Alles könnte anders sein

CORD RIECHELMANN – In der Philosophie des spekulativen Realismus wird Denken wieder zum Abenteuer. Es geht um eine Welt ohne letzten Grund und um die Macht der Kontingenz. Kann man das, was es gibt, auch dann denken, wenn es kein Denken gibt?

Die Philosophie antwortete auf die Frage bis vor kurzem mit: Nein, ohne Denken kann man nicht denken, was es gibt. Wenn das “ich denke”, das nach Kant alle meine Vorstellungen muss begleiten können, nicht gegeben ist, gibt es kein Denken über das, was es gibt. In diesem Zirkel spricht sich ein Problem der Philosophie aus, das von Kant bis zu den Postmodernen auf den verschiedensten Niveaus unwidersprochen als gültig angenommen wurde: nämlich die Tatsache, das Denken immer auf die Welt bezogen ist und die Welt immer einem denkenden Subjekt erscheint.

Ins Wanken geriet diese scheinbar feststehende Beziehung oder Korrelation zwischen Subjekt und Objekt oder der Sprache und der Welt, als der Philosoph Quentin Meillassoux 2006 in seinem Buch “Après la finitude : Essai sur la nécessité de la contingence” den Korrelationismus heftig angriff. Nach Meillassoux, der 1967 in Paris geboren wurde, ist der Korrelationismus schlicht nicht mehr in der Lage, die Tatsachen, die die experimentellen Wissenschaften durch die Datierungen der Entstehung des Universums, der Erde und des Lebens auf der Erde geschaffen haben, angemessen zu denken. Denn wenn das Universum vor 13,5 Milliarden und die Erde vor 4,45 Milliarden Jahren entstand, wenn der Ursprung des irdischen Lebens vor 3,5 Milliarden Jahren stattfand, während der Mensch in der Form des Homo habilis erst vor zwei Millionen Jahren auf der Welt auftauchte, dann gibt es sehr, sehr lange Perioden der Welt, die unabhängig vom Menschen und seinem Denken waren oder sind. Für Meillassoux sind die Datierungen der Wissenschaften nicht irgendwelche hypothetischen Konstruktionen, sie sind reale Tatsachen, die unabhängig vom Denken entstanden und existieren.

Und weil die Fakten der vorlebendigen und vormenschlichen Welt real sind, hat sich die Denkrichtung, die Meillassoux angestoßen hat, den Namen “spekulativer Realismus” gegeben. Ausgehend von Meillassoux’ Buch und einer Konferenz in London am Goldsmiths College, die sich 2007 kurzfristig den Namen “Speculative Realism” gab, haben die Gedanken und Thesen in der angelsächsischen Sprachwelt eine immense Wirkung erzielt, die man mit dem Auftauchen der Schriften Jacques Derridas in den sechziger und siebziger Jahren vergleichen kann. In Deutschland hat es, wie immer, wenn ein neues Denken aus Frankreich kommt, etwas länger gedauert, obwohl die deutsche Übersetzung von “Après la finitude” bereits 2008 (im selben Jahr wie die englische Version) unter dem Titel “Nach der Endlichkeit. Versuch über die Notwendigkeit der Kontingenz” bei Diaphanes erschienen ist.

Es scheint sich da aber gerade etwas zu ändern. Am kommenden Dienstag wird Diedrich Diederichsen in der Akademie der Bildenden Künste in München einen Vortag mit dem Titel “Vom historischen Materialismus zum spekulativen Realismus” halten; gleichzeitig erscheint bei Merve “Realismus Jetzt. Spekulative Philosophie und Metaphysik für das 21. Jahrhundert”. Der Merve-Band versammelt erstmals Originaltexte der vier Gründungstheoretiker, Quentin Meillassoux, Ray Brassier, Iain Hamilton Grant und Graham Harman, auf Deutsch in einem Buch. Bei dem Buch handelt es sich um einen Theorieimport in der besten Merve-Tradition. Ein neues Denken wird hier in kurzen, prägnanten Texten und nicht in ausführlichen Monographien vorgestellt. Das ist in diesem Fall angemessen, weil die spekulativen Realisten nicht als eine verschworene Einheit erscheinen, sondern als in vielen Punkten konträre Denker. So ist zum Beispiel der Wissenschaftssoziologe Bruno Latour für Graham Harman der “Prinz der Netzwerke”, wogegen Ray Brassier Latour für einen salbungsvollen postmodernen Irrationalisten hält.

Auch wenn sich die beiden Positionen nicht unbedingt ausschließen – viele Großsprecher der sozialen Netzwerke sind ja nichts anderes als salbungsvolle Irrationalisten -, bezeichnen die unterschiedlichen Markierungen Latours bei Harman und Brassier konträre Standpunkte. Es gehört zu den erfrischenden Tatsachen des Denkens der spekulativen Realisten, dass sie untereinander nicht an Kritik sparen und sich teilweise heftig angreifen, ohne dass man dabei das Gefühl hätte, sie würden etwas anderes als ihr Denken kritisieren. Es wird so auch in den Texten klar, dass sie keine Einheit sind, sondern auch so individualisiert schreiben, wie sie denken. Den Begriff der Einheit lehnen sie prinzipiell für das Universum, die Welt und das Leben ab. Es gibt für sie keine ursprüngliche Harmonie oder Einheit, aus der sich dann mit einem Knall oder Wispern das Universum, die Welt oder das Leben entfalteten.

Es gibt von Anfang an nur individualisierte zufällige Begegnungen. So wie das Leben aus dem zufälligen Zusammentreffen von zwei bis dahin getrennten Dingen oder Stoffen entstand, die es dann in ihrer neuen Verbindung schafften, Mechanismen zu entwickeln, die ihre Replikation oder Reproduktion ermöglichten. Das heißt: Es gibt kein genetisches Apriori. Es gibt keine Genetik vor der Möglichkeit der genetischen Verdopplung oder Vervielfachung der Lebewesen. Und dass es die Möglichkeit der Fortpflanzung durch Vererbung gibt, ist allein dem Zufall zu verdanken. Die Entstehung des Lebens hat keinen tieferen Grund, aus dem sie folgt, und einen Schöpfer des Lebens gibt es damit natürlich erst recht nicht. Das meint Meillassoux, wenn er schreibt, die Notwendigkeit der radikalen Kontingenz sei das prinzipielle Absolute, dem wir denkend nicht ausweichen können, wenn wir die Welt verstehen wollen.

Kontingenz bedeutet in diesem Zusammenhang mehr als nur Zufall; Kontingenz heißt, das alles, was ist, auch anders sein könnte, und in Meillassoux’ Denken schließt die Kontingenz auch die physikalischen Naturgesetze ein. “Wir behaupten”, schreibt er, “dass sich die Naturgesetze tatsächlich ohne Grund verändern können, trotzdem erwarten wir nicht – nicht mehr als irgendjemand sonst auch -, dass sie sich unaufhörlich verändern.” Meillasoux bejaht die Annahme, dass die Dinge fähig sind, “tatsächlich und ohne jeden Grund” das launenhafteste Verhalten anzunehmen, ohne deswegen den gewöhnlichen und alltäglichen Bezug, den wir zu den Dingen haben können, zu verändern. Er fasst diese Erkenntnis in diesen Satz: “Wir werden nichts verlieren, wenn wir von einem kausalen zu einem nicht-kausalen Universum übergehen, nichts außer Rätsel.” An diesem Satz lässt sich das Suggestive von Meillassoux’ Sprache genauso demonstrieren wie die weitreichenden Folgen seines Denkens. In dem Satz schwingt das Ende des “Kommunistischen Manifests” mit, in dem es heißt: “Die Proletarier haben nichts in ihr (der Welt) zu verlieren als ihre Ketten. Sie haben eine Welt zu gewinnen.”

In Meillassoux’ Denken kann man eine Welt ohne Grund gewinnen. Philosophisch hat das Konsequenzen. Aus dem Satz vom zureichenden Grund, nach dem man für jedes Ding, jede Sache einen Grund angeben können muss, von dem aus man dann immer weiter bis zu einer Art Urgrund hinabschreitet, wird der Satz vom Grundlosen, vor dem man aber keine Angst haben muss. Die Annahme, dass der Baum, der irgendwo am Wegesrand steht, ohne tieferen Grund wächst, auch wenn er Wurzeln in den Boden schlägt, lässt den Baum nicht sterben oder sinnlos in sich zusammenfallen. Der Baum wird auch ohne Grund weiter wachsen, ihm ist nur das Mysteriöse genommen, von dem Wittgenstein meinte, dass es unaussprechlich bleibe am Sein. Und auch Heideggers Wunder ist vom Baum ohne Grund abgefallen: “Einzig der Mensch unter allen Seienden erfährt”, schrieb Heidegger, “angerufen von der Stimme des Seins das Wunder aller Wunder: Dass Seiendes ist.”

Der Baum ohne Grund aber, so kann man Meillassoux gegen Wittgenstein und Heidegger zusammenfassen, wächst vor sich und an sich dahin, ohne von Mysterien und Wundern umkränzt zu werden: Der Baum ist allein ein Geschöpf der Kontingenz, und als solcher kann er auch begriffen werden, ohne ewigen Bezug zum menschlichen Denken. Es gibt den Baum an sich, wie es auch viele andere Dinge an sich gibt. Der spekulative Realismus eröffnet in der Philosophie den Blick auf die Individualisierung der Dinge. Er ist damit die erste Philosophie, die auf der Höhe der Darwinschen Lehre mit Darwin denkt, die also nicht über Darwin, den Darwinismus und Evolution nachdenkt, sondern mit einem eingesogenen Darwin die Welt ansieht.

Wir wissen nicht, was das Individuum vermag, lautete Darwins zentrale Frage – und er beantwortete sie, indem er die Mechanismen beschrieb, mit oder in denen sich Individuen mit ihren Umwelten auseinandersetzen. Dabei wollte Darwin die Mechanismen ausdrücklich nicht als Naturgesetze verstanden wissen, auch weil für ihn das Leben aus einem zufälligen, gesetzlosen Ereignis hervorgegangen war und zudem noch ohne jedes Ziel agierte. Die spekulativen Realisten nehmen die aktuelle Physik, die im Übrigen zu Teilen auch gerade dabei ist, den Begriff des Naturgesetzes zu verabschieden, genauso ernst wie Darwins Lehre und gelangen dadurch zu einer Betrachtung des Eigenlebens der Objekte, die den ewigen Bezug alles Seienden auf den Menschen aufbricht.

Warum diese Sicht vor allem für die Kunst interessant ist, kann man an Graham Harmans Text “Der dritte Tisch” sehen, erschienen zur letzten Documenta in der Reihe “100 Notizen – 100 Gedanken”. Der “dritte Tisch” ist dabei der reale, individuelle Tisch, der vor einem steht. Also weder der Tisch, der in der Idee des Tisches mit allen anderen Tischen aufgeht, noch der Tisch, der sich mit allen anderen Tischen in seine kleinsten gemeinsamen Teilchen, die Atome, auflösen lässt. Die Individualisierung auch von Objekten wie Tischen und Maschinen gehört zu den Konsequenzen des spekulativen Realismus, und sie macht einen Teil seines Reizes aus. Auch wenn das Wort so abgedroschen ist, kann man es so sagen: Das Denken der spekulativen Rationalisten ist so weltgewinnend, weil sie Denken als Abenteuer begreifen und nicht als Hausaufgabe.

“Realismus Jetzt. Spekulative Philosophie und Metaphysik für das 21. Jahrhundert”. Herausgegeben von Armen Avanessian und anderen. Merve, 248 Seiten, 22 Euro

Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 03.02.2013, Nr. 5, S. 47