ANALYSE : DIE GEZI PARK BEWEGUNG & DER EU BEITRITT : »Die EU ist für die Linke nicht relevant«

Katharina Bodirsky, Soziologin – 1.11.2013Für die türkische Linke, insbesondere die neue Bewegung, die sich im Sommer bei den Protesten um den Gezi-Park formiert hat, sind die EU-Beitrittsverhandlungen kaum ein Thema. Linke Forderungen spielen in diesem Prozess keine Rolle. Auch für die neu gegründete »Gezi-Partei« ist Eu­ropa keine Priorität, meint die Soziologin Katharina Bodirsky, die an der Middle East Technical University in Ankara lehrt.

Die Beitrittsverhandlungen zwischen der EU und der Türkei wurden offiziell im Oktober 2005 aufgenommen und dauern seitdem an. Welche Leitlinien lassen sich Ihrer Meinung nach im bisherigen Prozess der Verhandlungen beobachten?

Beitrittskandidaten müssen die drei Kopenhagener Kriterien erfüllen, wovon eines die Annahme des gesamten EU-Rechts, des acquis communautaire, verlangt. Mit der Eröffnung des Verhandlungskapitels »Regionalpolitik« geht dieser Prozess nun weiter. Die anderen beiden Kriterien sind allerdings nicht direkt an EU-Recht geknüpft. Hier kann die EU-Kommission daher im Prinzip von Beitrittskandidaten mehr als von gegenwärtigen Mitgliedsstaaten verlangen. Dies betrifft zum einen die politischen Kriterien, also Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte, und zum anderen die wirtschaftlichen Kriterien, also dass ein Beitrittskandidat eine funktionierende Marktwirtschaft hat, die den Wettbewerb im freien Markt standhalten kann. In den öffentlichen Debatten zum Beitritt der Türkei waren vor allem die Themen der Menschenrechte und der Demokratisierung sowie geopolitische Fragen dominant. Was dabei unter den Tisch fiel, sind die wirtschaftlichen Entwicklungen, die die EU in der Türkei unterstützt und mit denen sie sich deutlich zufriedener zeigt als mit den politischen Kriterien. Diese Details in der Umsetzung des acquis und der wirtschaftlichen Kriterien werden häufig als Expertenwissen abgetan, das mit der Beitritts­politik nicht viel zu tun habe. De facto hat die EU aber in der Türkei einen wirtschaftlichen Libe­ralisierungsprozess unterstützt, der bis zum Militärputsch von 1980 zurückreicht und im letzten Jahrzehnt unter der AKP-Regierung stark angezogen hat. Die EU hat auch die neoliberalen Strukturreformen des Internationalen Währungsfonds und der Weltbank und hier unter anderem Privatisierungen unterstützt, die in der Türkei stark kritisiert wurden. Privatisierungen und Direkt­investitionen aus dem Ausland haben seit dem Beginn der Beitrittsverhandlungen 2005 enorm zugenommen, nicht zuletzt, weil durch die Beitrittsperspektive ein stabiles Investitionsklima signalisiert wurde. Die autoritäre Haltung gegenüber den Gezi-Protesten kann hier auch so interpretiert werden: Die Regierung will zeigen, dass sie solche Investitionen – in diesem Fall geht es um den Bau- und Immobiliensektor – mit starker Hand schützen will. Weil das EU-Recht stark in der Umsetzung des freien Marktes, aber schwach im Bereich sozialer Fragen ist, wird dieser neoliberalen Entwicklung durch den acquis communautaire nichts entgegengesetzt, so wenig wie durch die anderen beiden Beitrittskriterien, und das obwohl die Türkei von einer enormen sozialen Ungleichheit geprägt ist. Die EU hatte dazu über die Jahre des Beitrittsprozesses hinweg fast nichts zu sagen oder zu tun, auch nicht durch das Geld, das in die Türkei fließt und vor allem für die Angleichung an das EU-Recht und die Erfüllung der anderen Kriterien verwendet wird. Diese neoliberale Politik der türkischen Regierung, die sich unter anderem auch in den Prioritäten der Stadtentwicklung zeigt, war einer der maßgeblichen Punkte, an denen sich die Gezi-Bewegung entzündet hat.

Wie ist der derzeitige Stand der Beitrittsverhandlungen zwischen der EU und der Türkei zu bewerten?

Die EU-Kommission hat sich mit der Aufnahme der Verhandlungen de facto verpflichtet, die Türkei aufzunehmen, sobald sie die Beitrittskriterien erfüllt. Aber der EU-Beitritt bleibt letztlich eine politische Entscheidung und ob einer oder mehrere der Mitgliedstaaten dem einen Stein in den Weg legen werden, bleibt abzuwarten. Allerdings ist eine solche Entscheidung in naher Zukunft nicht zu erwarten, da der EU-Beitritt für die AKP-Regierung keine Priorität mehr zu sein scheint. Die AKP hat nach den Reformen von 2002 und der Eröffnung des Beitrittsprozesses 2005 wenig Interesse an der EU gezeigt. Im Wahlkampf von 2011 war die EU überhaupt kein Thema mehr. Man muss hier natürlich auch sehen, dass der »kranke Mann Europas« derzeit die EU ist, nicht »der Mann am Bosporus«, während die AKP-Regierung zuversichtlich scheint, dass sie die Türkei als wirtschaftliche und politische Größe in der Region etablieren kann – auch ohne die EU.

Es hat den Anschein, dass die Beitrittsverhandlungen der EU für die Linke in der Türkei kein großes Thema sind. Welche Gründe sehen Sie für das linke Desinteresse an der EU?

Es gab von Anfang an keine einheitliche Haltung der Linken gegenüber einem EU-Beitritt, so wie es auch keine einheitliche Linke in der Türkei gibt. Manche, etwa nationalistische und sozialistische Gruppierungen, sahen in der EU vor allem eine imperialistische, neoliberale Macht, die sie ablehnten. Andere, darunter religiöse Minderheiten und Kurden, versprachen sich vom Beitrittsprozess Verbesserungen im Hinblick auf Demokratisierung, Menschen- und Minderheitenrechte, weshalb sie ihn befürworteten. Wieder andere standen der EU ambivalent gegenüber. Grundsätzlich muss man allerdings sagen, dass der EU-Beitritt seit geraumer Zeit kein Gegenstand öffentlicher Debatte in der Türkei mehr ist. Man muss hier beachten, dass die sogenannte »EU-Konditionalität«, also das Knüpfen des EU-Beitritts an bestimmten Konditionen, im Beitrittsland nur etwas bewirkt, wenn die Regierung starkes Interesse an einer Mitgliedschaft hat. Wie ich bereits gesagt habe, ist das derzeit in der Türkei nicht der Fall. Diejenigen Linken, die sich durch den Beitrittsprozess positive Veränderungen versprochen hatten, haben heute deswegen deutlich weniger Grund dazu. Wie die Ereignisse der vergangenen Monate gezeigt haben, ist die AKP-Regierung wenig verhandlungsbereit, weder im Hinblick auf EU-Forderungen noch im Hinblick auf Forderungen von gesellschaftlichen Gruppen, die nicht zu ihrer Wählerschaft gehören. Linke Forderungen in Bezug auf die EU-Konditionalität würden in diesem Kontext nichts bringen. Da erscheint die EU dann einfach nicht als sehr relevant. Dazu kommt natürlich, dass die EU-Politik in Kandidatenländern alles andere als unproblematisch ist, wie ich versucht habe darzustellen.

Im Sommer 2013 wurden die Beitrittsverhandlungen aufgrund des unverhältnismäßigen Vorgehens der Sicherheitskräfte gegen die landesweit Protestierenden der Gezi-Bewegung ausgesetzt. Denken Sie, dass dies die Meinung der Gezi-Bewegung, aus der nun auch eine Partei hervorgegangen ist, zur EU beeinflusst hat?

Was ich über die linken Gruppierungen in der Türkei gesagt habe, gilt noch mehr für die Gezi-Bewegung. Sie ist extrem heterogen, reicht von Anhängern der CHP, die selbst sehr unterschiedlich sind, über Anhänger verschiedener linker Gruppierungen bis hin zu Jugendlichen, die sich gerade politisiert haben und sich bisher mit keiner der etablierten Parteien oder Gruppierungen identifizieren konnten. Gerade letzteres hat die Gezi-Bewegung geprägt. Es ist daher spannend, wie sich die neu gegründete Partei in diesem Spektrum verorten will. Die Frage ihrer Haltung gegenüber der EU wird vor allem davon abhängen. Aber wie ich schon erwähnte, ist die EU als politische Kraft im gegenwärtigen Geschehen in der Türkei nicht sehr präsent, und da würde ich die Gezi-Bewegung mit einschließen.

Das heißt, die Gezi-Partei wird sich im Grunde erst dann mit der EU auseinandersetzen müssen, wenn sie zu einer mehrheitsfähigen politischen Kraft geworden ist?

Ja, das denke ich schon. Es wird auch nicht die erste Priorität dieser neu gegründeten Partei sein, sich dementsprechend zu verorten. Man wird auch erst sehen müssen, ob diese Partei überhaupt Resonanz findet, überhaupt von den verschiedenen Akteuren in der Gezi-Bewegung als Reprä­sentant angenommen wird.

In der heterogenen politischen Linken der Türkei gibt es Gruppen, die sich an europäischen linken Traditionen orientieren. Glauben Sie, dass dies die Sicht mancher türkischer Linker auf die EU prägt?

Die jeweilige Sichtweise – antiimperialistisch oder linksliberal, zum Beispiel – beeinflusst natürlich, ob die EU als positive oder negative politische Macht gesehen wird. Ich denke, was momentan besonders interessant ist, sind die möglichen europäischen Verbindungen des Protests in der Türkei, der sich an der Stadtpolitik entzündet hat, aber generell gegen eine neoliberale und autoritäre Politik gerichtet ist, zu Protesten innerhalb der EU in den vergangenen Jahren. Die Inhalte und die Art und Weise der Mobilisierung in der Türkei knüpfen an Bewegungen wie zum Beispiel die Indignados in Spanien oder an die »Occupy«-Bewegungen an. Auch wenn die Anliegen nicht identisch sind, gibt es doch deutliche Überschneidungen, und man fragt sich, wie diese politisch tragfähiger gemacht werden könnten. Übrigens ist der Protest in der Türkei nicht beendet. Studenten der Middle East Technical Univer­sity in Ankara haben zum Beispiel in den vergangenen Wochen gegen den Bau einer Stadtautobahn protestiert, die durch die anliegende Nachbarschaft führt und für die Tausende Bäume auf dem Gelände der Universität illegalerweise in einer Nacht-und-Nebel-Aktion gefällt wurden. Dieser Protest knüpft an Gezi an, und wird derzeit ähnlich gewaltsam unterdrückt.

Wenn Sie eine Prognose für die Beitrittsverhandlungen und deren Resonanz in der türkischen Linken wagen würden, welche wäre das?

Die weitere Entwicklung wird sicher von den nächsten Wahlen in der Türkei abhängen und wohl auch von der wirtschaftlichen Situation in der EU und in der Türkei. Also davon, ob sich die EU politisch und wirtschaftlich aus der Krise befreien kann und ob sich die Türkei mit ihrer sehr starken Aktivität im Bau- und Immobiliensektor nicht in eine wirtschaftliche Krise manövriert, ähnlich wie es in Spanien der Fall war. Aber falls sich an dieser Konstellation, an der politischen und wirtschaftlichen Situation der beiden Seiten, in den nächsten Jahren nichts Wesentliches ändert, nehme ich an, dass sich der Beitrittsprozess so schleppend wie bisher weiterziehen wird – ohne eine sichere Beitrittsperspektive für die Türkei. Ich kann mir nicht vorstellen, dass der EU-Beitrittsprozess in diesem Fall größere Resonanz in der türkischen Linken hervorrufen wird, als dies in den vergangenen Jahren der Fall war.