewissheit hätte, Ruhe zu finden. Auch sie lässt ihre Helden mit dem Leiermann gehen, und dessen Leier steht nimmer still. Die Fremde und die Einsamkeit, Leid und Ungerechtigkeit, Lebensverzweiflung und endlich der Tod – sie durchziehen als feste Konstanten Asli Erdogans Schaffen, das, wäre es nicht so sehr der existentialistischen Realität verpflichtet, in der Tradition der „schwarzen Romantik“ stehen könnte.

In einem unveröffentlichten Manuskript schreibt die Istanbulerin, die sich seit Jahren von ihrer Heimat fernhält: „Den Sonnenaufgang begrüßen wir ganz allein für uns, den Sonnenuntergang jedoch teilen wir mit den Toten.“ Und in ihrem ersten großen Buch, „Der wundervolle Mandarin“ (1996), hatte sie erkannt: „Meine Hölle war weder mein Land, noch war sie hier. Ich habe sie in mir selbst getragen, genauso wie meine Träume von einem Paradies.“ Sie hatte dieses Buch in den Nächten der Jahre 1991 und 1992 geschrieben, als sie tagsüber als aufstrebende Physikerin in Genf am Cern, der Europäischen Organisation für Kernforschung, über die Higgs-Partikel forschte.

Sogar der eigene Vater erstattete Anzeige

Noch immer ist die Türkei nicht stark genug, eine Stimme wie die von Asli Erdogan, die sich keinen Konventionen beugt und keine Tabus akzeptiert, zu ertragen. In der Zeitung „Radikal“, mit der sich kritische türkische Intellektuelle lange geschmückt haben, schrieb sie von 1998 an drei Jahre lang Kolumnen mit dem Titel „Der Andere“. In ihnen machte sie sich zur Stimme der im Land zum Schweigen Gebrachten. Sie schrieb über die Bedingungen in den türkischen Gefängnissen, die Folter, die Gewalt gegen Frauen, die den Kurden vorenthaltenen Rechte und unterstützte hungerstreikende Gefangene.

Sie lebte, was sie schrieb, und war mit verfolgten Flüchtlingen aus Schwarzafrika in eine erbärmliche Wohnung im Istanbuler Stadtteil Cihangir gezogen. Dort wurde sie eines Abends Zeugin, als Unbekannte einen Mitbewohner mit 27 Messerstichen im Hauseingang töteten und sie selbst nur wie durch ein Wunder entkommen konnte. Sie machte publik, dass Mitglieder der Sicherheitskräfte drei kurdische Mädchen vergewaltigt hatten, und ist heute entsetzt, dass die zunächst Suspendierten später befördert wurden. Polizei zog vor ihrem Haus auf, um sie zu schikanieren, und 2001 wurde sie von ihrer Zeitung entlassen. 2010 durfte sie noch einmal, für fünf Monate, ihre Kolumnen schreiben. Da war sie bereits Zielscheibe nationalistischer Türken geworden. Sie wollten Asli Erdogan nicht verzeihen, dass sie 2008 zu den ersten Intellektuellen gehört hatte, die einen offenen Brief unterschrieben, der sich bei den Armeniern für das entschuldigte, was die Türken ihnen angetan hatten. Sogar ihr nationalistischer Vater erstattete Anzeige gegen die eigene Tochter.

Das Beste am Migrantenleben

Eine selbst für türkische Verhältnisse beispiellose Hetzkampagne setzte ein, und Asli Erdogan rettete sich ins Ausland. Im April 2011 begann sie, aus schierer Not, aber auch aus Überzeugung Kolumnen für die kurdische Zeitung „Özgür Gündem“ zu schreiben. Achtzig Journalisten dieser Zeitung sind in den vergangenen zwei Jahrzehnten getötet worden. Seit dem 28. Oktober 2011 ist der Verleger und Menschenrechtler Ragip Zarakolu in Haft, ein literarischer Weggefährte, der auch für „Özgür Gündem“schrieb.

Seither fürchtet Asli Erdogan sich noch mehr vor einer Rückkehr ins Land ihrer Sprache. Sie zieht durch die Welt, so, wie die Frau ihres Buchs „Der wundervolle Mandarin“ in Genf nach Mitternacht als Fremde allein die Straßen durchstreift. Die beobachtet mit nur einem Auge, wie Bankiers, Unternehmer und Diplomaten auf den Parkplätzen aus den Autos aussteigen: „Deswegen bleiben Bürgersteige mittellosen Ausländern wie mir vorbehalten.“ Sie wird zum Fremden, sieht keine offenen Arme. Und „sein Land, das er in jenen vergangenen Zeiten nicht ertragen konnte, hat sich in ein verlorenes, erträumtes Paradies verwandelt, aber auch an seine Träume kann er nicht mehr glauben“.

Irgendwann sei, schreibt Asli Erdogan autobiographisch die Nächte der Einäugigen weiter, ein Tag gekommen, an dem sie auf einer Flasche Kölnisch Wasser ein Bild von Istanbul erblickt habe. „Ich vertiefte mich in den Anblick des Bosporusdampfers der Städtischen Schifffahrtsgesellschaft auf dem zwei Finger breiten Bild, auf das grellblaue Wasser, so hilflos gezeichnet, dass es einem das Herz brach, und weinte.“ Sehnsucht nach Heimat entstand, es war der erste Blickkontakt mit der Türkin in ihr. „Plötzlich hatte ich auf eine einfache, unverfälschte Art Sehnsucht nach Istanbul, nach meiner eigenen Sprache, meinen eigenen Menschen.“ Sie habe begriffen, dass das Beste am Migrantenleben darin liege, dass es wie keine andere Erfahrung dem Menschen das Leben begreiflich mache.

In ihrer Heimat wird sie totgeschwiegen

Asli Erdogan entdeckte, was türkisch an ihr ist: ihre Sprache. Zweimal war sie in die Türkei zurückgekehrt, 1996 und 2008. Sie wollte ihre Sprache nicht verlieren: „das einzige, was ich besitze“. Sie weiß aber auch: „Meine Tragödie erklärt die Türkei.“ Sieben Bücher hat sie verfasst, stets als Mischung aus Roman, Essay und Novelle. Die „Stadt mit der roten Pelerine“ (1998) wurde in zehn Sprachen übersetzt und erhielt glänzende Besprechungen, das französische Magazin „Lire“ nahm sie in seine Liste „50 Schriftsteller der Zukunft“ auf, beim Literaturfestival von Lillehammer hielt sie 2011 die Hauptrede.

In ihrer Heimat jedoch wird Asli Erdogan totgeschwiegen. „Die Türkei umgibt mich mit einer fürchterlichen Aura des Schweigens“, sagt sie. Mehr noch. Nach vielen Bedrohungen hat sie Angst, ins Land ihrer Sprache zurückzukehren. So lebt sie meist in der Fremde: erst in Rio de Janeiro, wohin sich sie sich schon 1994 in Sicherheit brachte und wo „Die Stadt mit der roten Pelerine“ entstand, dann in Sarajevo, im Heinrich-Böll-Haus in Lüneburg, in Wien und in Zürich. Dort lernte sie einen Überlebenden aus Auschwitz kennen und schrieb das Gedicht „Licht und Dunkelheit“.

Metaphern über Folter und Betrug

Seit August 2012 ist sie in Graz „Asylschreiberin“. Dabei wäre sie lieber eine „Schreiberin im Exil“. Bereits in ihrem Land habe sie ja im Exil gelebt; so könne sie bei einer Rückkehr nicht enttäuscht werden. Exil sei ja nichts anderes als ein weiteres Gefängnis, sagt sie. Auch in der Novelle, an der sie gerade arbeitet, spielt das Gefängnis eine zentrale Rolle. Ein Wanderer sei sie nicht, auch keine Kämpferin, erst recht keine Siegerin. Und immer wieder plagt sie die Frage: „Werde ich das nächste Visum bekommen?“

Als sie jüngst in Deutschland war, sei sie mit Drohungen davor gewarnt worden, in die Türkei zurückzukehren. „Mein Leben ist das eines gejagten Tiers“, sagt Asli Erdogan bitter. Ihre Überzeugungen haben sie in ein langes und schmerzhaftes Exil geführt. Immerhin freut sie sich, dass ihr letztes Buch, „Das Steinhaus“, das sich in Metaphern mit Folter und Betrug beschäftigt, gerade auf Schwedisch erschienen ist. Die Schriftstellerin Asli Erdogan aber zieht auf ihrer Winterreise weiter.

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