MESOP CULTURE “KOMMENTAR ZUM TAGE” : VON PASCAL BRUCKNER – Islamophobie – Imaginärer Rassismus

von Pascal Bruckner 21.4.2017, – Der Vorwurf der Islamophobie macht Kritik am Islam unmöglich. Das ist gefährlich, gerade für Muslime. NEUE ZÜRCHER ZEITUNG

Islamophobie – ein Begriff hat Konjunktur. Und man könnte meinen, es sei ein neuer Begriff. Doch das ist er nicht. Bereits die Verwalter des französischen Kolonialreichs um 1900 kannten ihn. Dann geriet er in Vergessenheit, um erst Ende der 1980er Jahre durch britische Muslime förmlich wiedererfunden zu werden. Damals, als der iranische Revolutionsführer Ayatollah Khomeiny eine Fatwa gegen Salman Rushdie erliess, den Autor des Romans «Die satanischen Verse». Die Fundamentalisten wollten all jene einschüchtern, die sich mit dem indisch-britischen Schriftsteller solidarisierten, indem sie unterstellten, jede Infragestellung des Islams sei ein Verbrechen, das die härteste Strafe verdiente. Werkzeug der Unterdrückung :

Doch im Begriff «Islamophobie» verbinden sich zwei ganz verschiedene Bedeutungen: die Verfolgung der Gläubigen, die überall ein Vergehen ist, und das Hinterfragen von Glaubensinhalten, das in jedem zivilisierten Land ein Recht ist. Unter dem Vorwand, die Muslime zu verteidigen, geht es also darum, jene Westler zum Schweigen zu bringen, deren Schuld darin besteht, Geschlechtergleichheit und Glaubensfreiheit zu postulieren. Vor allem aber zielt der Vorwurf der «Islamophobie» darauf ab, die arabischen oder muslimischen Intellektuellen mundtot zu machen, die bestrebt sind, ihren Glauben mit der Moderne zu versöhnen und ihn durch das Feinsieb der Vernunft laufen zu lassen. Sie sind die eigentlichen Feinde, die es durch die Beschuldigung zu diskreditieren gilt, mit den ehemaligen Kolonialmächten zu «kollaborieren».

Zudem wird mit einem revisionistischen Taschenspielertrick versucht, aus jedem Muslim wesensmässig ein Opfer zu machen, dessen Los jenem der Juden in den 1930er und 1940er Jahren entspricht. Der Begriff «Islamophobie» ist also eine massive Einschüchterungswaffe, um die offene Debatte zu verbieten und das Infragestellen geltender Dogmen zu verhindern. Er fungiert in erster Linie als Werkzeug der internen Unterdrückung jener liberalen Muslime, die es wagen, ihren eigenen Glauben zu kritisieren, und die eine Reform der maghrebinischen Familienkodizes fordern, die Geschlechtergleichheit, das Recht auf Abfall vom Glauben oder auf den Wechsel des Glaubens, die Freiheit, während des Ramadans nicht zu fasten oder Rituale nicht auszuführen.

Das Recht auf Indifferenz

Sich der Sprache bemächtigen heisst Gewalt über die Geister gewinnen, das Denken in eine bestimmte Richtung lenken. «Die Dinge schlecht benennen heisst das Unglück in der Welt vermehren», schrieb Albert Camus. Wir sind so Zeugen der weltweiten Fabrikation eines neuen Meinungsdelikts, wie die Sowjetunion einst eines für Volksfeinde geschaffen hatte. Es geht darum, die jungen Frauen zu stigmatisieren, die den Schleier ablegen und ohne Scham barhäuptig auf die Strasse gehen wollen, die ihren Gatten frei wählen und nicht aus der Hand von Verwandten empfangen möchten. Es geht darum, die Franzosen, Deutschen und Briten türkischer, pakistanischer, maghrebinischer und schwarzafrikanischer Herkunft zu geisseln, die das Recht auf religiöse Indifferenz einfordern und ihr Leben ohne die Unterwerfung unter die Gemeinschaft führen wollen, der sie entstammen.

Seit mehr als zehn Jahren drängt die Organisation für Islamische Zusammenarbeit die Uno dazu, der Meinungsfreiheit einen Riegel zu schieben, wo immer es um den Islam geht – die Forderung geht also von einer Organisation aus, die von Dutzenden muslimischer Staaten finanziert wird, welche selbst schamlos Juden, Christen, Buddhisten und Hindus verfolgen. Der Islam, so ihre Klage, werde zu einseitig und zu negativ als Herd der Frauenunterdrückung und des aggressiven Proselytismus dargestellt. Bleibt ein Mysterium: das der Transsubstantiation von Religion in Rasse.

Politik und Religion in der westlichen Demokratie

Seit einem Jahrhundert scheint die «Rassifizierung» der Welt die überraschendste Konsequenz des Kampfes gegen den Rassismus zu sein. Nach dem Scheitern des Sozialismus als globales Projekt scheint der Rassenkampf den Klassenkampf verdrängt zu haben. Die Verwandlung des Islams in eine Ethnie ist ein heikles Unterfangen. Eine Weltreligion umfasst ja zu viele verschiedene Völker, als dass man sie mit einem bestimmten «Stamm» gleichsetzen könnte.

Die verfolgten Christen

Den Islam kritisieren heisst nach dieser Logik alle Muslime verletzen, sie in ihren intimsten Überzeugungen treffen. Doch Gefolgschaft verweigern, Dogmen verwerfen, die man als absurd oder falsch ansieht – das ist die Grundlage des Geisteslebens. Müsste man sonst auch von antikapitalistischem, antiliberalem, antimarxistischem Rassismus sprechen? Rassismus zielt auf den Araber, den Juden, den Schwarzen, den Asiaten, den Weissen ab, deren Schuld nur darin besteht, zu sein, was sie sind. Aber Ansichten über Religionen können divergieren. Da geht es um Glaubensartikel, um Details der Doktrin, die jederzeit interpretiert und diskutiert werden dürfen. In einem demokratischen Regime ist es rechtens, alle Konfessionen zu verwerfen, sie als lügenhaft oder verdummend zu kritisieren.

Dagegen findet der von Uno-Mitarbeitern vorgeschlagene Begriff «Christianophobie» nicht den geringsten Anklang, obwohl christliche Minderheiten in vielen muslimischen Ländern diskriminiert, verfolgt, getötet und vertrieben werden – bis 2050 könnten sie ganz verschwinden. Wir haben Mühe, uns das Christentum anders vorzustellen denn als Religion der Eroberung und der Intoleranz, wo es doch – was die römisch-katholische Kirche betrifft – mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil ein kollektives Schuldbekenntnis abgelegt hat. Und obwohl es heute vom Nahen Osten bis Pakistan die Religion der Märtyrer ist.

Die Rede von der «Islamophobie» und vom «Respekt»

Als am 26. Juli 2016 in Saint-Etienne-du-Rouvray zwei Islamisten einem Priester in der Kirche die Kehle durchschnitten, sprach niemand von einem rassistischen Akt. Die Rede war von religiöser Intoleranz, Hass. Man kann, in Frankreich wie in ganz Europa, Moses, Jesus, den Papst, den Dalai Lama lächerlich machen, sie noch in den groteskesten Posturen darstellen. Aber man darf nie über den Islam lachen, sonst läuft man Gefahr, den Zorn der Tribunale auf sich zu ziehen – oder exekutiert zu werden, so wie die zwölf Mitarbeiter von «Charlie Hebdo», die am 7. Januar 2015 aus nächster Nähe erschossen wurden.

Die Mörder haben gesiegt

Die Mörder haben gesiegt. Keine Zeitung weltweit getraut sich heute noch, den Propheten abzubilden, aus Furcht, zum Ziel von Todesdrohungen zu werden. Der Islam, er allein unter allen Weltreligionen, soll also der Satire entgehen! Ist er denn eine höhere Religion, die Religion von Übermenschen, die es sich erlauben können, den Glauben der anderen mit Füssen zu treten?

Da kommt nun das Seltsamste an der ganzen Geschichte: die Beteiligung einer Fraktion der europäischen und amerikanischen Linken an der Verteidigung des rückständigsten Islams. Man könnte von einer neobolschewistischen Bigotterie sprechen, der verirrte Anhänger des Marxismus frönen. Die Linke, die alles verloren hat – die Arbeiterklasse, die UdSSR, die Dritte Welt –, sie klammert sich an die Illusion, der Islam sei «die Religion der Unterdrückten», wie es der Demograf Emmanuel Todd nach dem Anschlag auf «Charlie Hebdo» sagte – obwohl einige arabisch-muslimische Staaten dank der Erdöl- und Erdgas-Rente zu den reichsten der Welt zählen.

Die Verdammten dieser Erde

Für diese desillusionierten Aktivisten wird die Religion des Propheten zur letzten Utopie – Ersatz für Kommunismus und Entkolonisierung. In der Kategorie der guten Subjekte der Geschichte übernimmt der Muslim die Rolle, die einst Proletarier, Guerilleros und Verdammte der Erde spielten. Er verkörpert die Hoffnung auf soziale Gerechtigkeit hienieden und bildet die Speerspitze eines neuen Aufstands. So wird ein Strich gezogen unter Feminismus, Laizismus, erhellende Skepsis und Kritik, kurz: unter alles, was man mit einer progressistischen Einstellung verbindet.

Diese politische Haltung drückt sich durch eine durch nichts zu erschütternde Verehrung von muslimischen Praktiken aus, namentlich dem Verschleierungsgebot, das im wahrsten Sinne des Wortes vergöttlicht, in den Himmel gehoben wird – so weit, dass für manche Kommentatoren eine unverschleierte Muslimin nur eine Verräterin sein kann, die ihre eigene Kultur mit Füssen tritt. Was für eine Ironie, einzelne Randgruppen der westlichen Linken mit Zähnen und Klauen die Burka verteidigen zu sehen, die doch selbst in Marokko unlängst aus Sicherheitsgründen verboten wurde!

Das Beste, was man dem Islam wünschen kann, ist weder «Phobie» noch «Philie», sondern eine wohlwollende Indifferenz in einem Markt der Spiritualität, der allen Religionen und Glaubensrichtungen offensteht. Aber genau das wollen die Integristen, Muslimbrüder, Wahhabiten und Salafisten nicht. Dann nämlich würde der Islam zu einer Religion unter anderen – und das wäre in ihren Augen unerträglich, denn der Glaube des Propheten ist für sie doch allen anderen Religionen überlegen und macht diese auf immer und ewig ungültig. Und genau da liegt das Problem!

Der Romancier und Essayist Pascal Bruckner lebt in Paris. Im Februar ist im Verlag Grasset sein Buch «Un racisme imaginaire. La querelle de l’islamophobie» erschienen. Aus dem Französischen übersetzt von zit.  www.mesop.de